Am 7. Oktober 2023 überfiel die Terrororganisation Hamas mit anderen islamistischen Extremisten israelische Dörfer und Städte, tötete 1139 Menschen und verschleppte 251 Israelis nach Gaza, in einen dicht besiedelten palästinensischen Küstenstreifen zwischen Israel und Ägypten.
Damit eskalierte der seit Generationen währende Nahostkonflikt.
Israel reagierte mit voller Härte. Zum Entstehungszeitpunkt dieses Textes, etwa 19 Monate später, dürfte der Krieg gegen die Hamas etwa 53.000 Menschen das Leben gekostet haben. Die Zwischenbilanz der Zerstörungen ist katastrophal: 17.500 getötete Kinder, 110.000 Verletzte, 280.000 zerbombte Gebäude, 70 Prozent der Landwirtschaftsflächen zerstört (lt. „Falter“ 21/25), Tausende Vermisste, Hunger, Wassernot, Hoffnungslosigkeit.
Zugleich erschöpfen sich viele Reaktionen und Diskussionen in einem Schwarz-weiß-Muster: Wer Israels Reaktion nicht bedingungslos gut heißt, läuft Gefahr, als Antisemit gebrandmarkt zu werden. Die Frage der Verhältnismäßigkeit wird kaum ernsthaft erörtert.
Ich denke in diesem Zusammenhang an ein Interview, das ich vor einiger Zeit mit der Ethnologin und Theologin Hortense Reintjens-Anwari geführt habe. Es ging darin unter anderem um das „Alte Testament“, dessen Inhalte ja nicht nur für die christliche Welt, sondern auch für die jüdische von Bedeutung sind.
Zu den „Wegweisungen Gottes“, die den jüdischen Glauben prägen, gehört der bekannte Satz „Auge und Auge, Zahn um Zahn“ („Exodus“ 21, 23–25). Darunter wird heute vor allem das Prinzip der Vergeltung verstanden – und oft auch als Rechtfertigung für kriegerische Handlungen betrachtet.
In Kombination mit einem anderen Wort aus dem „Alten Testament“, nämlich: „Wer Wind sät, wird Sturm ernten“ („Hosea“ 8, 7), lässt sich die typische Kriegslogik bequem religiös untermauern und als „gottgewollt“ darstellen: Wer etwas Böses getan hat, verdient es, mit noch größerem Übel bestraft zu werden.
„Kriegslogik“ bedeutet im Wesentlichen, dass der einzelne Mensch mit seinen Bedürfnissen keine Rolle mehr spielt. Alle Qualitäten des Lebens werden ausgeblendet, es geht nur noch um Gebiete und Gewinne, um Größe und Stärke, um Macht und Quantität.
Mahatma Gandhi (1869–1948) hat perfekt auf den Punkt gebracht, dass die Vergeltungs-Logik, zu Ende gedacht, unmöglich als Prinzip für alle gelten kann: „Auge um Auge – und die ganze Welt wird erblinden“.
Aber darum ging es in meinem Gespräch mit Hortense Reintjens-Anwari gar nicht. Vielmehr wies die Theologin auf den heute kaum beachteten Sinn hin, dass das Prinzip „Auge um Auge“ eigentlich nicht Vergeltung, sondern Verhältnismäßigkeit – und in diesem Sinn Gerechtigkeit – einfordert. Es ging darum, „dass man nicht mehr nimmt und nicht mehr zerstört, als was zerstört worden ist.“
Dieser Sinn ermöglicht es übrigens auch erst, Jesu Lehre der Nächstenliebe mit dem alten Bibelwort in Einklang zu bringen.
Klar: Wer in Kriegslogik verhaftet ist, wird sich um die ursprüngliche Bedeutung religiöser Wegweisungen nicht scheren. Verweise auf alte Schriften sind nur Mittel zum Zweck, Blasphemie ist kein Thema. Es gibt nur schwarz und weiß, Feind oder Freund.
Und doch kann eine Lösung nur in der Überwindung der „Blindheits-Logik“ liegen.
Mit Blick auf Gaza erscheint es mir wichtiger denn je, Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit zu thematisieren. Freilich nicht in einem stur quantitativen Sinn – man kann ein Menschenleben nicht gegen ein anderes aufwiegen, weil es dabei nicht um Kilogramm geht –, sondern im Bemühen um eine möglichst umfassende Gerechtigkeit. Und die orientiert sich daran, was den Menschen gerecht wird.