1. Dezember 2024

Nur ein kleiner Schnitt in die graue Substanz …

Miloš Formans Psychiatrie-Drama „Einer flog über das Kuckucksnest“

„Also schön“, fasst Dr. Spivey (Dean R. Brooks), ärztlicher Leiter der psychiatrischen Anstalt, sein erstes Gespräch mit R. P. McMurphy (Jack Nicholson) zusammen. „Sie werden für eine Weile bei uns bleiben, damit wir uns ein Bild von Ihnen machen können. Wir werden Sie beobachten. Wir studieren Sie, und auf Grund des Resultats entscheiden wir dann, was zu tun ist, welche Behandlungsmethode wir für Sie für notwendig halten.“

Dr. Spivey ist ziemlich sicher, mit McMurphy einen zwar aufmüpfigen und fallweise aggressiven Zeitgenossen vor sich zu haben, der aus gutem Grund im Gefängnis gelandet ist, aber dass der ebenso intelligente wie eloquente Häftling von dort hierher, in die geschlossene psychiatrische Anstalt, abgeschoben wurde, dürfte wohl eher daran liegen, dass man ihn in der Strafvollzugsanstalt schlicht und einfach nicht einschätzen konnte. Also beobachten. Und dann über die passende Behandlungsmethode entscheiden …

Wie sich das vielfach preisgekrönte Drama „Einer flog über das Kuckucksnest“ des tschechisch-US-amerikanischen Regisseurs Miloš Forman (1932–2018) nach dieser harmlosen, durchaus von menschlichem Verständnis getragenen Einleitungsszene entwickelt, ist Filmkunst vom Feinsten – dramaturgisch, schauspielerisch und regietechnisch. McMurphy durchbricht mit seiner freigeistigen Gesinnung die Lethargie, die den Klinikalltag in den vergitterten Räumen prägt, motiviert die Patienten, macht sie zugleich aber auch schwerer kontrollierbar, weshalb er in immer stärkeren Konflikt mit Oberschwester Mildred Ratched (Louise Fletcher) gerät – und nach ersten Eklats mit Elektroschock-Behandlungen „gezähmt“ wird.

Die Schwester lehnt beispielsweise McMurphys Bitte ab, die allgemeine Beschallung leiser zu stellen, weil Musik anderen, schwerhörigen Patienten auf der Station so viel bedeute. Sie verbietet ihm, ein Baseballendspiel im Fernsehen anzusehen, weil das gegen die wohl durchdachte Tagesordnung verstoße. Und sie diskutiert lieber endlos über Schuldfragen, als einem deshalb schon weinenden Patienten einfach seine Zigarette zu geben … denn Gruppensitzungen sind ja ein wichtiger Bestandteil der Therapie.

Jede Belehrung der Oberschwester, die die Freiheit der Patienten einschränkt, wird mit dem Allgemeinwohl begründet, keines ihrer Verbote scheint der Willkür zu entspringen.

Wo ist die Grenze zwischen professioneller Sachlichkeit im Umgang mit Patienten und sadistischem Machtmissbrauch?

Der Film verdeutlicht, dass der Übergang fließend sein kann. Denn die Oberschwester versteift sich im Grund nur einfach auf alles das, was die mit guten Argumenten bewährten Behandlungs-Routinen vorschreiben – und verwandelt sie dadurch zu Folterwerkzeugen. Ihr Sadismus folgt keiner speziellen Neigung, sondern ist einfach das Ergebnis starrer Alltags-Routine, er ist rein sachlicher Natur.

Prinzipientreue und Unmenschlichkeit liegen oft gefährlich nah beieinander.

„Einer flog über das Kuckucksnest“ ist auch in anderer Hinsicht ein Alltagsgleichnis. Irgendwann erfährt McMurphy, dass die meisten seiner Leidensgenossen freiwillig in der psychiatrischen Klinik sind. Sie könnten sie jederzeit wieder verlassen. Aber es ist offenbar leichter, sich dem Diktat von Vorschriften auszuliefern und in einem engen Rahmen fremdbestimmt zu leben, als mutig eigene Wege zu geben, sein Leben in die Hand zu nehmen …

McMurphys Flug über das „Kuckucksnest“, also die Psychiatrie, endet tragisch: Nachdem Mildred Ratcheds Schuldzuweisungen einen jungen Patienten in den Selbstmord getrieben haben und die Oberschwester dennoch „wie bisher weitermachen“ will, stürzt er sich wütend auf sie, um sie zu erwürgen.

McMurphy wird daraufhin einer Lobotomie unterzogen. Bei dieser neurochirurgischen Operation werden die Nervenbahnen im Gehirn sowie Teile der grauen Substanz durchtrennt, was eine radikale Veränderung der Persönlichkeit zur Folge hat. Der Mensch wird antriebslos, seine „Flügel“ sind für immer gestutzt …

Das also ist die Behandlungsmethode, die man nach „fachlichen Beobachtungen“ für nötig hielt – leider nicht nur in diesem Film. Lobotomien wurden lange Zeit, vor allem im angloamerikanischen Raum, relativ häufig auch zur Behandlung von Psychosen und Depressionen eingesetzt. Der US-amerikanische Psychiater Walter Freeman (1895–1972), der an der Entwicklung der Methode maßgeblich beteiligt war, schrieb dazu freimütig: „Die Psychochirurgie erlangt ihre Erfolge dadurch, dass sie die Phantasie zerschmettert, Gefühle abstumpft, abstraktes Denken vernichtet und ein roboterähnliches, kontrollierbares Individuum schafft.“

Miloš Formans Psychiatrie-Drama „Einer flog über das Kuckucksnest“ trug wesentlich dazu bei, dass die Lobotomie, die im 20. Jahrhundert weltweit schätzungsweise eine Million mal vorgenommen wurde, in den öffentlichen Fokus rückte und durch humanere Methoden ersetzt wurde.

Während sein Film die Figur von R. P. McMurphy in den Mittelpunkt rückt, erzählt die gleichnamige Romanvorlage von Ken Kesey (1962 erschienen) die Geschichte übrigens aus der Perspektive eines indianischen Patienten, „Häuptling“ Chief Bromden (Will Sampson). Dieser spielt den dummen Taubstummen, nutzt die psychiatrische Klinik aber in Wirklichkeit nur als persönliche Komfortzone, weil er an seinem Leben verzweifelt ist. Mit seinem – inneren und äußeren – Ausbruch endet auch Miloš Formans Filmdrama.

„Einer flog über das Kuckucksnest“ gehört zu den wenigen Meisterwerken, die in allen fünf Hauptkategorien (Bester Film, beste Regie, bestes Drehbuch, bester männlicher Hauptdarsteller, beste weibliche Hauptdarstellerin) mit dem Oscar ausgezeichnet wurden und sicher zu den wichtigsten Filmen des 20. Jahrhunderts.

(1975, 133 Minuten)