Jonathan Glazers KZ-Drama „The Zone of Interest“
• Rudolf Höß (Christian Friedel) genießt mit seiner Frau Hedwig (Sandra Hüller) und den gemeinsamen fünf Kindern das Leben. Das zweistöckige Haus der Familie steht inmitten eines großen, idyllischen Gartens. Die Gemüse- und Blumenbeete, Gewächshaus und Pavillon wurden nach eigenen Entwürfen angelegt, der Nachwuchs darf sich in einem gemauerten Planschbecken mit eigener Rutsche vergnügen, und wenn das Wetter passt, macht man sich gemeinsam zum Picknick auf. Die Soła, ein nahe gelegener Fluss, lädt ein zum Entspannen, Baden und Angeln.
Begrenzt wird das Paradies von einer Mauer, einer besonderen Mauer. Hinter ihr liegt die Arbeitsstätte von Rudolf Höß, das KZ Auschwitz, das größte Konzentrationslager der Nationalsozialisten. Deren Ziel, unerwünschte Menschen industrialisiert zu vernichten, wird hier ab 1941 konsequent umgesetzt. Mehr als eine Million Juden, Sinti und Roma aus ganz Europa sterben. Verantwortlich für den Massenmord ist der Lagerkommandant von Auschwitz, Rudolf Höß.
Das Leben im „Paradiesesgarten“ vor der Mauer scheint davon kaum tangiert. Zwar steigt aus dem Krematorium immer wieder dicker Rauch auf, gelegentlich sind auch Flammen zu sehen, aber diese fernen visuellen Störungen lassen sich ebenso ausblenden wie die akustischen. Die Schüsse und Schreie, Hundegebell und das dumpfe Wummern der Vernichtungsmaschinerie gehören zum Grundrauschen. Für die Familie Höß liegt es längst jenseits der Wahrnehmungsschwelle.
Hedwig, die sich von ihrem Mann, Obersturmbannführer der SS, stolz die „Königin von Auschwitz“ nennen lässt, ist mit ihren Alltagsbeschäftigungen voll ausgelastet: Kaffeekränzchen mit anderen Offiziersgattinnen, Anprobieren neuer Kleidungsstücke, Zurechtweisungen für das polnische Hausmädchen, Mama sein usw.
Indes hat Rudolf Höß organisatorische Probleme zu lösen. Beispielsweise erklären ihm Vertreter des Erfurter Unternehmens „Topf & Söhne“ ihren neuen „Ringeinäscherungsofen“, der einen ununterbrochenen Betrieb und damit deutlich höhere Vernichtungskapazitäten ermöglicht.
Doch innerhalb der familiären Wohlfühlzone wird die Hölle jenseits der Mauer konsequent ausgeblendet. Notfalls mit Nachdruck: Als Rudolf Höß eines Tages beim Fischen und Schwimmen mit seinen Kindern im plötzlich trüber werdenden Wasser der Soła einen Unterkieferknochen entdeckt – offenbar war kürzlich Krematoriumsasche in den Fluss gekippt worden –, herrscht sofort allerhöchster Alarm: Die Kinder werden aus dem Wasser und unter die Dusche gejagt, wo man sie wie wild abgeschrubbt …
Als dann Rudolf Höß eines Tages befördert und nach Oranienburg versetzt werden soll, legt sich Hedwig quer: Die „Königin von Auschwitz“ will ihr Reich auf keinen Fall verlassen …
Mit seinem Historiendrama „The Zone of Interest“, für das er akribisch recherchierte, um es möglichst wahrheitsgetreu zu gestalten, gelang dem britischen Regisseur und Drehbuchautor Jonathan Glazer ein vielfach ausgezeichnetes (u.a. Oscar für den „Besten internationalen Film“) filmisches Meisterwerk. Ohne auch nur ein einziges Mal direkt die Gräuel zu zeigen, die sich im KZ Auschwitz abgespielt haben, schuf er ein von der ersten bis zur letzten Filmminute packendes Drama, das Beklemmung, Staunen und Fassungslosigkeit auslöst, aber seine Zuschauer nicht überfordert. Es macht die grauenhafte Wirklichkeit des Begriffes „Vernichtungslager“, der letztlich ohnehin keine filmische Inszenierung gerecht werden könnte, auf einer Ebene des Ahnens und Empfindens greifbar.
Dieses Ergebnis ist nicht nur herausragenden schauspielerischen Leistungen geschuldet, sondern in hohem Maß auch der einzigartigen Herangehensweise des Regisseurs: Jonathan Glazer drehte tatsächlich in unmittelbarer Nähe des KZ Auschwitz und sorgte dort mit einer Vielzahl ferngesteuerter Kameras dafür, dass sich seine Darsteller technisch möglichst ungestört in die Geschichte einfinden und einbringen konnten. Auch das Sounddesign (u.a. Europäischer Filmpreis für den „Besten Ton“) trägt stark zur Intensität des Dramas bei.
Wie es Menschen gelingt, trotz größter Gräuel rundum tatsachlich nur die eigene Interessens- und Wohlfühlzone wahrzunehmen und alles andere konsequent auszublenden?
In dieser zentralen Frage kann „The Zone of Interest“ zweifellos auch als Blick in den Spiegel dienen. Denn letztlich steckt auch heute noch hinter den meisten politischen Querelen und gesellschaftlichen Debatten im Grunde nur die eine Frage: Wer ist bereit, seine finanzielle, religiöse oder weltanschauliche Wohlfühlzone kritisch zu hinterfragen? Ausgerechnet das, was dem eigenen Denken, Wünschen und Wollen den besten Halt zu geben scheint?
Die Erfahrung lehrt, dass die meisten Menschen ihr eigenen kleines Paradies fast um jeden Preis verteidigen. Und dass sie sich ziemlich kritiklos jedem „Führer“ anvertrauen, der ihnen die Absicherung ihres „Reiches“ verspricht. Auch wenn dadurch jenseits der Mauer Leid und Elend herrschen.
(2023, 106 Minuten)