24. April 2025

Nickys Kinder

James Hawes Geschichts-Drama „One Life“

Weihnachten 1988. Seiner Familie zuliebe bringt der 79-jährige Nicholas Winton (Anthony Hopkins) ein wenig Ordnung in sein Büro, in dem er seit Jahrzehnten Kisten voller Dokumente und Bilder aufbewahrt – Erinnerungen an die tragischen Ereignisse vor 50 Jahren, die sein Leben bestimmt haben und ihn immer noch schmerzen. Es war ihm damals, während des Zweiten Weltkriegs, nicht gelungen, viele junge Menschen vor dem sicheren Tod zu retten …

Im Jahr 1938 war Nicholas, damals ein 29-jähriger Börsenmakler (Johnny Flynn), von London nach Prag gereist, um dort das Büro des „Britischen Komitees für Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei“ (BCRC) zu besuchen, einer Empfehlung seines Labour-Parteifreundes Martin Blake (Ziggy Heath) folgend. –

Es herrscht Krieg, Unsicherheit, Angst. In Prag haben sich zahlreiche Familien aus Deutschland und Österreich eingefunden, die vor den Nationalsozialisten geflohen sind. Sie leben unter unwürdigen Bedingungen, haben kaum zu essen und müssen befürchten, dass die Nazis demnächst auch in Prag einmarschieren werden.

Unter den Flüchtlingen befinden sich unzählige jüdische Kinder – und angesichts der katastrophalen Lage in Prag ist Nicholas Winton entschlossen, alles zu tun, um möglichst viele von ihnen außer Landes zu bringen. Die jungen Menschen sollen eine Zukunft haben.

Mit tatkräftiger Unterstützung seiner Mutter (Helena Bonham Carter) in London – sie ist selbst eine deutsch-jüdische Migrantin –, gelingt es ihm, ausreichend Geld aufzutreiben, bürokratische Hürden zu überwinden, eine Zeitungskampagne zu starten und in England Gastfamilien zu finden, bei denen die Kinder leben können. Er kümmert sich mit dem BCRC um alle nötigen Dokumente und kann schließlich mehrere Züge organisieren, mit denen insgesamt 669 Kinder in Sicherheit gebracht werden.

Doch dann passiert, was alle befürchtet hatten: Die Nationalsozialisten marschieren ein und schließen sofort die Grenzen. Ein weiterer Zug mit verängstigten Kindern kann Prag nicht mehr verlassen. In der Folge fallen Zigtausende dem Holocaust zum Opfer. –

Angesichts des Leides, das er hautnah miterleben musste, hatte Nicholas Winton sich ein Leben lang Vorwürfe gemacht, zu wenig für die Rettung der Kinder getan zu haben. Nur sein Versagen, seine Ohnmacht war ihm in Erinnerung geblieben; nicht all das Großartige, das ihm gelungen war. 

Doch nun, 50 Jahre nach diesen Ereignissen, will er einen Schlussstrich ziehen. Vieles von dem, was er aufbewahrt hatte, verbrennt er, und gemeinsam mit seinem alten Freund Martin (Jonathan Pryce) überlegt Nicholas, was er mit den wichtigsten Unterlagen, die seine Arbeit für den BCRC dokumentieren, tun soll. Er überlegt, sie einem Holocaust-Museum zur Verfügung zu stellen, lässt diesen Gedanken dann aber doch wieder fallen. 

Schließlich wird das Produktionsteam der populären BBC-Fernsehshow „That’s Life“ auf Wintons Geschichte aufmerksam und lädt ihn als Publikumsgast ins Studio ein – angeblich, weil er bezeugen soll, dass damals durch das britische Engagement tatsächlich 669 Kinder gerettet werden konnten. 

Doch in Wirklichkeit haben die Showmacher anderes geplant – für Nicholas Winton die Überraschung seines Lebens: Er soll nach 50 Jahren wieder jenen Menschen begegnen, die ihm sein Leben verdanken – und sich selbst als „Nickys Kinder“ betrachten …

In seinem Filmdrama „One Life“ erzählt Regisseur James Hawes die wahre Geschichte eines Mannes, der manchmal auch als „britischer Schindler“ bezeichnet wird, weil er – wie der deutsch-mährische Industrielle Oskar Schindler (1908–1974) – Menschen vor dem sicheren Tod in einem Vernichtungslager der Nationalsozialisten rettete.

Der Titel des Filmes („Ein Leben“) bezieht sich einerseits auf das hebräische Sprichwort „Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt“, andererseits auch auf das Leben Nicholas „Nicky“ Wintons (1909–2015), der von Königin Elisabeth II. für seine Verdienste um die Menschlichkeit zum Ritter geschlagen wurde (2002; im Abspann zu sehen). Wintons Tochter Barbara (sie wirkte auch im Film mit) schrieb eine Biographie zum Leben ihres Vaters, die als Vorlage für das Drehbuch (Lucinda Coxon und Nick Drake) diente.

Der ruhig und unspektakulär inszenierte und von einem hervorragenden Schauspieler-Ensemble getragene Film findet seinen dramaturgischen Höhepunkt in dem Augenblick, als Nicholas Winton im Licht des Fernsehstudios erstmals wirklich bewusst wird, welche Auswirkungen sein mutiges Handeln tatsächlich hatte. Ein Moment wie der Lebensrückblick im Licht einer Nahtoderfahrung, in dem sich die Ernte der Saaten eines Lebens zeigt, ein Moment der Liebe, der reinen Empfindung, nicht mehr in Worte zu fassen.

Und die Lebensrückschau offenbart eine einfache Wahrheit, die letztlich über jede politische, gesellschaftliche oder religiöse Autorität dominiert: Es gibt immer nur zwei Wege, für die sich ein Mensch entscheiden kann:

Die breite, einfache, sicher erscheinenden „Mainstream“-Route, die starren Markierungen folgt – ideologischen Konzepten, religiösen Dogmen, bürokratischen Vorgaben – und letztlich nur Eigeninteressen befriedigt.

Und den schmalen, unberechenbaren Pfad, der sich am Wohl der Mitmenschen orientiert, auf dem die Nächstenliebe das selbstverständliche Maß aller Dinge ist.

Nicholas Winton ist diesen Weg gegangen. Und er darf nun, im Moment der Rückschau, jene Liebe erfahren, die ihn alle Grübeleien über die eigene Unzulänglichkeit überwinden lässt. Und die das Potential hat, über die Endlichkeit eines Erdenlebens hinaus zu beglücken.

Sehenswert!

(2023, 113 Minuten)