Am Nordkap (2010)
• Menschenleere Natur, stille Schönheit, energetische Intensität, Einsamkeit. Synonyme für den Norden Norwegens …
Synonyme für ein Land, das vom herben Duft der Ursprünglichkeit durchwoben ist, das im Übermaß der Naturgewalten knistert, rauh und schwarz der Winter, endlos hell der Sommer. Die Stege der Zivilisation, die über die vibrierenden Elemente des norwegischen Nordens geschlagen sind, erscheinen schwach und brüchig. Der Mensch hat keine Rolle hier. Nur ganz im Norden, auf der geduldigen Insel Magerí¸ya, wo eine letzte Betonader des gierigen Geistesriesen auslaufen darf, drängen die Horden ihrem selbsterrichteten Zoo entgegen. Jahr für Jahr verlassen vor der Nordkaphalle 200.000 Touristen ihre Autos und Busse und hoffen auf das Glück, just zu Mitternacht die Sonne über das Meer gleiten zu sehen. Ich bin einer von ihnen.
Für ein paar Stunden tauche ich ein in das unfassbare, völlig unerwartete Menschengewühl auf dem Plateau. Von Abendstunde zu Nachtstunde wächst die vielsprachige, gleichgesinnte bunte Masse lawinenartig an, um sich, als der neue Tag beginnt, ohne dass der alte zuvor geendet hätte, zu einem lückenlosen Teppich am Fuße des berühmten Weltkugelmodells zu verweben.
Wir alle sind Voyeure, wir alle haben heute das erträumte Glück. Lang und innig küsst die Sonne das Meer und durchflutet es behutsam mit Licht. Nichts verhüllt das ferne, intime Spiel, kein Nebelschleier, keine regenschwere Luft. Milde gestimmt und ausdauernd schweigen die Gewalten, bis das schamhafte Rot im Eismeer verglüht und es krafterfüllt in den neuen Morgen strömt.
Ja, die Natur, und nur sie, fordert und beglückt im Nordland. Der mächtige, 600 Meter tiefe Alta-Canyon, die Vogelbrutstätten rund um Gjesvaer, die grünen Felsen der Lofoten … oder eben das Nordkap. Natürlich nicht dieses tourismusverbrämte Fernziel, wo man Eintritt bezahlt, um in der Grottenbar einer überlaufenen Halle zu hocken oder im Breitwandkino die Natur als Kunstobjekt zu bestarren, immer im sorgsam geschürten Gefühl, hier, an diesem besonderen geographischen Ort, etwas Endgültiges zu erleben. Nein, der wirklich nördlichste Landpunkt, an dem sich das harte, weite, dunkle, leuchtende Norwegen offenbart, wie es ist, bleibt unerschließbar für Motoren.
Ich erreiche ihn nach mehrstündigem Nachtmarsch zu Fuß – einen beliebigen, unspektakulären Platz am Ende des Eismeeres, der in diesem Moment nur im Geist zu etwas Außergewöhnlichem erblühen könnte. Ein paar junge Wilde belagern die felsigen Bodenerhebungen und begießen ihren Sieg über den horizontalen Landgipfel mit Alkohol und Ungesang, ein solarbetriebenes Elektrogerät quält, unbeirrt von Mensch und Meer, ein melodieartiges Piepsen durch seinen Mini-Lautsprecher … unwirkliche Spuren von aufmüpfiger Zivilisation.
Aber der Weg, der durch die dunkelgelb strahlende Nacht hierherführt, die still vom weiten Ozean herauftastenden Nebelfäden, das gebietende Rauschen des Windes, die Allgegenwart der Schönheit … das war Norwegen, wie ich es lieben gelernt habe. Das ist das Paradies jenseits aller grauen Adern.