Billie Augusts Filmdrama „Eleanor & Colette“
• Die Spätfolgen einer Gehirnhautentzündung, die Eleanor Riese (1943–1991) als Kind erlitten hatte, sind dramatisch: Als 25-jährige erkrankt sie an Schizophrenie und kann ohne Psychopharmaka kein normales Leben mehr führen. Durch die Medikamente kommt es zu schwerwiegenden Nebenwirkungen, und Eleanor ringt ständig um die richtige Balance zwischen den gewünschten und den unerwünschten Wirkungen. Ihre schmerzhaften Erfahrungen machen sie zur Expertin in eigener Sache.
Doch im Jahr 1985 schafft sie es nicht mehr allein. Mit akuten Symptomen lässt sie sich in das „St. Mary’s Hospital & Medical Center“ ihrer Heimatstadt San Francisco einliefern. Dort will man ihr routinemäßig Medikamente verabreichen, von denen sie genau weiß, dass sie ihr nicht gut tun. Als Eleanor sich weigert, sie zu schlucken, folgt eine intravenöse Zwangsbehandlung. Die übliche Konsequenz in den 1980-er Jahren: Die Entscheidungs-Hoheit über die Behandlung hat in solchen Fällen der Arzt. Psychiatrischen Patienten wird Fachwissen nicht zugetraut und ein Mitspracherecht in Sachen Medikation nicht zugestanden. Schließlich zeigen die statistischen Fakten ja, ob ein Mittel gefährlich oder ungefährlich ist.
Eleanor Riese findet sich mit diesen Gegebenheiten nicht ab und setzt den Besuch einer Patientenrechtsanwältin durch. Sie hat Glück: Colette Hughes, eine ehemalige Krankenschwester und jetzt Anwältin, nimmt sich ihres Falles an und erreicht nach langen, zermürbenden Rechtsstreitigkeiten ein richtungweisendes Gerichtsurteil, das für zigtausende Betroffene in ganz Kalifornien maßgeblich wird: Auch zwangseingelieferte Patienten haben das Recht, von der Klinik über die Anwendung von Psychopharmaka informiert zu werden und dürfen über die Einnahme mitbestimmen. Unfreiwillige Behandlungen könnten fortan nur noch mit einer eigenen richterlichen Entscheidung durchgesetzt werden.
Der Fall Eleanor Riese – sie starb 1991 im Alter von 48 Jahren – gilt als Meilenstein in der US-Medizingeschichte. Er hat die Situation unzähliger Patienten maßgeblich und nachhaltig verbessert.
2016 nahm sich der dänische Filmregisseur Billy August, der bereits zehn Jahre davor mit der Nelson-Mandela-Geschichte „Goodbye Bafana“ geschichtsträchtige Ereignisse verfilmt hatte, der kämpferischen Partnerschaft zwischen den beiden Frauen an. Sein teilweise in Deutschland gedrehter und von der deutschen Filmförderung mitfinanzierter Streifen „Eleanor & Colette“ kam 2018 in die Kinos. In den Hauptrollen brillieren Helena Bonham Carter als Eleanor Riese und Hilary Swank als Colette Hughes.
Während der deutsche Filmtitel die ungewöhnliche Freundschaft thematisiert, die sich zwischen den beiden Frauen während des langwierigen Rechtsstreits entwickelt, verweist der Originaltitel – „55 Steps“ – auf das Krankheitsbild der chronisch paranoiden Schizophrenie, das im Fall von Eleanor von der liebenswert dargestellten „Macke“ begleitet wird, zwanghaft Stufen zu zählen.
Es sind auch tatsächlich viele, viele Stufen, zahllose Hürden, die es für die beiden, begleitet vom erfahrenen Anwalt Dr. Bardy (Jonathan Kerrigan) zu bewältigen gibt, ehe das oberste Gericht Kaliforniens endgültig zugunsten der Patientenrechte entscheidet: Enttäuschte Erwartungen, vergebliche Hoffnungen, unerwartete private und rechtliche Probleme …
Und der mühsam erkämpfte Sieg am Ende des Weges, das Recht zur Selbstbestimmung, sollte für eine Gesellschaft, die sich zu grundlegenden Menschenrechten bekennt, eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. War es aber nicht.
„Eleanor & Colette“ gehört trotz des brisanten, wichtigen Inhaltes und aller schauspielerischen Qualitäten nicht zu den großen cineastischen Meisterwerken. Dennoch ist Billy August ein höchst bemerkenswerter, sehenswerter Film gelungen. Dass seine Haupt-Protagonistinnen ähnliche Charaktere schon bei anderer Gelegenheit dargestellt haben und in ihrem Schauspiel aus dem Vollen schöpfen, fördert das Sehvergnügen – was bei diesem wohl eher schwer konsumierbaren Thema nur von Vorteil ist.
Der Film zeigt nicht nur, wie sehr es nötig und sinnvoll sein kann, gegen die übermächtige, scheinbar in Beton gegossene Verhältnisse anzutreten. Er unterstreicht auch, dass das menschliche Urteilsvermögen in allen Belangen der Gesundheit Vorrang gegenüber der Statistik haben sollte. Die Eigenverantwortung bleibt entscheidend – bei jedem Arztbesuch. Denn was immer die Medizin über die Wirkungen und Nebenwirkungen eines Medikaments aussagt, beruht praktisch ausschließlich auf Statistik. Und was nützt es einem Patienten, dass eine schwere, lebensverändernde Nebenwirkung statistisch nur in 0,1 Prozent aller Fälle eintritt … wenn er selbst dieses Prozent hinter dem Komma verkörpert?
(2017, 115 Minuten)