Eine Würdigung des österreichischen Psychotherapeuten Viktor Frankl (1905–1997)
• Beim Stichwort „Psychotherapie“ denken viele in erster Linie an Sigmund Freud (1856–1939) und an seine vielfach beschriebene Annahme, dass der Mensch generell von Trieben gesteuert sei.
Dieses Menschenbild fügt sich recht gut in die reduktionistisch-naturalistische Weltauffassung, die sich im 21. Jahrhundert weitgehend durchgesetzt hat: Das Wesentliche und Ursprüngliche ist demnach die Materie. Auch das Bewusstsein entwickelt sich – als „Nebenprodukt“ neuronaler Tätigkeit – aus materiellen „Bauteilen“. Selbst das, was wir als geistige Äußerungen beschreiben und bewundern, die gesamte kulturelle Leistung der Menschheit, lässt sich auf Triebe zurückführen. Als Gestalter der Welt betätigt sich der Mensch folglich nur in seiner Einbildung. In Wirklichkeit ist er, wie jedes andere Lebewesen auch, doch nur ein passiver „Getriebener“.
Passend zu diesem Bild betrachten heute viele Neurologen und Philosophen den freien Willen als nicht existent, und ihre Diskussionen drehen sich um die Frage, welche Konsequenzen diese „bittere Wahrheit“ für das gesellschaftliche Zusammenleben haben müsste, beispielsweise wenn es um die persönliche Verantwortung und die Rechtssprechung geht.
Körperliche Gehirnfunktionen sollen also jene Dimensionen des Menschseins, die früher als „Seele“ oder „Psyche“ bezeichnet wurden, ebenso umfassen wie das „Geistige“ – sofern mit diesem Begriff nicht nur das Intellektuelle, Verstandesmäßige gemeint ist.
Dass dieses materialistische Welt- und Menschenbild umstritten blieb, ist nur natürlich. Aber vermutlich hat es sich bis dato auch in Fachkreisen noch nicht herumgesprochen, dass einer der bedeutendsten Denker des 20. Jahrhunderts, der Wiener Psychiater Viktor Frankl (1905–1997), nicht nur die Logotherapie, die „dritte Wiener Schule der Psychotherapie“, gegründet, sondern – gewissermaßen als Nebenprodukt seiner Arbeit mit Patienten – auch ein Menschenbild formuliert hat, in dem das Geistige als „die eigentliche Dimension des Menschseins“ erstmals praxisnah beschrieben und ins Zentrum gerückt ist.
Frankl war unermüdlich darin, seine Beobachtungen und Erkenntnisse sprachlich verdichtet auf den Punkt zu bringen. Sein unausschöpfliches Werk wird noch Generationen beschäftigen und – im wahren Wortsinn – begeistern. Frankls schriftlicher Nachlass umfasst 32 Buchtitel, die in bis zu 20 Sprachen übersetzt wurden, sowie eine vermutlich unübersehbare Anzahl an Schriften und Vorträgen, die noch der Aufarbeitung harrt. Frankl erhielt weltweit 29 Ehrendoktorate, hatte zahlreiche Gastprofessuren (unter anderem an der Harvard University) und wurde zu Lebzeiten vom Österreichischen Bundespräsidenten Rudolf Kirchschläger als der „wohl größte lebende Österreicher“ bezeichnet.
Und für diesen Erkenntnis-Giganten, der sein Wissen aus persönlicher Erfahrung schöpfte, war „Geist“ eben nicht etwa nur eine kognitive Fähigkeit oder Intelligenz, sondern Frankl beschrieb damit das spezifisch Humane:
„Das Geistige […] ist etwas, das den Menschen auszeichnet, das nur ihm und erst ihm zukommt.
Ein Flugzeug hört selbstverständlich nicht auf, eines zu sein, auch wenn es sich nur auf dem Boden bewegt: es kann, ja es muss sich immer wieder auf dem Boden bewegen! Aber dass es ein Flugzeug ist, beweist es erst, sobald es sich in die Lüfte erhebt – und analog beginnt der Mensch, sich als Mensch zu verhalten, nur wenn er aus der Ebene psychophysisch-organismischer Faktizität heraus- und sich selbst gegenübertreten kann …“ (aus „Logotherapie und Existenzanalyse“)
Der Begriff „psychophysisch-organismischer Faktizität“ fasst alle körperlichen und psychischen Rahmenbedingungen zusammen, die dem Menschen gegeben sind: die genetische Ausstattung, das persönliche Schicksal, die körperlichen Triebe, die seelische Verfassung. Über all das kann sich der Geistes „erheben“. Er kann aus der körperlich-seelischen Ebene hinaus und ihr gegenübertreten, kann sie verändern. Und die mächtige Zugkraft, die das „Flugzeug Geist“ abheben lässt, ist der Sinn. Deshalb fokussiert Frankls so erfolgreiche „Logotherapie“ (von „logos“ = Sinn) den Sinn im menschlichen Leben. Auch der gemeinhin in der Psychotherapie als grundlegend vermutete „Wille zur Macht“ dominiert den Menschen (und gefährdet die Menschheit) erst dann, wenn der „Wille zum Sinn“ (Frankl) abhanden gekommen ist.
Das ist die vielleicht wichtigste Botschaft für das 21. Jahrhundert.