19. März 2024

„Bewusstsein kann auch außerhalb des Körpers bestehen“

Pim van Lommel im Gespräch (2014)

Der niederländische Arzt und Sterbeforscher Dr. Pim van Lommel legte als erster eine umfassende, beweiskräftige Langzeitstudie zu Todesnähe-Erfahrungen vor. Diese Studie legt nahe, dass Bewusstsein nicht an den Körper gebunden ist.

Sie sind Kardiologe und haben ein sehr erfolgreiches Buch geschrieben mit dem Titel: „Endloses Bewusstsein – Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung“ (Patmos 2009). Wie sind Sie denn ursprünglich auf das Thema „Nahtoderfahrungen“ gekommen? Warum haben Sie begonnen, sich damit zu beschäftigen?

VAN LOMMEL: Als Kardiologe kommt man mit vielen Menschen in Kontakt, die einen Herzstillstand überlebt haben. Ich hatte zudem ein Buch über Nahtoderfahrungen von George Ritchie gelesen, der als Medizinstudent 1943 eine solche Erfahrung hatte. Nach der Lektüre des Buches fragte ich mich, warum ich selbst noch nie solche Geschichten gehört habe. Also begann ich 1986 damit, Patienten zu befragen. Innerhalb von zwei Jahren haben mir von 50 Patienten zwölf von einem Nahtoderlebnis berichtet. Das hat meine wissenschaftliche Neugier geweckt, denn gemäß der derzeitigen materialistischen Wissenschaft ist es nicht möglich, während eines Herzstillstandes, bei dem alle Gehirnfunktionen ausfallen, Bewusstsein zu erleben.

Sie haben dann die erste prospektive Studie über Nahtoderfahrungen durchgeführt, in der Sie gezielt 344 Patienten befragt haben. Was genau umfasst diese Studie, was wollten Sie wissen?

VAN LOMMEL: Für mich stellte sich die Frage, wie es möglich ist, dass Menschen ein erweitertes Bewusstsein während eines Herzstillstandes erleben können. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es nur retrospektive Studien mit stark selektiver Patientenauswahl. Aufgrund dieser Studien dachte man, dass die Erlebnisse durch Sauerstoffmangel im Gehirn (Anoxie), durch Todesangst, Halluzinationen oder Nebenwirkungen von Medikamenten hervorgerufen werden könnten. Um die tatsächlichen Ursachen und Inhalte von Nahtoderfahrungen herauszufinden, begannen wir 1988 eine prospektive Studie in zehn holländischen Krankenhäusern mit 344 Personen, die einen Herzstillstand überlebt hatten. Wir untersuchten gezielt solche Patienten, weil diese alle klinisch tot waren. Klinischer Tod ist eine Periode der Bewusstlosigkeit, verursacht durch Kreislaufstillstand, also fehlende Blutzirkulation, keinen Blutdruck, keinerlei Atmung. Und dies ist ziemlich nah am Sterbemodell, weil alle Patienten sterben würden, wenn sie nicht innerhalb von fünf bis zehn Minuten wiederbelebt werden.

Was waren die wichtigsten Ergebnisse dieser Studie? Was haben Sie herausgefunden?

VAN LOMMEL: Wir haben bei diesen 344 Patienten herausgefunden, dass 18 Prozent tatsächlich zur Zeit des Herzstillstandes einen Zustand erweiterten Bewusstseins erfuhren, während 82 Prozent gar nichts erlebt haben. Wir sahen auch, dass die zwei Gruppen sich in nichts unterschieden. Die Dauer der Bewusstlosigkeit – zwei Minuten, acht Minuten oder drei Wochen im Koma – und die Dauer des Herzstillstandes spielten dabei keine Rolle. Das Ausmaß des Sauerstoffmangels im Gehirn war auch nicht von Bedeutung. Angst vor dem Tot, Medikamentengebrauch, ein Vorwissen davon, dass diese Erlebnisse möglich sind, oder Religion, Geschlecht und Bildung, das alles hatte keinerlei Einfluß. Die zwei Gruppen waren völlig gleich. Wir konnten daraus also folgern, dass keine physiologische Erklärung wie zum Beispiel Sauerstoffmangel im Gehirn, keine psychologische Erklärung wie Todesangst und keine pharmakologische Erklärung wie Medikamentennebenwirkungen für diese Erlebnisse in Frage kamen.

Wenn man solche Erfahrungen näher betrachtet, was erlebt ein Mensch demnach beim Sterben? Welche Stationen sind das, die immer wieder beschrieben werden?

VAN LOMMEL: Aus den Schilderungen Betroffener gehen einige universelle Elemente von Nahtoderfahrungen hervor: Das erste ist, dass sie den Schmerz des Körpers nicht mehr spüren. Ob es sich um einen Verkehrsunfall handelt, einen Herzstillstand oder Herzinfarkt, die betroffenen Personen fragen sich: Ist das der Tod, bin ich nun tot oder nicht? Dann kann ein Zustand auftreten, wo sie sich außerhalb ihres Körpers befinden, von einer Position außerhalb und oberhalb ihres leblosen Körpers aus die Umgebung wahrnehmen. Sie können dann ihre eigene Wiederbelebung oder ihren Verkehrsunfall von oben aus sehen. Dies ist ein wissenschaftlich höchst bedeutender Aspekt von Nahtoderlebnissen, denn man kann das, was im Zustand einer außerkörperlichen Erfahrung wahrgenommen wird, im nachhinein verifizieren, sogar die Zeitpunkte, zu denen diese Wahrnehmungen stattfanden!

Nach dieser außerkörperlichen Erfahrung können sich die Personen an einem dunklen Ort wiederfinden, der auf manche Menschen beängstigend wirkt. Dort sehen sie ein kleines Licht, von dem sie sich angezogen fühlen – die meisten sprechen dabei von einem Tunnel. Dann können sie in eine jenseitige Dimension eintreten mit schönen Farben, einer malerischen Landschaft und herrlicher Musik, wo ihnen bereits abgeschiedene Verwandte begegnen können, manchmal sogar Verwandte, von denen sie vorher gar nicht wussten, dass sie tot sind. Anschließend kann ihnen ein Licht oder ein Lichtwesen begegnen. Meistens haben sie bei diesem Lichtwesen ein Empfinden bedingungsloser Liebe und ungekannter Weisheit. Man bekommt Antwort auf alle Fragen, bevor man sie gestellt hat. Und dann können sie eine Lebensrückschau haben. Dort erlebt man noch einmal sein ganzes Leben seit der Geburt. Alle Gedanken, Worte und Taten, die man jemals hatte, auch von anderen Personen. Man ist mit dem Bewusstsein anderer Personen, auch aus der Vergangenheit, verbunden. Manchmal können die Leute sogar einen Blick in die Zukunft erleben. Das ist eine Lebensvorschau, in der man zukünftige Ereignisse des eigenen Lebens sehen kann.

Es kann vorkommen, dass sie an eine Grenze kommen und wissen, dass sie endgültig nicht mehr zurückkönnen, wenn sie diese Grenze überschreiten. Von dort werden sie meistens zurückgeschickt: Es ist noch nicht an der Zeit. Dann haben sie das schreckliche Erlebnis, dass ihr Bewusstsein in den kranken Körper mit all den Schmerzen und Einschränkungen der Krankheit zurückkehrt. Das sind die zentralen Elemente einer Nahtoderfahrung, aber nicht alle Menschen erleben sie vollständig. Manche erleben drei oder vier, andere wiederum sieben oder acht dieser Elemente.

Haben Sie sich in Ihrer Studie auch mit längerfristigen Auswirkungen von Nahtoderfahrungen beschäftigt? Ändern sich Menschen, die solche Erfahrungen gemacht haben, nachhaltig?

VAN LOMMEL: Auch das war ein wichtiger Aspekt unserer Untersuchung. Wir haben eine Langzeitstudie durchgeführt mit allen Überlebenden eines Herzstillstands, die eine Nahtoderfahrung machten, und einer passenden Kontrollgruppe von Patienten, die auch einen Herzstillstand überlebt hatten, aber keinerlei Erinnerung daran hatten. Wir wollten herausfinden, ob die klassische Transformation, von der man oft bei Betroffenen hört, nämlich dem Verlust der Angst vor dem Tode, der Erkenntnis, was für das Leben wichtig ist – besonders Akzeptanz und Liebe, Empathie für sich selbst und für andere, auch für die Natur, weil man eine völlige Verbundenheit mit jedem Menschen und dem Planeten erlebt –, ob diese grundlegende Änderung der Lebenseinstellung tatsächlich vorkommt. Sie findet wirklich statt, und was noch hinzukommt, ist eine erweiterte intuitive Empfindsamkeit, das heißt, diese Leute fühlen auch eine Verbindung zu anderen Menschen, was sehr beunruhigend sein kann.

Meist ist die Nahtoderfahrung selbst positiv, aber weil die Betroffenen ihr Erlebnis niemandem mitteilen können, wird es für sie die ersten zehn oder zwanzig Jahre oft zum Trauma. Sie leiden an Depression und Einsamkeit, zugleich auch an Heimweh nach dem Erlebnis selbst. Das Wichtige, was wir dabei herausgefunden haben, ist, dass die klassische Transformation nur bei Menschen mit einem Nahtoderlebnis beobachtet wird. Das ist der objektive Befund des subjektiven Erlebens. Die ganze Studie, der prospektive Teil und die longitudinale Studie, wurde im Dezember 2001 in der medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ veröffentlicht.

Die Frage des Erlebens ist ja zugleich eine Frage des Bewusstseins. Bewusstsein wird heute sehr verbreitet als eine Funktion des Gehirns angesehen, allerdings gibt es auch andere Auffassungen. Wie ist Ihre Sicht der Dinge?

VAN LOMMEL: Als Medizinstudenten haben wir gelernt, dass Bewusstsein ein Produkt von Gehirnfunktionen ist. Das ist eine Hypothese, die nie bewiesen wurde, und wir müssen das wieder diskutieren. Von Menschen mit Herzstillstand und aus entsprechenden Studien wissen wir, dass wir das Bewusstsein bei einem Herzstillstand innerhalb von Sekunden verlieren. Es gibt dann keine Körperreflexe mehr, welche eine Funktion des Kortex sind. Hirnstammreflexe treten nicht mehr auf: kein Würgereflex, kein Lidschlußreflex, die Pupillen sind erweitert – das sind die klinischen Beobachtungen. Die Atmung hat aufgehört, denn das Atmungszentrum liegt nahe am Hirnstamm. Wenn man nun die elektrische Aktivität misst, also ein EEG erstellt, beobachtet man binnen 15 Sekunden eine Null-Linie. Wir wissen, dass es bei allen Herzstillstand-Patienten mehr als 20 Sekunden, meist 60 bis 120 Sekunden dauert, bis sie wiederbelebt werden, oftmals sogar länger. Zugleich ist offensichtlich, dass alle diese Patienten während des Nahtoderlebnisses ein erweitertes Bewusstsein, Wahrnehmung, Emotionen, klare Gedanken und ihr Gedächtnis zur Verfügung haben – in einem Zeitraum, in dem das Gehirn nicht arbeitet.

In meinen Augen ist Bewusstsein im Gehirn nicht zu finden. Das Gehirn hat eine vermittelnde, aber keine erzeugende Funktion, was das Erleben von Bewusstsein anbelangt. Es ist also ein Sender und Empfänger für das Bewusstsein. Die Informationen von Ihrem Körper, von Ihren Sinnen, werden zu Ihrem Bewusstsein gesendet. Und Sie empfangen umgekehrt Informationen von Ihrem Bewusstsein für Ihren Körper über das Gehirn. Bewusstsein ist also nicht im Gehirn lokalisiert, sondern es ist überall, was ich „nicht-lokales Bewusstsein“ nenne, weil es unter diesem Aspekt des erweiterten Bewusstseins keine Zeit und keinen Raum gibt.

Wenn man davon ausgeht, dassBewusstsein auch außerhalb des Körpers bestehen kann – hat das nicht auch Auswirkungen auf die medizinische Ethik, darauf, wie man Menschen in Todesnähe behandelt? Müsste sich hier etwas ändern?

VAN LOMMEL: Ich denke, das ist ein sehr wichtiger Aspekt für die Medizin. Meiner Ansicht nach müssen wir auch das Gesundheitswesen verändern. Denn wir wissen von all diesen Menschen, die ein Nahtoderlebnis hatten, dass tot gar nicht tot ist, dass ich, wie sie uns sagen, ohne meinen Körper leben kann, während umgekehrt mein Körper nicht ohne mich leben kann. Ich bin also auch ohne meinen Körper ein bewusstes Wesen. Das rückt einige alte Fragen in ein neues Licht: Wie behandeln wir Patienten im Tiefkoma und im Endstadium des Lebens? Wie denken wir über Sterbehilfe oder Abtreibungen? Wir versuchen, Patienten mit schweren Leiden am Leben zu erhalten, anstatt die Natur ihre Arbeit machen zu lassen. Es gibt also sehr viele ethische Aspekte dabei, die das Gesundheitswesen betreffen.

Hat sich für Sie persönlich etwas geändert, seit Sie sich mit Nahtoderfahrungen beschäftigen? Es handelt sich dabei ja nach wie vor um ein umstrittenes Thema in der Wissenschaft. Sehen Sie hier eine Entwicklung, ist es heute eher akzeptiert als früher?

VAN LOMMEL: Zuallererst habe ich mich natürlich selbst verändert. Ich denke, man muss nicht selbst eine Nahtoderfahrung gemacht haben, um sich zu ändern, wenn man dafür offen ist. Ich habe Hunderte von Menschen über ihr Nahtoderlebnis sprechen gehört. Ich habe Tausende von E-Mails und Briefe von Menschen auf der ganzen Welt erhalten, die mir von ihrem Erlebnis berichteten. Der Tod ist für mich jetzt etwas anderes, er ist nur eine Veränderung des Bewusstseinszustandes, genauso wie die Geburt.

Es gibt also eine Kontinuität des Bewusstseins, es ist nicht vom Körper abhängig. Mir ist aber durchaus bewusst, dass mein Ansatz zum Verhältnis von Geist und Gehirn keine breite Akzeptanz findet. Die meisten Neurowissenschaftler glauben immer noch, dass das Bewusstsein ein Produkt des Gehirnes ist. Es gibt auch viel Skepsis, meistens anonym auf Webseiten. Sie greifen üblicherweise den Boten an und sind an einer wissenschaftlichen Diskussion gar nicht interessiert. Aber das ändert sich, denke ich.

Ich halte viele Vorträge an Universitäten, Krankenhäusern, Hospizen, vor Medizinstudenten, Philosophiestudenten und habe viele Einladungen aus aller Welt, von der Yale University oder der New York Academy of Sciences. Es ändert sich, da bin ich mir sicher, aber es ist ein langsamer Prozess. Wir wissen aus der Geschichte der Wissenschaft, dass es Zeit braucht, bis neue Ideen akzeptiert werden. Und neue Konzepte werden immer zuerst stark bekämpft, auch das zeigt die Geschichte der Wissenschaft.

Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg beim Kommunizieren dieses wichtigen neuen Weges. Herzlichen Dank für das Gespräch!

„Bewusstsein kann auch außerhalb des Körpers bestehen“ | Pim van Lommel im Gespräch

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