22. Januar 2025

Unbelehrbar unterwegs zum geistigen K. o.

Früher nutzten Werbe- und Medien-Strategen fundamentale „Psycho-Tricks“. Heute arbeiten die Algorithmen sozialer Netzwerke damit.

Die aktuelle Diskussion um schädliche Einflüsse durch soziale Netzwerke brachten mir Marketing-Seminare in Erinnerung, die ich zur beruflichen Fortbildung besuchte. 

Wir lernten damals von den „Psychotricks“ der Werbewelt und dass jeder Mensch einem „unbelehrbaren Verhalten“ unterliegt, also biologisch bedingten Prägungen, gegen die er willentlich nichts tun kann. Dieses Verhalten resultiert aus Überlebensstrategien, die dem Gehirn „eingebrannt“ sind.

So wird beispielsweise die körperliche Nähe anderer Menschen als potentielle Gefahr wahrgenommen, ebenso wie die Farbe Rot (Blut!). Und was immer für Leib und Leben gefährlich sein könnte, erregt automatisch Aufmerksamkeit.

Ein Foto, das eine Landschaftsaufnahme zeigt, erzeugt weniger – wie es im Werbejargon heißt: – „Impakt“ als ein Bild mit Menschen (wie praktisch, dass es Fotomodels gibt!). Und je näher der Mensch erscheint, desto größer die mögliche Gefahr. Ein bildfüllendes Gesicht wirkt daher stärker als eine Ganzkörperaufnahme, und ein Augenpaar allein erregt noch mehr Aufmerksamkeit als ein Gesicht. Eine solche Nahaufnahme kann in der unmittelbaren Wirkung allenfalls noch durch die Abbildung von Geschlechtsorganen getoppt werden.

Auch in den Farben gibt es eine Hierarchie: Warme Farben wirken deutlich stärker als kalte, und je näher sie dem Rot des Blutes sind, desto mehr Aufmerksamkeit erregen sie.

Diese Gegebenheiten können mit Hilfe eines Tachistoskops gemessen werden. Ein solches Gerät arbeitet mit einer Hochgeschwindigkeitsblende. Dadurch ist es möglich, zwei nebeneinander liegende Bilder in einer so kurzen Zeitspanne zu zeigen, dass nur eines davon wahrgenommen werden kann. 

Wenn also in solchen Experimenten einer Versuchsperson zum Beispiel eine schöne Naturaufnahme und zugleich ein Bild mit tanzenden Menschen gezeigt wird, dann kann sie in diesem Sekundenbruchteil ausnahmslos nur die Tanzenden wahrnehmen.

„Unbelehrbar“ bedeutet, dass es keine Möglichkeit gibt, diese Prägung zu beeinflussen. Egal nach welchen ethisch-moralischen oder religiösen Prinzipien jemand lebt, sein Blick würde am Kiosk zuerst vom markigen Titelbild des Pornomagazins angezogen, und erst dann von der Architekturzeitschrift; zuerst von der bunten Menschenvielfalt am Cover der Illustrierten, und erst in zweiter Linie von der sachlich-nüchtern gestalteten Literaturzeitschrift.

Auch einfache Gestaltungselemente können so eingesetzt werden, dass sie gefährlicher erscheinen und daher mehr Aufmerksamkeit erregen. Ein schräg gestelltes Rechteck wirkt zum Beispiel als „fallender Balken“, ein gezackter Rahmen als „explosiv“. Und wenn der Werbetexter ein solches Element verwendet, um ein Produkt „nur für kurze Zeit“ anzubieten, unterstreicht das die Glaubwürdigkeit.

Werbung und Marketing spielen seit langem – bewusst oder unbewusst – mit dem unbelehrbaren Verhalten des menschlichen Gehirns, um größtmögliche Aufmerksamkeit zu erregen. Und ebenso die Medien, vor allem der Boulevard, und zwar nicht nur auf der optischen, sondern auch auf der sprachlichen Ebene: Was immer Unruhe, Tumult, das Außergewöhnliche und damit eine potentielle Gefahr vermittelt, erzeugt Impakt und fördert den Umsatz. Daher die überragende Bedeutung der „Schlag-zeile“, der „markigen“ Titel oder auch der Zwischentitel und fett ausgezeichneten Teile in einem Text.

Dem Kampf der Werbe- und Medienwelt um einen möglichst großen „Impakt“ stehen zunehmend von Informationen überflutete Konsumenten gegenüber.

Als ich diese Zusammenhänge lernte, gegen Ende des 20. Jahrhunderts, spielte das Internet noch kaum eine Rolle. Trotzdem war schon damals von einer deutlichen „Informationsüberlastung“ die Rede. Man ging beispielsweise davon aus, dass vom Inhalt einer guten Zeitschrift nicht einmal 10 Prozent konsumiert werden, der Rest bleibt unbeachtet. Und vom gesamten Informationsangebot, das den Menschen über Fernsehen, Radio oder Postsendungen erreicht, wird nur ein winziger Bruchteil wahrgenommen. Also galt es Marketing-Strategien zu entwickeln, um trotzdem zu potentiellen Kunden „durchzudringen“. Dazu zählten zum Beispiel personalisierte Werbesendungen mit kurzen Texten und knappen Sätzen, die optisch so gestaltet wurden, dass sie das Auge des Lesers genau zu den Stellen führen, die ihm Vorteile zeigen und Aufmerksamkeit erregen. Denn die Vorteilssuche gehört ebenfalls zu den entwicklungsbiologisch verankerten Überlebensstrategien. (Es lebe die Schnäppchenjagd!)

Selbstverständlich prägen die gleichen Gesetze der Wahrnehmung auch das Online-Verhalten, wobei die Informationsüberlastung sich durch das Netz nochmals vervielfacht hat. 

Umso wichtiger wäre es für jede Gesellschaft, alle Einflüsse, die mit dem unbelehrbaren Verhalten des Gehirns spielen, zu reglementieren – zugunsten von Informationen, die das eigene Mitdenken und Entscheiden fördern. Andernfalls wird der Mensch zum einem passiven Mitläufer und Konsumwesen degradiert.

Leider habe ich mir die Quelle oder die Studie zu der folgenden Aussage nicht notiert, aber in meiner Marketing-Lernzeit war bereits von einer „Generationenkluft in der Bewusstseinsbildung“ die Rede. Untersuchungen hatten einen messbaren Unterschied gezeigt zwischen Menschen, die vor 1949 geboren waren und solchen, die nach 1969 zur Welt kamen. Demnach war die damals jüngere, durch eine größere Informationsüberlastung beeinflusste Generation nur durch vergleichsweise stärkere Reize anzusprechen und blendete schwächere automatisch aus. 

Und die heute jüngere Generation? 

Für sie ist nicht mehr nur der Unterschied zwischen seriösen Medien und Boulevard relevant; es geht auch nicht mehr nur um die Psychotricks der Marketing- und Werbewelt. Denn junge Menschen lassen sich gewöhnlich Tag für Tag stundenlang von den Algorithmen sozialer Netzwerke dirigieren, die gezielt wie nie zuvor mit dem unbelehrbaren Verhalten des Gehirns spielen und dieses bedienen.

Serviert und konsumiert werden vornehmlich aufregende, außergewöhnliche und emotional aufwühlende Bild- und Textinhalte, und zwar auf die persönliche Vorteilssuche maßgeschneidert. Die eigenen Ansichten finden dabei permanent Bestätigung, unbeliebte Blickwinkel werden automatisch ausgeblendet oder in abwertender Form kommentiert.

Es sollte nicht verwundern, dass sich auf dieser Grundlage eine „Empörungsgesellschaft“ entwickelt, in der Gelassenheit oder Zuversicht zu Fremdwörtern verkommen und statt eines verständnisvollen Miteinanders kämpferisches Gehabe dominiert.

Das „Spiel mit dem Unbelehrbaren“ fördert maschinenhaftes Verhalten. Früher ging es „nur“ darum, Menschen zum Kauf von Produkten oder Dienstleistungen zu motivieren; heute sollen sie möglichst eng an soziale Netzwerke gebunden bleiben. Dahinter steckt nicht selten die Absicht, willfährige Mitläufer für politische, religiöse und/oder wirtschaftliche Ziele zu generieren.

Im Grunde passt diese Entwicklung ganz gut zum heute dominierenden materialistischen Weltbild, das dem Menschen letztlich keinen freien Willen zugesteht. Vielleicht ist sie sogar eine unmittelbare Folge davon.

Aber es gibt die Freiheit. Sie liegt jenseits aller biologischen Prägungen. Es ist möglich, sich den Algorithmen sozialer Netzwerke oder dem Sog sensationsheischender Nachrichten zu entziehen, Verführungsabsichten zu durchschauen, kritisch zu bleiben – auch der eigenen „Wohlfühlzone“ gegenüber. 

Niemand muss den verlockenden Weg zum finalen geistigen K. o. mitgehen.

 

Titelbild: KI-generiert via Photoshop