22. Januar 2025

Eine Weihnachtsfeier – oder: Der Mount Everest der Erkenntnis

Kürzlich, während einer betrieblichen Weihnachtsfeier, machten sich ein paar Jungs den Spaß, uns Erwachsene mit Scherzfragen aufs Glatteis zu führen. Zum Beispiel: „Was war der höchste Berg, bevor der Mount Everest entdeckt wurde?“

Die Antworten aus der Runde umfassten K2, Annapurna und Ahnungslosigkeit. 

Die Auflösung sorgte dann für entspanntes Lachen: „Na, der Mount Everest! Das war ja auch schon der höchste Berg, bevor er entdeckt worden ist“.

Ich erhob leise Einspruch, denn ich wusste mich an diesem feierlichen Abend im Kreis von Persönlichkeiten, die der materialistischen Weltanschauung ähnlich skeptisch gegenüberstehen wie ich.

Und eben diese Antwort, der Mount Everest sei bereits vor seiner Entdeckung der höchste Berg gewesen, spielt aus meiner Sicht mit einer Grundannahme des materialistischen Weltverständnisses, nämlich damit, dass es eine quantitativ definierte Wirklichkeit – in diesem Fall eben die Höhe eines Berges – unabhängig von der bewussten menschlichen Wahrnehmung gibt.

Diese Kernaussage des Materialismus wird heute kaum hinterfragt: Es gebe die objektiv durch Zahlen und Formeln beschreibbare Welt, die sich stetig weiterentwickle und im Lauf der Evolution auch das menschliche Bewusstsein hervorgebracht habe. Dieses sei dann irgendwann in der Lage, die „objektive Wirklichkeit“ zu erkennen.

Der Berg wäre demnach unabhängig von der menschlichen Wahrnehmung als objektive Größe vorhanden.

Ist das wirklich so?

Idealistische Philosophen wie etwa Bernardo Kastrup gehen davon aus, dass nicht die Materie, sondern das Bewusstsein das Primäre, Ursprüngliche ist. Und aus dieser Sicht ist die eigentliche Wirklichkeit nicht quantitativ beschreibbar („Welches Gewicht in Kilogramm haben Ihre Empfindungen?“), sie ist jedoch für uns qualitativ erlebbar.

Die Empfindungen, Gedanken, Hoffnungen, Träume, was immer die seelisch-geistige Innenwelt des Menschen prägt – nichts davon lässt sich in Zahlen und Formeln, also quantitativ ausdrücken. 

Und erst das Bewusstsein, diese innerste und ursprünglichste Qualität des Erlebens, ermöglicht es dem Menschen, mit Hilfe seines Verstandes Zahlen und Formeln zu erfinden damit und auch wissenschaftliche oder technische Entwicklungen voranzutreiben.

Die Beschreibung einer objektiven Welt ist demnach eine Bewusstseinsleistung. Ohne Bewusstsein gäbe es keine Zahlen und Fakten, keine Messung und keinen Vergleich, auch keinen „höchsten Berg“. 

Und wenn der Mount Everest als höchster Berg bezeichnet wird, dann verweist das nicht auf die objektive Wirklichkeit, sondern die Aussage beschreibt nur ein Abbild der Wirklichkeit, das durch Messung und Interpretation entsteht. 

Kastrup verwendet dafür das Gleichnis eines Flugzeugcockpits: Die Messinstrumente darin zeigen alle Daten und Fakten, aber diese quantitative Beschreibung der Welt ist nicht eigentliche Wirklichkeit, nicht die Welt, wie sie außerhalb des Cockpits tatsächlich ist.

Zu Ende gedacht, hat eine solche idealistische Betrachtungsweise weit reichende Konsequenzen. Denn wenn nicht die materielle Welt das Objektive, „Eigentliche“ ist, sondern Bewusstsein, dann müssten wohl sogar die Begriffe Leben und Tod neu definiert werden.

Aber ich gebe gern zu, dass diese Überlegungen für unser tägliches Miteinander wenig Relevanz haben. Hier zählen die zahllosen Daten und Fakten, die Takte des Uhrzeigers, hier gelten die Formeln der Naturgesetze. 

Aber der sanfte Hinweis auf die Qualitäten des bewussten Seins darf wenigstens als Versuch einer Ehrenrettung für uns, die aufs Glatteis geführten Erwachsenen, dienen. Denn wenn uns auf die Frage „Was war der höchste Berg, bevor der Mount Everest entdeckt wurde?“ zunächst der K2 oder der Annapurna einfällt, dann zeigt sich darin aus idealistischer Sicher eine gewisse Logik: Da der Mount Everest noch nicht erlebt worden ist, muss es sich um einen anderen Berg handeln. 

Oder, liebe Jungs?

 

Titelbild: KI-generiert via Photoshop