19. September 2024

„Religion spaltet. Spiritualität vereint.“

Bertrand Piccard ist Forscher, Psychiater und Pionier für saubere Energie. Er hat als erster Mensch die Erde in einem Solarflugzeug umrundet. Sein Großvater, August Piccard, erreichte als erster die Stratosphäre in einem Ballon; sein Vater, Jacques Piccard, tauchte in einem speziellen U-Boot als erster zum tiefsten Punkt des Meeresbodens.

Bertrand Piccard erforscht aber nicht nur die äußere Welt, sondern auch die innere. Spiritualität gehört für ihn zu den Lebensgrundlagen. In unserem Interview steht dieses Thema, über das er sonst kaum spricht, im Zentrum.

Lieber Herr Dr. Piccard, Sie sind der Jüngste in einer Familie von weltberühmten Forschern und Pionieren. Sie und Ihr Kopilot waren die ersten, die die Erde zuerst mit einem Ballon und später mit einem Solarflugzeug umrundeten. Die Begeisterung der Menschen für all diese Leistungen ist ungebrochen. Vielleicht auch, weil es romantisch anmutet, wenn jemand zum ersten Mal den Rand des Weltalls oder den tiefsten, dunkelsten Punkt des Meeres erreicht. Oder wenn jemand wie Sie mit dem Ballon den Globus umrundet. Könnte man sagen, dass zumindest teilweise eine gewisse Romantik die treibende Kraft hinter diesen Höchstleistungen ist?

PICCARD: Romantik ist das, was man sieht, wenn man es geschafft hat. Aber bevor man Erfolg hat, gibt es eine Menge Arbeit, in wissenschaftlicher und in technischer Hinsicht. Es braucht viel Teamarbeit. Umfangreiche Vorbereitungen sind nötig. Das alles ist nicht immer sehr romantisch. Und dann gibt es oft auch noch Rückschläge, bevor man Erfolg hat. Aber wenn es erst einmal funktioniert, denkt man: „Wow, das sieht so einfach aus!“

Wenn Sie an Ihre Kindheit zurückdenken: Hatten Sie da bestimmte Vorstellungen? War es immer Ihr Ziel, auch ein Abenteurer zu sein?

PICCARD: Ich hatte den Wunsch, ein Entdecker zu sein, nicht Abenteurer, sondern Entdecker, als ich sah, was mein Großvater und mein Vater getan hatten, wobei sie Astronauten, Taucher, Forscher und Testpiloten trafen. Ich begegnete Lindbergh und allen Astronauten des amerikanischen Raumfahrtprogramms, und ich dachte mir, das ist das Leben, das ich führen möchte. 

Aber gleichzeitig, und das wird häufig außer acht gelassen, war da auch der Einfluss meiner Mutter. Meine Mutter war sehr spirituell orientiert – östliche Philosophie, Psychologie, Spiritualität. Sie hat mich ebenfalls zu Forschungen angeregt. Während mein Vater mir die technische Seite zeigte und wie man die Außenwelt erforscht, regte meine Mutter mich an, auch den Gegenpol, die innere Welt, zu erforschen. Wozu dient das Leben? Warum sind wir hier? Wozu durchleben wir die Tage, die wir auf der Erde verbringen? Und wohin gehen wir? 

Es gab also diese beiden Seiten, und ich war immer neugierig. Mich faszinierte beides, alle wissenschaftlichen und auch alle spirituellen Aspekte. Und ich hatte das Glück, dass meine Eltern mich immer Fragen stellen ließen. Sie ließen es zu, dass ich etwas verstehen wollte. Sie haben mir nie gesagt: „Du bist zu jung, das ist nichts für dich. Hör auf, Fragen zu stellen, du musst nur das tun, was man dir sagt, du musst nur den Mainstream verstehen“. 

Nein, ich durfte immer Dinge in Frage stellen und ich denke, das war grundlegend wichtig für mich.

Sie vereinen also eine gute Mischung aus mütterlichen und väterlichen Impulsen. Ihr Großvater, ihr Vater und Sie selbst – die drei Persönlichkeiten erscheinen wie aus einem Guss. Ist das wirklich so oder würden Sie sich selbst, Ihren Vater und Ihren Großvater als sehr unterschiedliche Charaktere beschreiben, die aber die gleichen Leidenschaften und Fähigkeiten teilen?

PICCARD: Nun, wir teilen die Leidenschaft für die Forschung, für die Erforschung des nicht bereits Offensichtlichen, für Dinge, die noch nie gemacht wurden. Damit bin ich aufgewachsen. Mein Vater und mein Großvater haben nie akzeptiert, dass etwas unmöglich sein soll. Sie haben Paradigmen verändert, sie waren disruptiv, und sie haben jedes Mal geschafft, was zuvor unmöglich erschien. 

Das ist die Eigenart meines Vaters und meines Großvaters. Und darin liegt wohl der Grund, weshalb ich auch auf der spirituellen Ebene zu einem Ketzer geworden bin. Das heißt, ich habe keine Dogmen akzeptiert. Ich war nie mit dem einfach zufrieden, was allgemein gelehrt wurde. Ich habe immer gedacht: Vielleicht ist es doch nicht so, vielleicht geht es um etwas anderes. All diese konfessionellen Richtungen, die man akzeptieren, praktizieren und denen man vertrauen muss, sind nichts für mich, ganz und gar nicht. Ich denke, dass man eben ketzerisch sein muss. 

Was bedeutet das Wort Ketzerei? Es kommt aus dem Griechischen und weist auf abweichende Meinungen hin. Das heißt, man hat die Wahl zu denken, die Wahl, nicht mit dem einverstanden zu sein, was gesagt und gezeigt wird.

Hat Ihnen diese Gesinnung auch als Psychiater und Psychoanalytiker geholfen?

PICCARD: Ich war nicht als Psychoanalytiker tätig. Während meines Studiums hatte ich gehört, dass Hypnose nicht funktioniert. Das hat mich dazu angeregt, dieser Sache nachzugehen. Denn vielleicht funktioniert sie ja doch. Vielleicht behaupten nur Leute, die ihr psychoanalytisches Dogma, ihr Freudsches Dogma nicht aufgeben wollen, dass die Hypnose nicht funktioniert. Als ich vor 35 Jahren studiert habe, war Lausanne eine Hochburg Freuds. Also wollte ich mir die Hypnose näher anschauen.

Man sagte mir zum Beispiel auch, dass die Akupunktur nicht funktioniert. Ich habe auch das versucht. 

Wenn immer man mir gesagt hat, dass man etwas gar nicht erst ausprobieren sollte, habe ich es getan. Nur Drogen habe ich nie ausprobiert, denn ich war mir immer sicher, dass sie keinen Vorteil bringen, keinen Nutzen haben. Vieles andere habe ich aber versucht. 

Auch die Hypnose habe ich ausprobiert. Und ich habe festgestellt, dass sie extrem gut funktioniert. Sie war mir nicht nur bei meinen Ballonfahrten eine Hilfe, sondern auch in Therapien. 

Hypnose ist ein extrem starkes Werkzeug, um Menschen dabei zu helfen, ihre eigenen Ressourcen zu nutzen, damit sie sich weiterentwickeln können, die Bewusstseinsstufe in ihrem Leben erhöhen können. Also bin ich Hypnotherapeut geworden und habe 20 Jahre lang mit Hypnosetechniken behandelt.

Das erinnert mich an ein anderes Beispiel von „Piccard-Häresie“. Sie sind der Meinung, dass der berühmte Satz von René Descartes „Ich denke, also bin ich“ umformuliert werden sollte in „Ich fühle, also bin ich“. Wie kommen Sie darauf? Immerhin ist dieser Satz ein Grundpfeiler der abendländischen Philosophie. Warum diese Anregung, ihn neu zu formulieren?

PICCARD: Weil ich denke, dass die westliche Philosophie teilweise falsch ist. Wir sind zu sehr auf das Gehirn und das Denken konzentriert und nicht auf das, was es uns ermöglicht, zu sein. 

Das Denken ermöglicht es uns, im Alltag zu funktionieren. Aber es ist nicht die Grundlage unseres Seins, des bewussten Seins. Wenn Sie bewusst sein wollen, brauchen Sie nicht zu denken. Denn wo sind Sie, zeitlich betrachtet, wenn Sie denken? Sie sind in der Vergangenheit. Sie denken vielleicht an das, was Sie hätten anders machen sollen. Oder Sie sind in der Zukunft und gedanklich mit Dingen beschäftigt, die Sie nicht kontrollieren können oder die Ihnen Angst machen. Aber Sie sind selten in der Gegenwart. 

Die einzige Möglichkeit, wirklich in der Gegenwart zu sein, im Bewusstsein des gegenwärtigen Augenblicks, liegt im Fühlen. 

Hier und jetzt geht es nicht darum, darüber nachzudenken, was ich Ihnen sagen werde, sondern darum, zu spüren, dass ich in diesem Moment meines Lebens hier in diesem Sessel sitze, mit meinem Körper, mit Ihnen und zwei anderen Personen im Raum und einer Kamerafrau, die gerade filmt und den Ton aufnimmt.

Mit diesen bewussten Wahrnehmungen beginnt man zu fühlen, präsent zu sein. Nur in der Gegenwart, im gegenwärtigen Augenblick kann man auf sein Leben einwirken. Anders geht es nicht. Man sollte also viel mehr fühlen als denken.

Es geht dabei um Bewusstsein, um unser menschliches Bewusstsein.

PICCARD: Aber was versteht man unter Bewusstsein im westlichen Sinne? Bewusstsein bedeutet hier, dass man nicht schläft. Es bedeutet, dass man im Hirnstamm Nervenimpulse hat, die in die sogenannte retikuläre Zone des Gehirns gelangen und dafür sorgen, dass man wach ist. Das körperliche Wachsein ist aber nicht das Gleiche wie auf der spirituellen Ebene bewusst zu sein. Dieses Bewusstsein ist viel wichtiger. Es geht über das Wachsein hinaus. 

Bewusstsein bedeutet, zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben in einer bestimmten Situation zu sein, mit allem, was es uns ermöglicht, uns mit der Transzendenz zu verbinden. Das ist das Wichtige. Es geht darum, aus seiner eigenen kleinen Welt hinauszugehen, um Kontakt, Verbindung mit einer größeren Welt zu finden, mit einer Welt der Transzendenz, einer energetischen Welt, die eine andere Qualität hat als die niedrig schwingende Materie unseres täglichen Lebens. 

Das ist nicht unbedingt einfach, aber der Versuch, sich mit einer höheren Energiequalität zu verbinden, fördert das Bewusstsein.

Normalerweise verbindet man Hochleistungssport, wie Sie ihn betrieben haben, und auch wissenschaftliche Expeditionen nicht mit Spiritualität. Sie aber sind daran sehr interessiert. Was hat Sie mehr geprägt, Ihre Suche nach spirituellen Werten oder Ihre Abenteuer, ihre Entdeckungsreisen?

PICCARD: Das eine wäre ohne das andere nicht möglich gewesen. In vielen Gesprächen erzählte mir meine Mutter von ihren Forschungen, von ihren Gedanken über das Bewusstsein, über die Bedeutung des Augenblicks. 

Für mich war das zunächst nur Theorie, eine Idee, während sie aber ihre Erfahrungen hatte. 

Aber als ich mir dem Drachenfliegen anfing, begann ich zu verstehen, wirklich zu spüren, was sie mit dem Bewusstsein des gegenwärtigen Augenblicks meinte. Wenn man sich mit sechzehn oder siebzehn Jahren unter einem Deltaflügel befindet und sich in Relation zu seinem Trapez bewegen muss, um sich im Luftraum zu orientieren, dann steuert der Körper, das Körpergewicht den Flügel. In 3000 m Höhe kann es dabei zu gefährlichen Situationen kommen. In der Bewegung mit einem Deltaflügel muss man lernen, die Risiken abzuwägen, richtige Entscheidungen zu treffen, die gesamte Flugstrategie zu managen. Man befindet sich in einer Situation, in der man unbedingt das Richtige tun muss. Und dabei lebt man zwangsläufig nur für den Augenblick. 

Da wurde mir klar, dass Descartes Unrecht hat, wenn er das Denken mit dem Sein verbindet. Nein, existentiell geht es nicht um das Denken. Man muss fühlen. In solchen Momenten handelt man wirklich bewusst.

Das war für mich eine Offenbarung. Es war wie eine Erleuchtung. 

Als ich mit dem Kunstflug anfing, erkannte ich, dass ich in jedem Moment meines Kunstflugprogramms vollkommen präsent und bewusst war. Es war fast so, als könnte ich die Zeit anhalten. Die Zeit verging viel langsamer, weil ich so intensiv lebte. Wenn ich dann abends nach Hause kam, gab es nur noch eineinhalb Minuten Akrobatikprogramm. Damit war der Tag vorbei.

Durch diese Intensität wurde ich in meinem Alltag so viel besser, so auffallend effizienter, dass ich diese Erfahrungen weiter erforschen und beruflich nützen wollte. Aber nicht für mich selbst als Flieger, sondern als Psychiater, als Psychotherapeut, als Hypnotherapeut, um den Patienten zu helfen, eine stärkere Beziehung zu sich selbst herzustellen, eine Beziehung zu ihrem Leben, zu ihrem Bewusstsein, damit sie besser kontrollieren können, was mit ihnen geschieht und wieder mehr Macht über ihr eigenes Leben gewinnen. Deshalb bin ich Psychiater geworden. Ich war also eigentlich zuerst Forscher und Entdecker, ehe ich Psychiater wurde.

Was Sie sagen, erinnert an Menschen mit Nahtoderfahrungen. Auch sie sprechen von besonders intensiven Erlebnissen und einer Art Hyperrealität. Manchmal kommt es auch zu außerkörperlichen Wahrnehmungen. Das bringt mich auf eine interessante Geschichte. Ihr Großvater, August Piccard, war ja der erste Mensch, der die Erdkrümmung tatsächlich mit eigenen Augen gesehen hat. Nun gibt es aber eine Schilderung von C. G. Jung, dem Begründer der Tiefenpsychologie. Er hatte im Jahr 1944 eine Nahtoderfahrung, nachdem er einen Herzinfarkt erlitten hatte. Er erlebte sich dabei außerhalb seines Körpers, sehr weit im Weltraum, noch viel weiter als Ihr Großvater dreizehn Jahre davor. Jung sah sieben Globen, die in herrliches Blau getaucht waren, und er gab eine sehr detaillierte Beschreibung der Erde. Er sah zum Beispiel die rot-gelbe Wüste Arabiens, den wolkenverhangenen Himalaya und, was besonders interessant ist, er beschrieb auch die Krümmung der Erde, eine leuchtende Krümmung in der Farbe von oxidiertem Silber …

PICCARD: … die extrem dünne Atmosphäre rundherum …

… ja, aber zu dieser Zeit wusste man nicht, wie die Erde aus dem Weltraum aussieht. Wie schätzen Sie sich diese Erfahrung von C.G. Jung ein? Könnte sie wahr sein? Hat er die Erde wirklich gesehen?

PICCARD: Ich denke, dass wir in unserem Leben durch den Mangel an Bewusstsein, an spiritueller Verbindung, schrecklich eingeschränkt sind. Wir sind gefangen in dem, was wir glauben, was wir sehen, was wir hören. Wir sind tatsächlich in den materiellen Gegebenheiten gefangen. 

Aber es gibt eine andere Ebene, und das ist das Interessante, die spirituelle Ebene, die über dem allen liegt, die Ebene der Transzendenz. 

Transzendenz ist für mich fundamental. Transzendenz, das heißt, eine andere Welt mit übergeordneten Gesetzen, mit einem tieferen Sinn und einer Reinheit, die uns umgibt, zu der wir normalerweise keinen Zugang finden. 

Und jeder Moment, in dem wir doch Zugang zu dieser geistigen Welt haben, ist ein gesegneter Moment, ein Moment der Gnade. 

Jung hat sich sehr intensiv mit Momenten der Synchronizität beschäftigt, mit diesen besonderen Momenten, in denen man plötzlich Antworten bekommt. Man weiß nicht, woher sie kommen, aber man erhält Antworten, Erklärungen, man bekommt Botschaften.

Es gibt auch besondere Träume, Träume mit unerklärlichen Vorahnungen. 

Nun kann man entweder sagen, das alles ist nicht real, nicht wissenschaftlich, daran glaube ich nicht – damit verliert man den Zugang zur Spiritualität. 

Oder man sagt sich, vielleicht gibt es noch etwas anderes jenseits der wissenschaftlichen erfassbaren materiellen Welt, die man kennt. Und wenn man eine Forscherseele hat, dann fühlt man sich dazu gedrängt, dieses Andere erforschen. 

Nun, Jung scheint mit seiner Nahtoderfahrung und dem, was er daraus mitgebracht hat, weit nach oben gelangt zu sein. Seine Schilderung zeigt, dass es in der Verbindung mit der spirituellen Welt wirklich keine Grenzen gibt. Jung war offensichtlich ein Eingeweihter, jemand, der sehr viel mehr entdeckt hat als ein normaler Mensch entdecken und verstehen kann. Das macht den immensen Wert seines Werkes aus.

Die meisten Nahtoderfahrenen haben die Liebe als einen Grundpfeiler der menschlichen Existenz kennengelernt. Sehen Sie das auch so? Ist die Liebe für den Menschen eine zentrale Säule?

PICCARD: Ich denke, dass mit dem Begriff Liebe viele große Missverständnisse verbunden sind. Denn um welche Liebe geht es? Um die Liebe zu sich selbst? Die Liebe zur Liebe? Die Liebe des sexuellen Verlangens? Die universelle Liebe? 

Und wenn es tatsächlich um die universelle Liebe geht, was bedeutet sie für unser Leben? Das wird uns nicht wirklich beigebracht. Vielleicht spricht man in der Kirche davon, aber es bleibt sehr theoretisch. Man sagt uns, wir sollen alle Menschen lieben. In Ordnung, aber was bedeutet das konkret? 

Ich benutze hier lieber das Wort Mitgefühl, denn Mitgefühl kann man auch für jemanden empfinden, den man nicht mag. Mitgefühl bedeutet zu verstehen, dass der andere auf seinem Lebensweg ist und versucht, das Beste aus dem zu machen, was er hat. Manchmal hat er nicht viel, und es gelingt ihm nicht gut. Aber er versucht es. 

Man kann sogar Mitgefühl für Menschen haben, die entsetzliche Fehler machen. Man kann sich sagen: Ja, sie haben versagt, aber sie haben es versucht. Sie hatten vielleicht nicht die richtige Erziehung, sie hatten nicht die richtige Charakterstärke und sie haben sich völlig verrannt. Trotzdem kann man Mitgefühl und Respekt für andere haben. 

Man muss nicht unbedingt jeden Menschen im wahrsten Sinne des Wortes lieben, aber man kann ihn respektieren, man kann ihm Aufmerksamkeit schenken, ihm wohlwollend begegnen. Und das ist für mich viel konkreter. 

Wer sagt, dass er alle Menschen liebt, erzeugt auch Widerstand. Die Leute entgegnen: „Okay, ich kann nicht jeden lieben“. Aber wenn man den anderen respektiert, ihm sein Wohlwollen zeigt und Mitgefühl für ihn hat, dann ist das meiner Meinung nach viel konkreter, praxisorientierter – und auch machbar.

Zeigt diese Haltung vielleicht die wahre Liebe?

PICCARD: Ich denke jedenfalls, dass echtes Mitgefühl viel mehr ist als nur die Hinwendung zu einer Person.

Man könnte vielleicht sagen, dass Mitgefühl ein Teil der Liebe ist, der wahren Liebe. Und nicht umgekehrt, dass die Liebe ein Teil des Mitgefühls ist. –

Herr Dr. Piccard, Sie hatten auch regelmäßig mit Menschen zu tun, die es schwer im Leben haben, viel schwerer als andere. Haben Sie eine allgemeine Erklärung für die Ungerechtigkeiten in dieser Welt? Warum gibt es Ungerechtigkeit?

PICCARD: Das ist eine Frage, die ich mir auch stelle, und ich habe keine Ahnung, warum das so ist. Ich finde es empörend. 

Aber ich denke, wir sollten begreifen, dass es in einer Welt, die in Materie verkörpert ist, nur Dualität geben kann. Es gibt keine Einheit in dieser Welt, es gibt nur Dualität. Es gibt Tag und Nacht, gut und böse, Krieg und Frieden, weiß und schwarz, links und rechts, Himmel und Erde. Alles hat letztlich zwei Seiten, daher gibt es auch Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Es gibt Liebe und Hass, es gibt all diese Extreme, und sie sind Teil der Schöpfung, die wir wahrnehmen und in der wir leben. 

Man kann keine Münze mit nur einer Seite haben. Sie hat notwendigerweise zwei Seiten. Es gibt also Ungerechtigkeit und es gibt Gerechtigkeit. 

Und was hat das zur Folge? 

Nun, es bedeutet, dass diese materielle Welt, die in der Dualität verkörpert ist, nicht jeden glücklich macht. Es ist eine Welt, in der die einen Glück haben und die anderen Pech, und in der wir nicht als ideal empfinden. Deshalb haben die ältesten Philosophien, wie zum Beispiel der Taoismus, immer gelehrt, die Extreme zu vereinen, um die Einheit zu finden.

Man kann auch eine Verbindung zu den Begriffen des Christentums herstellen – und versuchen, zu jenem ursprünglichen Zustand zurückzukehren, den es vor der Erbsünde gab. Denn der Begriff Erbsünde kann als „Fall aus der Einheit in die Dualität der Materie“ betrachtet werden. So verstehe ich ihn.

Was also folgt daraus? 

Sollen wir sagen: Okay, wir leben hier in der Dualität und kämpfen mit anderen, um reicher und glücklicher zu werden, mehr Dinge als sie zu besitzen? 

Oder sollen wir uns sagen: Nein, das ist nicht die Welt, nach der wir uns sehnen. Versuchen wir also, einen spirituellen Weg zu finden, um das Materielle zu überwinden, um unsere Seele zu befreien, die in dieser Dualität gefangen ist. Versuchen wir, die Einheit wiederzufinden! Das hat der Taoismus gelehrt, darin lag die taoistische Suche. Vergleichbares haben dann die Alchemisten gezeigt. Was ist die kosmische Hochzeit der Alchemisten? Es ist der Versuch, die Extreme zu vereinen, um die Einheit wiederherzustellen, oder, mit anderen Worten, den Zustand vor der Erbsünde wieder zu finden.

Ich glaube, dass wir nur so diese schrecklichen Extreme, die wir in unserer Welt sehen, überwinden können.

Das Gold des Alchemisten finden …

PICCARD: Alle Schrecken dieser Welt sind darauf zurückzuführen, dass wir in der materiellen Dualität leben. Und das ist nicht der Ort unserer Sehnsucht.

Man kann kämpfen oder den spirituellen Weg gehen. David Brooks, ein Kolumnist der New York Times, unterscheidet zwei Arten von Menschen. Es gibt diejenigen, die andere Menschen glänzen lassen, sich für sie interessieren und ihnen zeigen, dass sie wahrgenommen werden. Und es gibt andere, die ihre Mitmenschen niedermachen. Welcher Typ überwiegt wohl in unserer Gesellschaft?

PICCARD: Ich glaube, dass wir in jedem Moment des Lebens die Wahl haben. Es gibt einen Zusammenhang, der sich aus naturwissenschaftlicher Sicht in den Gesetzen der Physik zeigt, ein Kontinuum zwischen Materie und Energie. Sie können mehr Materie haben oder mehr Energie. Eine stärkere Schwingung, eine höhere Energiequalität bedeutet weniger Materie, und umgekehrt bedeutet eine niedrigere Schwingungsqualität mehr Materie. 

Mit unserem Leben auf diesem Planeten ist es ähnlich, wenn immer wir wählen, wie wir uns verhalten. Wenn man tiefer geht, nehmen die Schwingungsqualitäten ab. Das können Sie mit Hass, Rache, Gewalt oder Egoismus erreichen. All das sind niedrige Schwingungsqualitäten, die Sie zu mehr Materie führen, also an die materielle Welt binden.

Oder Sie können versuchen, zu einer höheren Energiequalität zu gelangen. Das gelingt mit Wohlwollen, Respekt, Bewusstsein, Mitgefühl, Weisheit. Das bringt Sie in einen höheren energetischen Zustand. Und wenn Sie diesen Zustand erleben, bedeutet das gleichzeitig, dass sie sich besser fühlen. 

Wenn Sie sich in eine niedrige Schwingungsqualität begeben, die mit Rache oder Gewalt zu tun hat, was empfinden Sie im Nachhinein? Sie werden sich nicht wirklich besser fühlen!

Zusammenhänge zwischen dem inneren Befinden und physischen Gegebenheiten widerspiegelt auch die Sprache, etwa, wenn jemand sagt: „Ich fühle mich schwer“ …

PICCARD: Ja, aber es gibt ein Problem: Sobald man über solche Dinge spricht, denken viele Leute, es ginge um Religion. Und weil es so viele unterschiedliche Konfessionen gibt, entgegen sie auch gleich, dass Religion für das gesellschaftliche Zusammenleben keine Rolle spielen sollte. Man fordert, dass es in der Schule keinen Religionsunterricht geben sollte, und auch an der Universität muss man heute sehr darauf achten, keine religiös wirkenden Aspekte einzubringen.

Aber es geht nicht um Religion, sondern um Spiritualität! Das ist etwas völlig anderes. 

Die Gesellschaft versucht sich von religiösen Dogmen zu lösen, sich von der oft perversen Macht der offiziellen Religionsgemeinschaften zu befreien. Aber leider hat man die Spiritualität zusammen mit den Konfessionen auf den Müll geworfen. Man hat das Kind mit dem Bad ausgeschüttet. Man hat nicht erkannt, dass Spiritualität etwas anderes ist als Religion.

Spiritualität ist der Weg, auf dem sich alle unterschiedlichen Religionen treffen könnten, auf dem sie einander verstehen und miteinander sprechen könnten. Spiritualität ist etwas absolut Grundlegendes, etwas Vereinendes, während Religionen trennend wirken.

Sehen Sie auch eine Möglichkeit, Spiritualität in die Wissenschaft einzubringen? Denn diesen Ansatz gibt es hier derzeit ja gar nicht.

PICCARD: Wir müssten damit beginnen, ihn schon in die Erziehung und in das Bildungssystem zu integrieren. 

Albert Einstein war zum Beispiel ein spirituell extrem fortgeschrittener Mensch. Er hat sowohl über Spiritualität als auch über Wissenschaft gesprochen. Bei ihm gab es keinen Gegensatz zwischen Wissenschaft und Spiritualität.

Dieser Gegensatz wird nur in unserer heutigen Gesellschaft erzeugt, schon durch die Erziehung, die auf Kurzfristigkeit, persönliche Vorteile, auf Reichtum und auf das Streben nach Glück ausgerichtet ist – ohne zu verstehen, was Glück wirklich ist –, und in der spirituelle Werte keine Rolle spielen.

Spirituellen Werte können universell wirken. Sie können zusammenführen, anstatt zu spalten, wie es die Religionen tun. Dieser Aspekt ging unserer Gesellschaft verloren – und ich glaube, dass es auch deshalb so viele Selbstmorde unter jungen Menschen gibt, so viele Depressionen und Ängste. Die Beziehung zwischen dem Menschen und der transzendenten Welt ging verloren, die Beziehung zu einer höheren Welt, die über das Alltagsleben hinaus führt, die dem, was man erlebt, einen Sinn verleiht. 

Dabei geht es nicht um die Frage, ob Gott existiert oder nicht. Es ist unwichtig, ob man ein Atheist oder ein gläubiger Mensch ist. Es geht einfach um persönliche Erfahrungen, um das bewusste Erleben im gegenwärtigen Augenblick.

Herzlichen Dank für dieses Interview! Alles Gute für Ihre weitere Zukunft – für Sie persönlich und für Ihre Arbeit, mit der Sie auch anderen Menschen helfen und sie inspirieren. Vielen Dank!

Interview (Original in französischer Sprache): Reto Eberhard Rast
Redaktion, Übersetzung: Werner Huemer