19. April 2024

Rasende Flucht vor sich selbst

Alles wird schneller, die Innovationstaktraten in der Technik nehmen zu, eine Entwicklung jagt die nächste, der Druck auf den Einzelnen steigt – vor allem im Berufsleben. Burnout, Stress, Depressionen, Mobbing: Noch nie zuvor gab es so viele berufsbedingte Krisen. Hartmut Rosa, Soziologe aus Jena, spricht von einer „Beschleunigungsgesellschaft“, in der wir leben. Was steckt hinter dieser Entwicklung?

Arbeitnehmervertreter weisen auf dramatische Entwicklungen hin: Der österreichischen Arbeiterkammer zufolge ist die Zahl der Krankenstandstage aufgrund psychischer Krankheiten in den vergangenen 20 Jahren um über 300 Prozent gestiegen. Burnout-Prävention ist längst zum Top-Thema auch für Versicherungen geworden. Denn von berufsbedingten seelischen Krisen sind nicht mehr nur Manager betroffen, sondern Arbeitnehmer auf allen Ebenen und in allen Branchen.

Woran liegt das? Der Hinweis auf die Rahmenbedingungen – Leistungs-, Globalisierungs-, Zeit-, Erfolgs-, Konkurrenz- und was immer sonst noch für Druck auf den Schultern der Beschleunigungs-Opfer lastet – greift zu kurz. Denn die Rahmenbedingungen fallen nicht vom Himmel. Wir schaffen sie selbst. Und ein Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht. In seinem Buch „Müdigkeitsgesellschaft – Burnoutgesellschaft“ (Berlin, 2016) kommt der südkoreanische Philosoph Byung-Chul Han zum Schluss, dass die „Leistungsgesellschaft als Aktivgesellschaft“ sich „langsam zu einer Dopinggesellschaft“ entwickelt. Das ist nicht übertrieben: Neuro-Enhancer, also Medikamente, die das Gehirn leistungsfähiger machen, sind unaufhaltsam im Kommen … und werden weiter dazu beitragen, den Menschen zu einer Leistungsmaschine zu degradieren.

Warum tun wir uns das an?

Fest steht, dass wir die Geschwindigkeit lieben. Schnelle Autos, schnelles Internet, die Welt soll für uns möglichst rasch und unkompliziert verfügbar sein. Keine langweiligen Unterbrechungen, bitte. Der Zwang, sich in Geduld zu üben, war gestern!

Leider aber – und das ist das eigentliche Problem der Beschleunigungsgesellschaft – geht mit gesteigerter Geschwindigkeit und zunehmendem Druck auch der Bezug zur Umwelt verloren, zu den Menschen, zu den Dingen, zu den eigentlichen Lebenszielen und -inhalten. Hartmut Rosa spricht von „fehlender Resonanz“. Viele und offenbar immer mehr Menschen arbeiten tatsächlich nur noch als Leistungsmaschinen ohne Sinn und ohne Ziel dahin und haben kaum noch eine Chance, Zufriedenheit aus ihrer Tätigkeit zu generieren, während sie gleichzeitig in Erfüllung des immer weiter nach oben geschraubten Plan-Solls ihr Scherflein dazu beitragen, die Welt noch hysterischer zu machen.

Ja, warum tun wir uns das an?

Ich denke, letztlich handelt es sich einfach um eine rasende Flucht des Menschen vor sich selbst. Nur keine Pause, nur nicht innehalten, nur kein Loch, durch das sich das empfindungshungrige eigene Ich ins Alltags-Bewusstsein zwängen könnte. Es erscheint einfacher und gefahrloser, sich der berechenbaren Leistungsmaschinerie zu ergeben.

Erfreulich ist, dass sich gegen diese Entwicklung hin zum Lebensfernen, Verstandeskalten, gegen diese Selbsterniedrigung des Menschen zur maschinenhaften künstlichen Intelligenz, auch Widerstand regt. Dass aus der größer werdenden Not dort und da ein neues Bewusstsein für den Wert von Stille und Schönheit, Wachsamkeit und Geistesgegenwart wächst, das der Flucht vor sich selbst Einhalt gebietet.

André Heller hat im April 2016 in Marokko den Garten „Anima“ eröffnet, als „magischen Ort der Sinnlichkeit, des Staunens, der Kontemplation, der Freude, der Heilung und der Inspiration für Menschen jeden Alters“. Seine Motivation für derartige Projekte ist, wie er sagt, innerhalb der heutigen Wirklichkeit, die „Millionen Menschen abstößt, erschreckt und degoutiert“, eine andere Wirklichkeit zu schaffen, eine „Umgebung des Friedens, der Qualität, der Genauigkeit, der Behutsamkeit“.

Näher besehen könnte dieser Ansatz weit über ein Kulturprojekt hinaus gehen und – wie die rundum zahlreicher werdenden Abgebote zur Entschleunigung – zu einer gründlichen Lebensstilkorrektur anregen, die es erlaubt, den Bezug zur Welt und zu sich selbst wieder zu finden.

Heller: „Das, worüber wir hier reden, hat natürlich auch mit etwas zu tun, was für die Aufgeklärten, Obergescheiten so anrüchig ist, nämlich mit Spiritualität. Nicht mit Religion – Gott ist bei keinem Verein –, sondern mit Spiritualität. Bei Intellektuellen genießt das sehr häufig einen Lächerlichkeitsstatus. Darauf brauchen sie sich nichts einbilden, weil sie sich mit dem Wichtigsten im Leben einfach nicht beschäftigen. Das Wichtigste ist nicht, ob ich den Nobelpreis kriege, ob ich das Fräulein Herta in Rekordzeit erobern kann, ob ich 240 Sprachen spreche oder acht Millionen Sterne bereist habe. Wichtig ist: Welchen Sinn habe ich begriffen, warum ich auf dieser Welt überhaupt bin.“