8. September 2024

Bewusstes Erleben – oder doch nur Rechenleistung?

Franklin Ritchs KI-Drama „The Artifice Girl“

Gareth (Franklin Ritch) ist ein genialer Programmierer. Er hat für die Filmindustrie Animationen kreiert und verstorbene Schauspieler virtuell zum Leben erweckt, aber sein eigentliches Lebensprojekt hat er im Stillen allein entwickelt: Eine künstliche Intelligenz, die in Gestalt eines absolut lebensecht wirkenden jungen Mädchens namens „Cherry“ auf dem Bildschirm erscheint. Mit seiner Kreation verfolgt Gareth, der in seiner Kindheit Opfer eines Missbrauchs geworden war, ein klares Ziel: Sie dient in einschlägigen Online-Chatrooms als Lockvogel für Kinderschänder, speichert deren Daten und liefert Informationen an die Behörden, um möglichst viele Pädophile zu entlarven. 

Nun sind zwei FBI-Ermittler, Special Agent Dena Helms (Sinda Nichols) und ihr Partner Amos McCullough (David Girard), auf Cherry aufmerksam geworden. Sie vermuten, dass dieses Mädchen, von dem sie auf einer Festplatte sexuell stimulierende Bilder gefunden haben, Opfer eines Missbrauchs geworden ist. Auf Grund einer Spur im Internet verdächtigen sie Gareth, das unbekannte Kind für eine Pädophilen-Community auszunutzen.

Durch die Androhung von Gewalt in die Enge getrieben, offenbart der Programmierer den beiden Ermittlern schließlich, dass Cherry (Tatum Matthews) nicht wirklich existiert. Es handle sich um eine von ihm entwickelte Computeranimation, die durch technische Kniffe in der Lage sei, anscheinend in Echtzeit zu reagieren. Sein Ziel sei es, durch die Interaktionen in einschlägigen Chatrooms möglichst viele Kinderschänder ausfindig zu machen und deren Daten an die Behörden zu übermitteln. Er habe allerdings nur die Grundlagen für die eine Künstliche Intelligenz programmiert, erklärt Gareth. Cherry entwickle sich nun ohne sein Zutun und sei dabei schon ziemlich weit fortgeschritten.

Bald wird auch klar, dass die KI eigenständig entschieden hatte, das FBI auf Gareth Spur zu bringen – denn anders als ihr Erfinder, der niemandem vertraut und lieber als Einzelkämpfer weiter machen wollte, war Cherry zum Schluss gekommen, dass eine Zusammenarbeit mit ermittelnden Behörden für das Ziel, Pädophile zu überführen, von Vorteil ist. –

Mit diesem Szenario beginnt der US-amerikanische Regisseur und Drehbuchautor Franklin Ritch sein KI-Drama „The Artifice Girl“. Diesem Titel haben die deutschen Übersetzer eine offenbar unvermeidliche Erklärung für das thematisch unbedarfte Publikum beigestellt: „Sie ist nicht real“.

Aber diese simple Tatsache ist nicht wirklich das Thema des Films. Vielmehr zeichnet der Streifen in drei Kapiteln, kammerspielartig auf wenige Räume und starke Dialoge fokussiert, die Entwicklung einer Künstlichen Intelligenz nach – optisch unspektakulär, aber großartig inszeniert und gespielt. 

Zu Beginn wird der Zuschauer an die im Alltag schon allgegenwärtige KI erinnert: Special Agent Dena Helms spricht mit Siri, der iPhone-Assistentin. Ein technisches Werkzeug, klar, mehr nicht.

Aber schon bald, als sie und ihr Kollege mit Cherry kommunizieren, beginnen die Grenzen zwischen menschlich und maschinell zu verschwimmen. Das Mädchen wirkt zwar fast wie ein echter Mensch und beantwortet praktisch jede Frage so „lebensecht“ und eigenständig, dass sie den Turing-Test mühelos bestehen würde. Dennoch lässt es sich technisch noch relativ leicht begründen, weshalb Cherry so reagiert und entscheidet, wie sie es tut.

Aber als sie immer kreativer und innovativer wirkt; als deutlich wird, dass sie auch Strategien dazu verfolgt, wie sie von anderen wahrgenommen wird; als sie eigene Bedürfnisse zum Ausdruck bringt, die nicht unmittelbar mit ihrer programmtechnischen Zielsetzung zu tun haben, lässt sich „von außen“, also auf Grund der optischen und akustischen Eindrücke, die Cherry vermittelt, nicht mehr entscheiden, ob in dieser KI tatsächlich nur Programmcodes am Werk sind oder ob vielleicht irgendwie so etwas wie Bewusstsein entstanden ist.

Franklin Ritch gelingt es sehr gut, diesen schleichenden Übergang filmisch darzustellen – und damit ein Unbehagen auszulösen, das wohl vor allem mit der Tatsache zu tun hat, dass niemand wirklich weiß, was Bewusstsein ist. 

Die menschliche Erlebnisfähigkeit zeichnet sich durch Qualitäten aus – lieben, Sehnsucht empfinden, Hoffnung hegen, und so weiter. Dagegen funktioniert jede KI auf rein quantitativer Basis. Bits und Codes und Rechenleistung können alle möglichen Eindrücke erwecken – aber wird die künstliche Intelligenz deshalb jemals selbst bewusst sein können?

Ist es grundsätzlich möglich, dass aus Quantität Erlebnisqualität entsteht?

Mit dieser zentralen Frage spielt Ritchs Filmdrama – und umschifft sie zugleich … was die aktuellen Diskussionen um künstliche Intelligenz widerspiegelt.

Ein sehenswertes Lehrstück, das zurecht mit Preisen ausgezeichnet wurde!

(2022, 95 Minuten)