15. Oktober 2024

Eine Stimme für Wagner

Wolfgang Müller-Lorenz im Gespräch (1998)

• Der lange Zeit international tätige Heldentenor Wolfgang Müller-Lorenz fand in den Werken Richard Wagners seine musikalische Heimat. Ein Gespräch über die Wonnen und Tücken des Wagner-Gesangs, über die Aufführungspraxis der Wagnerschen Musikdramen und über die immer noch umstrittene Person des Komponisten.

Wie war das, als Sie Ihren ersten „Tristan“ gesungen haben? Man sagt dieser großen Wagner-Partie nach, dass sie die Stimme ruiniert. Was ist da dran wahr?

MÜLLER-LORENZ: Der „Tristan“ ist sicher eine schwere Rolle. Ich glaube aber, es ist damit eher gemeint, dass man alle Wagner-Partien gesungen haben muss, um den Tristan gut bringen zu können. Mir hat das jedenfalls sehr geholfen.

Was ist so Besonderes an der Tristan-Musik?

MÜLLER-LORENZ: Sie ist so vielschichtig. Man braucht lange Zeit, um in sie hineinzudringen. Wenn man diese Musik zum ersten Mal hört, ist das ja so, als ob eine Betonwelle über einen kommt, man weiß gar nicht, was man da hört, es ist einfach nur schön. Aber das als Sänger auf die Bühne zu bringen, erfordert, dass man da durchdringt – und das dauert. Ich hab‘ daran wirklich sehr lange herumgebissen.

Und was sind die gesanglichen Klippen dabei? Die Länge des Textes? Im dritten Akt dauert ein Monolog des Tristan ja länger als eine halbe Stunde!

MÜLLER-LORENZ: Fast 40 Minuten, abgesehen von den Unterbrechungen durch Kurwenal … den willkommenen Unterbrechungen, wo man einmal verschnaufen kann. – Die Klippen bei Wagner liegen immer in der Aufteilung der Partie. Es gibt kein Rezept dafür, wie man eine Wagner-Rolle angehen soll, man muss jedes Stück für sich selbst erarbeiten. In der „Walküre“ liegt die ganze Last des ersten Aktes am Siegmund, der zweite Akt ist wieder sehr tief. Der „Siegfried“ fängt ganz hoch an, wird ziemlich spielerisch in der Mitte und endet wieder ganz hoch, die Tessitura ändert sich kaum. Die Rolle des Siegfried in der Götterdämmerung ist irrsinnig schwer, weil sie hoch anfängt, zum Ende des ersten Aktes ganz tief hinuntergeht – man singt praktisch in der Bariton-Lage –, und dann geht man wieder in die Höhe. Und der „Parsifal“ fordert große Intensität in einer tiefen Lage, in der man als Tenor vielleicht auch nicht so gern singt.

Hat Wagner also, wie man es ihm nachsagt, wirklich ohne Rücksicht auf die Sänger komponiert?

MÜLLER-LORENZ: Nein, das kann man nicht sagen. Wenn einer Wagner nicht singen kann, soll er’s bleiben lassen. Wagner hat wunderbar für die Sänger geschrieben, nur verlangen seine Partien eine intensivste Vorbereitungszeit – gesanglich und auch textlich.

Am Klischeebild, Mozart sei Balsam für die Stimme, Wagner dagegen ruinös, ist also nichts dran?

MÜLLER-LORENZ: Mit der angeblichen Leichtigkeit von Mozart ist das so eine Sache, jede Partie birgt ihre Schwierigkeiten. Man muss genau so in der Lage sein, einen Zauberflöten-Tamino singen zu können. Bei Wagner ist es allerdings vielleicht noch wichtiger, sich innerhalb eines Werkes auch mit allen anderen Rollen intensiv zu beschäftigen, ich brauche auch die Geschichten und Vorgeschichten der anderen Personen, sonst stehe ich auf der Bühne ziemlich dumm da.

Hat dieses besonders tiefe Eindringen in die Handlung auch Auswirkungen darauf, wie gut man sich einen Text langfristig merkt?

MÜLLER-LORENZ: Das habe ich einmal bemerkt, als ich sieben Jahre lang die „Walküre“ nicht gesungen hatte, weil von mir immer nur Siegfriede verlangt wurden, und dann musste ich sie für Tokio ganz schnell parat machen – das ist innerhalb von einer Stundenprobe gegangen, da war die Partie wieder drin – aber perfekt!

Die Walküre war ja auch Ihr Einstieg ins Wagner-Fach, nicht wahr?

MÜLLER-LORENZ: Damals in Wiesbaden, ach ja, das war viel zu früh – der „Siegmund“ in der Walküre ist eigentlich der schwerste Held von Wagner. Die baritonale Lage dieser Partie war während des Umstiegs zum Tenor nicht ideal und fast nicht machbar.

Sie waren doch früher Bariton …

MÜLLER-LORENZ: Deshalb haben auch alle gemeint, der Siegmund würde mir ganz leicht fallen. Aber nach dem Umstieg ist die Stimme ganz in die Höhe gegangen – auf Kosten der Tiefe. Die ist erst im Laufe der Jahre und der ganzen Erfahrungen zurückgekommen. Ich hab‘ natürlich mit meinem Lehrer auch sehr daran gearbeitet. Wenn man so schwere Sachen singt, darf man nie stehenbleiben, man muss versuchen, immer vollkommener zu werden.

Welche Rolle spielt für Sie die Regie, der heute in Wagners Musiktheater ja ein besonders großer Stellenwert beigemessen wird?

MÜLLER-LORENZ: Eine große Rolle, sie kann den Gesangs- und Gestaltungsablauf sehr unterstützen – oder auch stören. Ein Regisseur sollte einem Sänger eine Geschichte mit auf den Weg geben können, die die Rolle als ganzes schnell fassbar macht – im Tristan zum Beispiel vereinen sich viele Aspekte, er ist naiv, arrogant und tief liebend. Und mit der Art und Weise, wie der Regisseur die Rolle anlegt, muss und möchte ich mich auch identifizieren können. Es geht darum, dass der Regisseur einen klaren Rahmen vorgibt, wie die Figur sein soll, dann kann der Sänger das auch gut wiedergeben. Aber es kann auch ganz toll sein, wenn jemand jede Handbewegung vorschreibt, wenn es intensiv gemacht wird und durchdacht ist. Was ich nicht mag, ist, wenn jemand – wie vor Jahren die Frau Berghaus bei ihrem Lohengrin in Graz – ihr eigenes Konzept bei jeder Probe zerstört und man am Schluss nicht mehr weiß, warum es überhaupt eine Konzeptbesprechung gegeben hat. Überhaupt besteht bei manchen Regisseuren das Problem, dass sie zu wenig Vertrauen haben in die musikalische und szenische Situation, wie sie vorgegeben ist, und Neues einbringen, das sich schnell abnutzt. Aber Musik nutzt sich nie ab!

Wie stehen Sie überhaupt zum sogenannten „modernen Regietheater“?

MÜLLER-LORENZ: Es gibt gutes und schlechtes Regietheater. Für mich ist es ganz wichtig, dass das Publikum es verstehen kann. Ich muss das Gefühl haben, alles, was ich auf der Bühne tue, kann man draußen begreifen. Wenn das Publikum nicht mehr mitkommt, verliert man den Kontakt. Auch sollte eine Geschichte nicht umgedeutet werden, sondern so belassen bleiben, wie sie ist. Man kann ja auch modern inszenieren und dabei das aussagen, was im Stück liegt. Vor allem sollte man als verantwortungsvoller Intendant die Regisseure, die man verpflichtet, auch kontrollieren und darauf achten, ob sie überhaupt vorbereitet sind und ob ihr Konzept zum Publikum des Hauses und zum Ambiente des Hauses passt. Das ist man auch dem Ensemble schuldig. Ich meine, dass man ruhig auch einmal provozieren kann – aber man muss immer wissen, wie weit man gehen kann. Wenn die Leute nur noch das vorgesetzt bekommen, was sie nicht sehen wollen, ist das der falsche Weg.

Wie bereitet man sich auf eine Wagner-Rolle vor?

MÜLLER-LORENZ: Man liest darüber, es gibt ja viele Leute, die viel geschrieben haben … sehr viele Leute, die sehr viel geschrieben haben darüber – man muss sich also das Interessanteste rauspicken, und verwendet das dann auch für die Darstellung. Und gesanglich muss man sich die Partie halt hart erarbeiten, Ton für Ton in die Kehle singen. Für den Tristan wären zwei Jahre Vorbereitung ideal. Für den Tannhäuser habe ich mir drei Jahre Zeit gelassen. Diese lange Vorbereitungszeit unterscheidet Wagner-Partien von italienischen. Einen Radames kann man locker in zwei Monaten lernen. Aber das Wagner-Fach ist ein ganz besonderes, ein nicht vergleichbares. Es muss einem liegen, auch vom Text her, man muss diese Wagner-Sprache gerne sprechen wollen – und gerne verstehen wollen. Es gibt Sänger, die Wagner ob seiner ernsthaften Schwere hassen – obwohl es auch viel Humor in verschiedenen Wagner-Opern gibt. In den Meistersingern sowieso, aber auch der Loge im „Rheingold“ ist sprachlich amüsant – oder der Siegfried, wenn er zum Beispiel beim Kampf mit dem Drachen von den „lachenden Zähnen im Leckermaul“ singt … Mein Sohn sagte manchmal: „Sing mir nochmal die Stelle mit dem Leckermaul!“ Humor heißt ja nicht unbedingt, dass man laut loslacht.

Welchen Stellenwert hat für Sie Richard Wagner als Mensch?

MÜLLER-LORENZ: Man kann das Werk Richard Wagners sicher nicht von seiner Person trennen, einiges darin ist ja autobiographisch. Der Antisemitismus, von dem in Bezug auf Bayreuth immer wieder gesprochen wird, war keine Wagnersche Erfindung. Wagner war sicher kein Judenfreund und hat einige ketzerische Schriften verfasst, aber er hat auch viele Musiker jüdischer Abstammung bei sich beschäftigt – und er hat nicht „Mein Kampf“ geschrieben.

Sind Diskussionen über Antisemitismus, Religionsbekenntnis oder Nationalität eigentlich im Theateralltag ein Thema?

MÜLLER-LORENZ: Überhaupt nicht, man respektiert den Menschen so, wie er ist und auch seine Glaubensrichtung, wenn man sie weiß. Woher er kommt oder welche Hautfarbe er hat, spielt für uns aber überhaupt keine Rolle – dieses Grenzenlose, Multikulturelle ist für mich besonders schön am Theater. Man hat keine Vorurteile, respektiert einander und versteht sich durch die Musik.

Wie sieht es am Markt der Wagner-Tenöre aus? Gibt es wirklich so wenig Nachwuchs?

MÜLLER-LORENZ: Ja, und der Grund liegt darin, dass man Sänger nicht wachsen lässt. Sie sollen möglichst mit 20 schon ganz schwere Rollen singen, weil sie so knusprig aussehen, so wunderschön schlank und jung sind – und es ist vollkommen egal, ob sie das durchstehen oder nicht, weil es gibt ja dann wieder so einen Knackigen, der aus irgendeiner Hochschule kommt, und den kann man dann ja wieder verheizen. Mit Wagner zu singen beginnen, ist aber ganz schlecht. Dazu kommt, dass es ungemein schwer ist, in diesem Fach wirklich ganz an die Spitze zu kommen, denn es herrscht hier unter den Sängern großer Futterneid. Es kann schon mal vorkommen, dass ein großer Tenor in Bayreuth auch noch halbkrank singt, nur damit sein Cover nicht zum Zug kommt und damit vielleicht zum Konkurrenten wird.

Gab’s in Ihrer Karriere auch denkwürdige Pannen?

MÜLLER-LORENZ: Ach ja, viele. Während eines „Parsifal“ in Stockholm lag mein Sohn wegen seines Blinddarms genau zur Zeit der Vorstellung am Operationstisch. Und bei der endlosen Warterei im ersten Akt – trotz einer wunderbaren Inszenierung von Götz Friedrich mit spannenden Ideen und trotz der wunderbaren Musik habe ich als Parsifal bis auf ein paar Sätze ja immer nur zuzuhören – war ich mit meinen Gedanken bei meinem Sohn, stellte mir vor, wie er auf dem OP-Tisch liegt, und kam plötzlich drauf, dass ich eigentlich schon lange auf der anderen Seite dieser großen Bühne stehen sollte. Da musste ich mir dann krampfhaft eine Stelle suchen, wo ich mich schnell rüberschwindeln konnte. Zum Schwimmen kam ich sofort, wenn mir einmal – was zum Glück sehr selten vorkam – ein Wort entfiel. Mir fiel dann nichts ein und ich machte nur noch „Jahuahiaua“ oder so ähnlich. In meiner Bariton-Zeit hatte ich einmal Probleme mit den Gesangsstrophen des Papageno. Ich hab‘ die zweite und dritte einfach nicht „d’erlernt“ und hab aus Sicherheitsgründen immer die erste gesungen. Und weil das bei dem „Vogelfänger“ so schön war, hab ich das beim „Mädchen oder Weibchen“ gleich noch einmal gemacht. Und dann hab‘ ich gedacht, ich komm da immer damit durch – bis ein Kritiker geschrieben hat, dass das alles schön und gut ist, nur es wäre doch mal angebracht, dass der Herr Müller-Lorenz die Texte seiner Strophen lernt … Und dann hab‘ ich sie gelernt.

Kritiken lassen Sie also nicht ganz kalt?

MÜLLER-LORENZ: Nein, einerseits ärgere ich mich sehr intensiv über Rezensionen, die wirklich blöd sind. Andererseits gibt es konstruktive Kritiken, auch wenn sie schlecht sind, die man sich für die nächste Gesangsstunde aufschreibt, die man sich durchdenkt und für sich verwertet.