Tom Hoopers beeindruckende Musical-Verfilmung „Les Misérables“
• Toulon, Frankreich, die Zeit Napoleons, wir schreiben das Jahr 1815: Jean Valjean (Hugh Jackman) hat die letzten 19 Jahre seines Lebens im Gefängnis verbracht – fünf Jahre wegen Diebstahl eines Brotes, 14 Jahre wegen diverser Fluchtversuche. Jetzt ist Sträfling Nummer 24601 frei. Polizeiinspektor Javert (Russel Crowe) übergibt ihm seine Papiere – den gelben Pass, den Ex-Sträflinge auf Bewährung erhalten.
Doch es ist nicht leicht für Jean Valjean, ein neues Leben zu beginnen, eine Arbeit zu finden oder auch nur ein Quartier für die Nacht. Einzig der Bischof von Digne hat Mitleid mit ihm, erkennt den Menschen hinter dem Fremden mit dem verräterischen gelben Pass und nimmt ihn bei sich auf. Valjean isst sich satt, aber in seiner Not nützt er nachts die verführerische Gelegenheit, die sich ihm hier bietet: Er entwendet kostbares Silber und flieht damit – kommt jedoch nicht weit, wird abermals als Dieb gefasst und dem Bischof gegenübergestellt. Valjean drohen damit weitere Jahre im Gefängnis. Er scheint das lebende Beispiel für die eindimensionale Weltsicht des Polizeiinspektors Javert zu sein: Einmal Dieb – immer Dieb; Menschen, die gegen das Gesetz handeln, ändern sich nicht.
Der Bischof jedoch rettet Valjean, indem er erklärt, er habe ihm das Silber geschenkt – und übergibt ihm vor den Augen der Häscher noch zwei silberne Kerzenleuchter, die er „vergessen“ habe. Zum Abschied aber ermahnt er Valjean, sein Leben gründlich zu ändern. Und diese Erfahrung verwandelt den Ex-Sträfling tatsächlich für immer …
Damit ist das Kernthema der großartigen Verfilmung des weltbekannten Musicals „Les Misérables“ nach dem gleichnamigen Roman von Victor Hugo (1802–1885) umrissen: Nicht der gesellschaftliche Status und nicht die Buchstaben des Gesetzes definieren den Wert eines Menschen, sondern dessen Herzensgüte.
Valjean wird in der Folge immer wieder auf Javert treffen, er wird sich gesellschaftlich emporgearbeitet haben, er wird sein großes Herz für andere bewiesen haben, seine Aufrichtigkeit und Nächstenliebe, und trotz unwürdigster Behandlung auch den völligen Verzicht auf Hass und Rache – und dennoch wird Javert in Valjean immer nur die Nummer 24601 sehen, das Schandmal, das dem Brotdieb im Gefängnis einst für immer auf die Brust gebrannt worden war.
Letztlich aber, wenn Javert sich selbst nicht mehr erträgt, wird doch nicht die Härte des dogmatisch am Gesetzes haftenden Verstandes siegen, sondern schlicht die Menschlichkeit.
Valjeans Schicksalfäden verknüpfen sich in seinem bewegten Leben unter den „Elenden“ der Gesellschaft mit denen der armen Arbeiterin Fantine (Anne Hathaway wurde für ihre Darstellung mit einem Oscar ausgezeichnet), ihrer Tochter Cosette (Amanda Seyfried) – und mit denen der Studenten, die in ihrem aussichtslosen Barrikadenkampf für eine gescheiterte Revolution sterben. Am Ende aber, als er im Schein der silbernen Kerzenleuchter des Bischofs für Cosette ein Geständnis zu Papier bringt, haben sich für den alten Valjean glücklich alle Knoten gelöst, und er folgt denen, die ihm schon vorangegangen und nun gekommen sind, um auch ihn in eine lichtere Welt heimzuholen …
Es gibt nur wenige Musikfilme, bei denen die Verbindung von Schauspiel und Gesang so nahtlos gelungen ist und so überzeugend wirkt wie in diesem Werk des britischen Regisseurs Tom Hooper („The King‘s Speech“). Das liegt zum einen wohl an der Musik des französischen Komponisten Claude Michel Schönberg, dessen Musical „Les Miserables“ an sich ein „Soundtrack“ par excellence ist, zum anderen aber auch an der Tatsache, daß Hooper seine Schauspieler live singen ließ und auf das sonst in Musikfilmen übliche Playback-Verfahren weitgehend verzichtete. Genießer, die sich vom Wohlklang eines Musiktheater-Epos gern mit geschlossenen Augen umwehen lassen, werden deshalb möglicherweise irritiert sein: Weder ist Hugh Jackmann ein wirklich herausragender Sänger, noch ist Russel Crowe ein wirklich hörenswerter Sänger. Beide stoßen an ihre Grenzen oder geraten bisweilen auch darüber hinaus. Aber ihre beeindruckende Authentizität im Ausdruck macht solche kleinen Defizite bei weitem wett, man nimmt sie sogar gern in Kauf – einmal abgesehen davon, dass sich das Kennerohr an Amanda Seyfried anstandslos erfreuen kann und auch Anne Hathaway in ihrer Zerbrechlichkeit darstellerisch wie stimmlich begeistert.
Das Musical „Les Misérables“ („Die Elenden“) feierte 1980 seine Uraufführung in Paris, die Broadway-Premiere fand am 12. März 1987 statt. Hier wurde das Stück – eines der erfolgreichsten Musicals der Welt – bis 2003 gespielt. Pläne für eine Verfilmung gab es schon lange; konkret wurden sie allerdings erst im Jahr 2011, als Tom Hooper und Drehbuchautor William Nicholson („Gladiator“) mit dem Projekt betraut wurden.
Zweifellos ist den beiden ein Meilenstein in der Geschichte des Musikfilms gelungen.
(2012; 157 Minuten)