17. Februar 2025

Bleierner Mantel des Schweigens

Stephen Frears Filmdrama „Philomena“

Philomena Lee (Judi Dench), eine pensionierte irische Krankenschwester, hält gedankenversunken ein altes Foto in Händen, das sie an die größte Tragödie ihres Lebens erinnert: Vor genau 50 Jahren hatte sie, noch minderjährig, ihren Sohn Anthony geboren. Nach einer heftigen Romanze, an die sie sich immer noch gern, beglückt und ohne Schuldgefühle erinnert, war sie schwanger geworden.  

Und wie im streng katholischen Irland damals üblich, war Philomena als unverheiratete, noch nicht volljährige Frau zur Niederkunft in ein von Nonnen geführtes Heim für gefallene Mädchen gesteckt worden. Als Gegenleistung für ihren Aufenthalt hatte sie im „Magdalenenheim“ arbeiten müssen, angeleitet von „gottgefälligen“ Ordensschwestern, die die jungen Mädchen für ihre sündhafte Lust büßen ließen. 

Und wie alle Mädchen, die in dem Heim lebten und ihre Kinder immer nur während kurzer Arbeitspausen sehen durften, war Philomena dazu gedrängt worden, Anthony zur Adoption freizugeben. 

Der Augenblick, in dem ihr Sohn weggebracht worden war, hatte sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Später hatte sie erfolglos nach ihm gesucht – ohne ihren Angehörigen oder Freunden jemals etwas davon zu erzählen.

Es gibt nur dieses alte Foto, das ihr damals eine Schwester heimlich zugesteckt hatte.

Nun also musste Anthony, sofern er noch lebte, 50 Jahre alt sein, und Philomena entschließt sich, ihr Schweigen zu brechen und ihre Tochter Jane (Anna Maxwell Martin) über die damaligen Ereignisse ins Vertrauen zu ziehen.

Das hat weit reichende Folgen. Denn Jane, tief berührt vom Schicksal ihrer Mutter, begegnet bald danach dem ehemaligen BBC-Reporter und US-Korrespondenten Martin Sixsmith (Steve Coogan), der sich beruflich gerade neu orientieren will, und stellt ihm Philomena vor. 

Der Journalist zeigt sich interessiert an der Geschichte und beginnt, finanziert von einem Boulevardmagazin, mit seinen Recherchen.

Bald wird klar, Anthony war eines von vielen Kleinkindern, die in die USA vermittelt worden waren. Solche Adoptionen boten den Ordensschwestern eine lukrative Einnahmequelle.

Gemeinsam mit Philomena reist Martin Sixsmith in die Vereinigten Staaten und findet schließlich heraus, dass Michael A. Hess, wie Anthony nach seiner Adoption hieß, Karriere als Berater der Präsidenten Reagan und Bush sen. gemacht hatte – aber auch, dass er inzwischen verstorben ist. Er war homosexuell und an AIDS erkrankt und hatte im Umfeld der republikanischen Partei weder Verständnis noch Unterstützung erwarten dürfen.

Philomena muss sich nicht nur damit abfinden, dass sie ihren Sohn verloren hat, sondern auch, dass sie über dessen Schicksal von den Ordensschwestern bis zuletzt belogen worden war. Kurz vor seinem Tod hatte sich Anthony nämlich nach Irland begeben, um über das „Magdalenenheim“, wo er geboren worden war, seine Mutter zu finden. Er hatte sich dort sogar – gegen den Willen seines Adoptivvaters – beerdigen lassen. Aber über all das hatten die „Gottesdienerinnen“ einen bleiernen Mantel des Schweigens gelegt, und auch dem sterbenskranken Anthony hatten sie nichts über die ihnen ja gut bekannte Identität seiner Mutter verraten …

Das Filmdrama „Philomena“ des britischen Regisseurs und Filmproduzenten Stephen Frears basiert auf Martin Sixsmiths Buch „The Lost Child of Philomena Lee“, also auf wahren Begebenheiten. Die „Zwangsadoptionen“ in Irland zählen zu den großen Skandalen im Umfeld der katholischen Kirche. Schätzungen zufolge wurden dort im 20. Jahrhundert bis zu 100.000 Kinder zwangsweise zur Adoption freigegeben, weil die Schwangerschaft unverheirateter Mütter als Schande galt. Die Lebensbedingungen in den „Heimen für gefallene Mädchen“ waren oft schlecht, behinderte Kinder wurden vernachlässigt, viele Säuglinge starben. In der irischen Stadt Tuam wurde ein geheimes Massengrab mit nahezu 800 Kleinkindern entdeckt.

In der Aufarbeitung dieser Ereignisse, für die sich die irische Regierung erst 2021 entschuldigt hat, gibt es noch viel zu tun. Stephen Frears sehenswertes und vielfach ausgezeichnetes Filmdrama, das trotz des düsteren Themas immer wieder auch überraschende, humorvolle Momente bietet, leistet dazu einen wichtigen Beitrag. 

Judi Dench und Steve Coogan (der auch am Drehbuch mitschrieb) porträtieren darin zwei vielschichtige und gegensätzliche Charaktere, die auch für die unterschiedlichen Möglichkeiten stehen, auf die Auswüchse von Glaubensfanatismus zu reagieren. Einig sind sie sich schließlich darin, dass es notwendig und richtig ist, öffentlich zu machen, was wirklich geschehen ist, den bleiernen Mantel des Schweigens zu durchbrechen. Denn in ihm birgt sich nie und nimmer wahre Religiosität. 

(2013, 98 Minuten)