20. April 2024

Es gibt (k)ein Zurück

Florian Gallenbergers packender Sekten-Thriller „Colonia Dignidad“

Ein Thriller par excellence, verortet im Chile des Jahres 1973: In den Straßen der chilenischen Hauptstadt Santiago protestieren Tausende gegen General Augusto Pinochet, der sich, von den USA gefördert, an die Macht geputscht hat. Unter den Demonstranten ist der junge deutsche Fotograf Daniel (Daniel Brühl), der für eine studentische Aktivistengruppe arbeitet. An seiner Seite Lena (Emma Watson), eine Stewardess, die am Vortag in Chile gelandet ist und ihren Freund besuchen will.

Doch an diesem Morgen versinkt Santiago im Chaos. Unzählige Menschen werden auf den Straßen vom Geheimdienst verhaftet, auch Daniel erwischt es. In seiner Empörung über die Eskalation der Gewalt hat er ein paar Fotos zu viel geknipst. Er wird abgeführt und hat noch Glück, nicht, wie viele andere, sofort erschossen zu werden.

Lena macht sich auf die Suche nach ihm – aber schnell wird ihr klar, dass sie dabei keinerlei Unterstützung findet: Die Studenten, für die Daniel fotografiert hatte, tauchen unter, die Deutsche Botschaft hilft ihr nicht weiter, und von Amnesty International erfährt sie, dass der chilenische Geheimdienst mit einer deutschen Sekte kooperiert, die sich im Süden Chiles etabliert habe, auf „Colonia Dignidad“, einem befestigen Siedlungsareal, wo dem Vernehmen nach Gefangene gefoltert und ermordet würden.

Lena entschließt sich, auf sich allein gestellt, dieser Sekte beizutreten, um Daniel zu finden. Als sie am Tor von „Colonia Dignidad“ steht und um Einlass bittet, ahnt sie noch nicht, dass ihr jeder Weg zurück versperrt sein wird. Denn aus diesem Areal ist noch nie jemandem die Flucht geglückt.

Dem oscarprämiierten deutschen Regisseur und Drehbuchautor Florian Gallenberger gelang mit „Colonia Dignidad“ ein herausragender Film, der den Zuschauer bis zur letzten Minute um die beiden Protagonisten zittern lässt und dem man im Sinne der gekonnten Thriller-Dramaturgie auch gern manche Unglaublichkeit im Handlungsverlauf nachsehen würde … sofern man das müsste.

Aber – leider – beruht Gallenbergers Chile-Epos auf Tatsachen. Zwar ist die Geschichte um Daniel und Lena fiktiv und dramatisch zugespitzt, aber die Begebenheiten an sich sind nicht frei erfunden. „Colonia Dignidad“ (spanisch: „Kolonie der Würde“), ein etwa 300 Quadratkilometer umfassendes Areal rund 400 Kilometer südlich von Santiago, wurde 1961 vom ehemaligen evangelischen Jugendpfleger Paul Schäfer (1921–2010; im Film verkörpert von Mikael Nyqvist) gegründet. Schäfer war gemeinsam mit etwa 150 treuen Anhängern nach Chile geflüchtet, nachdem die Staatsanwaltschaft wegen der Vergewaltigung von zwei Jungen gegen ihn zu ermitteln begann.

In Chile schottete sich Schäfers Gruppe von der Außenwelt ab, empfing nur ausgewählte Besucher und wurde bald als musterhafte Selbstversorger-Gemeinde bewundert. Was sich innerhalb der schwer gesicherten „Colonia Dignidad“ wirklich abspielte, wussten nur wenige. Unter dem Mantel des Glaubens, eines „urchristlichen Lebens“, mussten die Kolonisten, Männer und Frauen streng getrennt, schwere Fronarbeit leisten – viele über Jahrzehnte hin. Züchtigungen, Folter und gezielte Gehirnwäsche standen auf der Tagesordnung. Ebenso der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen und der Einsatz von Elektroschocks und Psychopharmaka.

Gleichzeitig pflegte Schäfer spezielle politische Kontakte: Er unterstützte die rechtsextreme Gruppierung „Patria y Libertad“ mit Schusswaffen und Munition aus Deutschland, die Pinochet-Anhänger standen ihm loyal gegenüber, er hatte gute Kontakte zu Polizei und Geheimdienst und konnte – auch unter dem Wohlwollen der deutschen Botschaft in Chile (deren Innenräume von Handwerkern der Colonia Dignidad renoviert worden waren) – praktisch alles leisten. So lebte Schäfer als vermeintlicher „Heilsbringer“ seine sadistischen Gelüste aus, während die Menschen um ihn zerbrachen oder ein Leben in Würde überhaupt nie kennenlernten. Bis 1991 genoss „Colonia Dignidad“, wo vermutlich zwischen 250 bis 350 Menschen ein trauriges Dasein fristeten, in Chile den Status der Gemeinnützigkeit – und damit der Steuerfreiheit.

Schließlich ging es Schäfer doch an den Kragen: 2006 wurde er von einem chilenischen Gericht wegen Kindesmissbrauchs in 25 Fällen zu 20 Jahren Haft und hohen Strafzahlungen verurteilt, nachdem er schon 1996 untergetaucht war, aber lange nicht gefasst werden konnte. Ein Jahr danach, 1997, gelang zwei Jugendlichen – Dietmar Pieper und Helene Zuber – die Flucht nach Deutschland. Ihre Schilderungen gingen durch die Medien und trugen zur Aufklärung über die Ereignisse in Chile bei.

Schäfer starb im April 2010, 88-jährig, an Herzversagen. Seine Beerdigung fand in kleinstem Rahmen statt – unter dem Protest der Bevölkerung.

Seine Kolonie gibt es heute noch. Über 100 Menschen leben dort. 2012 wurde ein Hotel eröffnet, Touristen werden mit Schweinshaxen, Bier und deutscher Volksmusik versorgt. Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ meinte dazu kritisch: „Viele Opfer, aber auch Profiteure des System Schäfers wohnen heute also in einer Gemeinschaft und versuchen, mit der Vermarktung eines deutschen Klischeebildes Geld zu verdienen. Man muss kein Traumaexperte sein, um zu ahnen, dass so etwas nicht gesund sein kann. Vom ,Ausspannen im Folterlager‘ schrieben Zeitungen; Angehörige von in der Kolonie ermordeten Gegnern der Pinochet-Diktatur demonstrierten gegen das Hotel und zürnten, ebenso gut könne man in Auschwitz einen McDonalds eröffnen.“ (24. Februar 2016)

Was sollen Menschen tun, die das Leben nur in einem Glaubensgefängnis kennengelernt haben? Die vielleicht noch nicht bereit dafür sind, sich einzugestehen, dass sie missbraucht wurden oder dass der Glaube, das Selbstverständnis, das Weltbild, dem sie ihr ganzes Denken und Streben verschrieben hatten, ein einziger Irrweg war?

Ein Film über „Colonia Dignidad“ hätte sicher auch ganz anders aussehen können. Er hätte beispielsweise psycholgisch vertieft beleuchten können, wie das, was gemeinhin als „Gehirnwäsche“ bezeichnet wird, wirklich funktioniert. Wie zum Beispiel Hingabebereitschaft und Idealismus – vielleicht sogar unbewusst – missbraucht werden können. Wie religiöse Drohbotschaften religiöse Frohbotschaften langsam untergraben und die Angst zum Diktator aller Gedanken wird. Oder was jemanden zur Überzeugung treibt, selbst ein göttlicher Heilsbringer zu sein.

Ein Film über „Colonia Dignidad“ hätte auch einfach ungeschminkt dokumentieren können.

Florian Gallenberger hat sich für den klassischen Thriller entschieden. Daran ist nichts Falsches. Zum Nachsinnen und Schlussfolgern drängt es den Betrachter sowieso von selbst, sobald die Spannung nachgelassen hat …

(2015, 110 Minuten)