29. März 2024

„Ob ich den Nobelpreis bekomme oder das Fräulein Herta in Rekordzeit erobern kann, ist nicht wichtig“

André Heller im Gespräch (2016)

Für die ORF-Doku „Wege zum Arbeitsglück – Bestehen in der Beschleunigungsgesellschaft“ fand das folgende Interview mit dem Multimediakünstlern zum Thema „Beschleunigungsgesellschaft und geglücktes Leben“ statt.

Soziologen sprechen von einer „Beschleunigungsgesellschaft“, in der wir leben, wobei offensichtlich ein Hauptproblem darin liegt, dass der Bezug des Menschen zu seiner Umwelt verloren geht. Entspricht diese Entwicklung auch Ihren Beobachtungen – und wie begegnen Sie ihr?

HELLER: Ich bin ja lebendig, und meine Sinne zeigen mir, dass die Welt immer hysterischer wird. Sie wird schneller, und die Bewohner dieses Planeten sind in immer größeren inneren und äußeren Nöten. Ich versuche dagegenzuhalten mit Projekten, die mir persönlich eine Entschleunigung bieten, die mir eine Umgebung des Friedens, der Qualität, der Genauigkeit, der Behutsamkeit, der Schönheit bieten, weil mir das unerlässlich ist. Und ich merke seit vielen Jahrzehnten, dass es anderen genauso geht. Also habe ich in einer der größten Mord-Hass-Wut-Grobheits-Orgien aller Zeiten nach sorgfältigem Nachdenken entschieden, dass ich Gärten in die Welt bringe. Gärten bestehen aus Wesenheiten – aus Pflanzen, aus Bäumen –, die sich nicht gegenseitig bewerten, die sich nicht herablassend behandeln, wo sich nicht eine Orchidee besser vorkommt als ein Kaktus, und sie sind wieder die idealen Lebensräume für seltene, kostbare, wunderbare Tiere aller Arten. Sie sind Orte der Heilung, der Schönheit, der Ermutigung, der Farbenpracht, sie sind Gottesbeweise, wenn man sich die Vielfalt anschaut, die die Natur zu bieten hat, und sie sind die einzigen Verwirklichungen, die von Minute zu Minute schöner werden. Ein Garten, den man jetzt geplant und gepflanzt hat, kann in 300 Jahren noch sehr viel schöner sein. Diese Gärten sind keine Flucht aus der Wirklichkeit, sondern das Angebot einer anderen Wirklichkeit innerhalb der Wirklichkeit, die mich – wie Millionen andere – erschreckt, abstößt und degoutiert.

Sie haben den von Ihnen konzipierten und im April 2016 eröffneten marokkanischen Garten „Anima“ als „magischen Ort der Sinnlichkeit, des Staunens, der Kontemplation, der Freude, der Heilung und der Inspiration für Menschen jeden Alters“ beschrieben. Das erinnert ein wenig an aktuelle Therapie-Konzepte, die auch auf Kunsterleben setzen, um Burnout und ähnliche gesellschaftsweite Ermüdungs- und Erschöpfungssymptome zu behandeln. Entwickelt sich die Kunst zum Rettungsanker für die Beschleunigungsgesellschaft?

HELLER: Ich bin kein Künstler und ich glaube nicht an die Kunst. Ich glaube an hohe Energien und an schädigende Energien. Ich glaube daran, dass es Musikstücke, Bilder, Skulpturen und Gebäude gibt, die mich fähiger machen, wenn ich mich in ihnen aufhalte und mich mit ihnen auseinandersetzte, und es gibt andere Taten von Menschen, die mich schwächen. Was wir brauchen, ist Stärkung. Was wir brauchen, ist Ermutigung, ist Hinlenkung statt Ablenkung.

Ich werde nicht müde, meinen Freunden zu sagen, dass es in dieser sich wichtig machenden Welt bedeutende und auch weniger bedeutende Lebewesen gibt, die mit 100 sterben, ohne dass sie einander je begegnet sind, weil sie so viel Ablenkung gehabt haben. Man kann sehr berühmt werden, sehr reich werden, sehr viele Preise gewonnen haben, viel Ansehen in der Welt, ohne dass man ist sich selbst auf den Grund gegangen ist. Es ist eine wichtige Voraussetzung, um mit sich befreundet zu sein, dass man sich wirklich kennengelernt hat – in den Abgründen, in den Gletscherspalten, in den Schründen, die es da gibt. Und diese Erfahrung versuchen viele zu schwänzen.

Die Natur ist eine uns gratis zur Verfügung stehende Möglichkeit, um auszuzittern. Seit ewigen Zeiten gehen Menschen in die Natur, um sich dort Kräuter zu holen, von denen sie begriffen haben, dass sie ihnen gut tun, um Bäume zu umarmen, um an heißen Tagen Schatten und Kühle zu erleben. Liebespaare treffen sich in Parks und Gärten, weil sie das Gefühl haben, dort beschützt und gesegnet zu sein. Die alten Leute lehnen sich im Frühjahr an die Wand von Schloss Schönbrunn in Richtung Gloriette und genießen das, was die Sonne, was der Wind, was die Bewegungen der Zweige, was die Düfte ihnen anbieten, und empfinden das als ein Gnadengeschenk. Wenn die Menschen mehr in die Natur gehen würden, dann könnten sie sich sehr viel an Therapien ersparen. Nur, es geht nicht drum, dass man einmal zehn Minuten lang rauchend oder mit Kopfhörern joggend durch Wälder rast, sondern es geht darum, dass man sich der Stille hingibt, dass man sich in dieser Stille der inneren Stimme bewusst wird, dass man weiß, dass die Seele Bedürfnisse hat, die nie falsch sind, und dass man gut beraten ist, synchron mit den Bedürfnissen der Seele zu leben. Für all das sind die Wolkenkratzer-Universen und die hupenden Autos und der Gestank und der Dunst und das Hasten nicht die richtige Hinführung, sondern eben ein Bei-sich-Bleiben. Bei sich eine Art von Kontemplation finden macht einen fähiger und in der Konsequenz nicht krank.

Wie gehen Sie selbst mit Druck um – Erwartungsdruck, Erfolgsdruck, Termindruck? Haben Sie dafür Rezepte entwickelt?

HELLER: Ich weiß genau, was Druck ist und habe mir das viel zu lange zugemutet. Es gab Druck, der von meinem Ehrgeiz gekommen ist; Druck, wo meine Talente sich wichtig gemacht und gesagt haben: „Wir wollen verwirklicht werden! Wir wollen verwirklicht werden!“; es gab einen Druck, den ich mir gemacht habe, um den Ansprüchen anderer zu genügen … Ich könnte da jetzt sehr, sehr vieles aufzählen. Ich habe dann mühsam, aber doch gelernt, zu vielem Nein zu sagen. Dann ist halt jemand beleidigt, aber dafür freuen sich meine Systeme, dass sie nicht überfordert wurden. Dann sagt halt jemand: „Der ist undankbar, der schuldet mir was“ … aber vor allem schulde ich mir was: Ich schulde mir Lebensbedingungen, in denen ich mich möglichst ideal lernend verwandeln kann, in denen ich die Expeditionen und Abenteuer, die ich brauche, um mein Bewusstsein zu verändern, nicht schwänze.

Ich glaube, dass das Leben aus sehr vielen Abschieden bestehen muss, weil ich mich weiter bewegen muss. Natürlich ist es ein unglaublicher Druck, in einer Beziehung zu bleiben, von der man weiß, dass sie bestenfalls Stillstand und schlechtestenfalls Bitterkeit, Verbitterung, Frustration, ausufernde Nöte und auch wieder, in der Konsequenz, Krankheiten bedeutet. Diese Überrücksicht, die manche Leute nehmen mit der Ausrede: „Ich schulde das den Kindern“ … Zunächst einmal sind sie ihr eigenes Kind, und sie müssen diesem Kind bedingungslose Liebe geben. Viele Menschen, zu denen ich mich über Jahrzehnte auch zählen würde, können besser geben als nehmen und beuten sich in einer vollkommen unverantwortlichen Weise aus. Dann sind sie verwundert, wenn sie eines Tages merken, das Werkel funktioniert nicht mehr, ich kann keine klaren Gedanken mehr fassen, mein Gehirn bricht unter der Last der Ansprüche zusammen, und ich löse mich in ein grandioses Nicht-Funktionieren auf. Das ist der Punkt, wo man allerspätestens begreifen muss: So geht es keinen Augenblick mehr weiter. Mein Körper zeigt mir, was meine Situation ist, und wenn ich das übersehe, dann darf ich mich über keinerlei Folge mehr wundern, da ist dann vom Krebs bis zum Selbstmord und vom Verrücktwerden bis zur Versteinerung alles möglich. Wir sind in erster Linie für uns selbst verantwortlich, nicht für das Büro, für das wir arbeiten, nicht für die politischen Herausforderungen unserer Zeit … die auch wesentlich sind und in die wir uns einbringen sollen – aber zunächst einmal bin ich für den André Heller zuständig.

So ein Gedanke gilt bei vielen als Hybris oder als Narzissmus. Aber wie soll ich denn jemand anderen lieben können, wenn ich nicht in der Lage bin, mich zu lieben? Und um mich lieben zu können, muss ich mich in einen Zustand bringen, der mir liebenswert erscheint. Man kann natürlich nicht jemanden lieben, von dem man weiß, dass er ein Schwindler ist, das er blufft, dass er ein Potemkinsches Dorf ist. Wer also nicht sich in einen glaubwürdigen Zustand bringt, so dass er freiwillig mit sich selbst befreundet sein möchte und dann diesen Freund zu lieben beginnt, der wird große Probleme haben, jemand anderen bedingungslos zu lieben. Unser zentrales Problem Nummer soundsoviel in der Welt ist, dass wir vom anderen unter dem Pseudonym Liebe immer wollen, dass er so ist, wie wir ihn gern hätten –und nicht so, wie er wirklich ist. Wenn ich schon behaupte, ich liebe dich, muss ich dich für das lieben, was du wirklich bist und nicht für das, was ich ummodellieren will …

Die Liebesfähigkeit ist wohl auch die Grundvoraussetzung für die eigene Persönlichkeitsentwicklung.

HELLER: Das ist etwas, was man wirklich auch wissen muss: Das Mächtigste in unserem Leben sind unsere Gedanken. Und meine Gedanken werden gesteuert von meinem Bewusstsein. Habe ich ein niederes Bewusstsein, habe ich angstvolle, verzweifelte, minderwertigkeitskomplexbeladene Gedanken, die mir eine angstvolle, verzweifelte, minderwertige, komplexbeladene Wirklichkeit schaffen. Wenn ich auf Grund eines höheren Bewusstseins ein anderes – gerechtfertigtes –Selbstbewusstsein habe, schaffen meine Gedanken viel gesegnetere Umstände. Das weiß ich aus meinem Leben und aus dem Leben vieler, die sich daran halten.

Aber das, worüber wir hier reden, hat natürlich auch mit etwas zu tun, was für die Aufgeklärten, Obergescheiten so anrüchig ist, nämlich mit Spiritualität. Nicht mit Religion – Gott ist bei keinem Verein –, sondern mit Spiritualität. Bei Intellektuellen genießt das sehr häufig einen Lächerlichkeitsstatus. Darauf brauchen sie sich nichts einbilden, weil sie sich mit dem Wichtigsten im Leben einfach nicht beschäftigen. Das Wichtigste ist nicht, ob ich den Nobelpreis kriege, ob ich das Fräulein Herta in Rekordzeit erobern kann, ob ich 240 Sprachen spreche oder acht Millionen Sterne bereist habe. Wichtig ist: Welchen Sinn habe ich begriffen, warum ich auf dieser Welt überhaupt bin, warum ich im André Heller stecke und was der an Lernprozessen hinter sich und vor sich hat. Nichts davon sollte ich wegstupsen und sagen: „Mir reicht’s“ … Es reicht nicht. Bis zum letzten Atemzug sind wir hier, und immer kommen wir auf etwas Neues drauf und immer erfahren wir was über unsere Fähigkeiten und Unfähigkeiten, immer arbeiten wir an dieser Menschwerdung. Wir werden als Entwurf zu einem Menschen geboren – und dann müssen wir uns bis zum letzten Atemzug in einen halbwegs gelungenen Menschen verwandeln.

Dreharbeiten bei André Heller (rechts) mit meinem Kollegen Wolfgang Scherz (Mitte)