19. April 2024

Die Veränderung des Seelen-Hintergrunds

Richard LaGraveneses berührendes Filmdrama „Freedom Writers“

Was macht eine engagierte junge Lehrerin angesichts einer Horde von Jugendlichen, die am Unterricht völlig desinteressiert ist, die Schulstunden nur irgendwie absitzen will und sich täglich in neue Gewaltexzesse und Bandenkriege verstrickt?

Als Erin Gruwell Mitte der 1990er Jahre als Englischlehrerin an der „Wilson Classical High School“ in Long Beach (Kalifornien) beginnt, muss sie erkennen, dass ihr pädagogischer Idealismus in diesem Umfeld auf eine harte Probe gestellt ist: Wie in der Stadt, regiert auch in den Klassenzimmern zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen die pure Gewalt. Verbal, mit Fäusten und mit Waffen. Ihre Lehrerkollegen haben längst kapituliert und begnügen sich damit, die lästige Pflicht ihres Berufs zu erfüllen und die völlig unmotivierten Schüler so lange zu ertragen, bis sie eines Tages dem Unterricht sowieso fern bleiben. Und die Jugendlichen ihrer Klasse nehmen sie weder als Lehrerin noch als Menschen ernst und sehen auch nicht den geringsten Sinn darin, sich mit Sprache oder gar schöngeistiger Literatur zu beschäftigen.

Doch Erin Gruwell kann und will sich nicht jenen Kollegen zugesellen, die die sozialen Verhältnisse und die pädagogischen Rahmenbedingungen beklagen und für die Jugendlichen in Wirklichkeit nur Verachtung übrig haben. Sie ist bereit, zuzuhören und bemerkt, dass hinter der Ablehnung, die ihr und dem Schulsystem entgegengebracht wird, der ebenso simple wie brutale Kampf ums Überleben steht. Fast alle ihrer Schülerinnen und Schüler haben schon mehrere Freunde oder Angehörige verloren – erschlagen, erschossen, weggesperrt. Den einzigen Halt finden sie in der Gang, der sie jeweils zugehören, und die Abgrenzung und Positionierung gegenüber Außenstehenden gehört zum ganz normalen Alltag – durch Provokationen, Straßenkämpfe oder auch „nur“ rassistische Zeichnungen.

Eines Tages entdeckt Erin Gruwell eine solche Karikatur, die in ihrem Klassenzimmer unter blödem Gegrinse von einer Bankreihe zur nächsten weitergegeben wird. Diesen Vorfall nimmt sie zum Anlass, das Wissen ihrer Schüler zu den Ereignissen in Nazi-Deutschland zu testen, denn auch dort seien Zeichnungen angefertigt worden, um bestimmte Menschen zu denunzieren, die man für alle Probleme verantwortlich gemacht und letztlich ausgerottet habe. Wem ist der „Holocaust“ ein Begriff? – Schweigen im Klassenzimmer …

Erin Gruwell gelingt es in der Folge, das Interesse ihrer Schüler an den Ereignissen im Zweiten Weltkrieg zu wecken. Denn das Schicksal der Juden – ausgegrenzt, verspottet, bedroht – erscheint ihnen plötzlich ihrem eigenen Lebensalltag sehr ähnlich. Das „Tagebuch der Anne Frank“ wird zur Schullektüre, eine Exkursion ins Simon-Wiesenthal-Zentrum in Los Angeles zum nachhaltigen Erlebnis, und zuletzt sammeln die Schüler sogar Geld, um Miep Gies zu einem Besuch einzuladen – eine niederländische Frau, die maßgeblich mitgeholfen hatte, Anne Frank und ihre Familie vor den Nazis zu verstecken.

Erin Gruwell bewegt die Schüler ihrer Klasse auch dazu, ihre eigenen Erinnerungen und Alltagserfahrungen niederzuschreiben. Einige der so entstehenden Arbeiten werden 1999 als Buch veröffentlicht – unter dem Titel „Freedom Writers“.

Dieses Buch mit dem deutschen Untertitel „Wie eine junge Lehrerin und 150 gefährdete Jugendliche sich und ihre Umwelt durch Schreiben verändert haben“ erzählt die wahre Geschichte, die der US-amerikanische Drehbuchautor und Regisseur Richard LaGravenese mit Hilary Swank in der Hauptrolle verfilmt hat. Ein sehenswertes, preisgekröntes Drama, das nicht nur sehr glaubhaft die nachhaltige Veränderung der Jugendlichen schildert (besonders eindrucksvoll: April Lee Hernández als Eva Benitez), sondern auch die persönliche Geschichte Erin Gruwells nacherzählt: Ihren Lernprozess, der sie aus idealistischer Naivität führte und zur entschlossenen Kämpferin für Veränderung machte – und die Folgen dieser Entwicklung für ihre Ehe mit Scott (Patrick Dempsey): Diese geht zu Bruch, weil ein gelungenes Miteinander von den Partnern eben auch ein ähnliches Maß an Engagement und Energie erfordert – wofür auch immer. Ein selten thematisierter, aber für das wirkliche Leben entscheidender „Seelen-Hintergrund“ …

(2007, 123 Minuten)