27. April 2024

Doch kein Aprilscherz

Martin McDonaghs Tragikomödie „The Banshees of Inisherin“

• Irland, 1923: Während die Befürworter und die Gegner einer Abspaltung der Insel vom Königreich Großbritannien einander in einem erbitterten Krieg umbringen, führen die Menschen auf der abgelegenen Insel Inisherin („Insel Irland“) ein beschauliches Leben. Pádraic Súilleabháin (Colin Farell) lebt im Haus seiner Schwester Siobhán (Kerry Condon), kümmert sich um die Tiere in der gemeinsamen Landwirtschaft und kennt die charakterlichen Eigenheiten seiner geliebten Zwerg-Eselin Jenny bis ins kleinste Detail. Darüber kann er stundenlang sprechen. Die von der Hauptinsel aufsteigenden Rauchwolken, die von den Unruhen künden, kümmern ihn wenig.

Colm Doherty (Brendan Gleeson) ist Hundebesitzer, Musiker und seit Jahren und Jahrzehnten mit Pádraic befreundet. Die beiden treffen sich regelmäßig im Pub, trinken ihr Bier, plaudern über Belanglosigkeiten, bis Colm abends zur Violine greift, um gemeinsam mit anderen Musikern ein paar volkstümliche Songs zu fiddeln.

Doch an diesem 1. April beschließt Colm, aus der langweiligen Routine auszubrechen. Er kündigt Pádraic ohne besonderen Anlass die Freundschaft. Er wolle ab sofort Ruhe von ihm haben und keine weitere Zeit mehr verschwenden. Statt langweiliger Gespräche wolle er lieber komponieren, der der Welt noch ein paar selbst komponierte Musikstücke hinterlassen, etwas Bleibendes eben.

Pádraic reagiert zunächst ungläubig und mit Selbstzweifeln. Er kann und will diesen Sinneswandel seines Freundes nicht wahrhaben. Dann lässt ihn ein Blick auf den Kalender hoffen, dass Colm sich wohl einen besonders ausgefallenen Aprilscherz erlaubt habe, und wieder sucht er Kontakt zu dem Mann, der für sein Leben so wichtig ist. 

Aber Colm meint es ernst, bitter ernst. Er stellt Pádraic vor die Alternative: Entweder er lasse ihn endlich in Frieden, oder er werde sich beim nächsten Mal einen Finger abschneiden, und einen weiteren Finger nach jedem weiteren Kontaktversuch …

Das Unvermeidliche folgt: Die Schafschere kommt zum Einsatz. In der Tragikomödie des irischen Dramatikers und Regisseurs Martin McDonagh fließt zunehmend Blut. 

Damit könnte ein langsam und behutsam erzählter Film wie dieser, der von wunderbaren Landschaftsaufnahmen, einer optisch und historisch stimmigen Insel-Atmosphäre und von hervorragend geschriebenen, lebensnahen Charakteren lebt, sehr leicht kippen – ins Unglaubwürdige, skurril Überspitzte, oder in psychologische Symbolik. 

Aber erstaunlicherweise gelingt Martin McDonagh trotz unappetitlicher Szenen bis zuletzt nicht nur eine akzeptable Balance zwischen trockener Situationskomik und schwer erträglichem Psycho-Drama. Er führt seine bemerkenswert unvorhersehbare Geschichte am Höhepunkt des Konflikts sogar zu einem – die Zuschauer ebenso wie die Protagonisten – erlösenden Ende.

Gleichnisse prägen dabei ebenso unübersehbar wie unaufdringlich die Szenerie – der persönliche Kleinkrieg vor dem Hintergrund des ebenso sinnlosen großen Bürgerkriegs, und die (fiktive) Insel Inisherin als Schauplatz für die innere Sehnsucht des Künstlers nach einem Inseldasein ohne gesellschaftliche Bindungen, die das kreative Schaffen stören könnten.

Natürlich fokussiert McDonagh „bis aufs Blut“ auch jene bekannten Reaktionsmuster, in die Zeitgenossen sich hineinsteigern, um ihre persönliche Wohlfühlzone und/oder ein selbst gewähltes Rollenspiel zu verteidigen: Eigene Ansprüche mit „Liebesentzug“ durchsetzen, dem Anderen mit guten (zumindest schwer widerlegbaren) Argumenten ein schlechtes Gewissen machen und so weiter …

Indem er sich selbst Gewalt antut, verschafft Colm sich den Freiraum,  sein kleines Werk „Die Todesfeen (Banshees) von Inisherin“ innerhalb von ein paar Tagen fertig zu komponieren. Etwas länger dauert es, bis er nach bemerkenswerten Sturheitseruptionen und um ein paar Finger ärmer zurück auf den Boden findet – und gleichzeitig der doch etwas zu einfältige Pádraic den Weg aus seinem Traumland.

Nach seinem preisgekrönten Drama „Three Billboards outside Ebbing, Missouri“ gelang Martin McDonagh mit dieser Tragikomödie ein weiteres filmisches Meisterwerk, das nicht nur wegen seines vielschichtigen Drehbuchs und hervorragenden Darsteller in Erinnerung bleibt. „The Banshees of Inisherin“ wurde mit zahlreichen Filmpreisen und neun Oscar-Nominierungen ausgezeichnet – auch für Regie, Schnitt und Musik. 

Eine sehenswerte Reise durch erbauliche Landschaften und menschliche Abgründe.

(2022, 114 Minuten)