30. Dezember 2024

Nahtoderfahrungen: Realität oder Einbildung?

Spielen sich Nahtoderlebnisse nur im Gehirn ab? Wissenschaftliche Forschungsergebnisse stellen die Realität von Todesnähe-Erfahrungen immer wieder in Frage. Zu Recht?

Grafik © Roger Gut, Luzern

Seit die Schweizer Ärztin Dr. Elisabeth Kübler-Ross vor etwa 40 Jahren ihr Buch „Interviews mit Sterbenden“ veröffentlichte und der amerikanische Psychiater Dr. Raymond Moody 1975 in seinem Bestseller „Leben nach dem Tod“ zahlreiche Berichte über sogenannte Nahtoderlebnisse publizierte, wurde die Sterbeforschung weltweit zum Thema. Dutzende wissenschaftliche Studien konnten belegen, dass das Sterben bestimmte Stationen durchläuft und sich offenbar bei jedermann in gleicher Weise abspielt, unabhängig von Alter, Geschlecht, Bildung oder Religionszugehörigkeit. Wer an ein Weiterleben nach dem Tod glaubte, konnte in den Ergebnissen der „Thanatologie“ den langersehnten Beweis dafür sehen. Doch seit den 1990er Jahren treffen solche Ansichten auf ernstzunehmende Gegenargumente. Denn in den vergangenen 20 Jahren gewannen die Neurowissenschaften für die Erklärung des menschlichen Lebens immer größere Bedeutung, und die Gehirnforscher fanden gute Argumente dafür, dass Todesnähe-Erfahrungen nicht Realität, sondern nur Einbildung sind, hervorgerufen durch Sauerstoffmangel, stressbedingte Übererregung bestimmter Hirnareale und die Ausschüttung von natürlichen Substanzen, die eine ähnliche Wirkung wie Drogen haben. Es gelang sogar, Einzelaspekte von Nahtoderlebnissen durch die Stimulation bestimmter Bereiche der Großhirnrinde oder durch Drogen künstlich auszulösen. Ist in der „Frage aller Fragen“, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, nun also doch wieder alles offen?

Faszination „Nahtoderfahrung“

Seit das Weltbild des Menschen nicht mehr vorrangig durch den Glauben, sondern durch beweisbare und im Experiment nachvollziehbare Fakten geprägt wird, gewinnt der Materialismus immer größere Bedeutung. Was – wie das Leben nach dem Tod – nicht beweisbar ist, wird nicht ernstgenommen und deshalb oft auch tabuisiert.

So war noch das 20. Jahrhundert weitgehend geprägt von einer verbreiteten Angst, über das Sterben, den Tod und ein mögliches Leben danach zu sprechen. Wie man heute weiß, gab (und gibt) es Millionen Menschen, die ein Nahtoderlebnis hatten. Aber bis in die 1980er Jahre wagte es kaum jemand, öffentlich davon zu erzählen – wer wollte schon als Sonderling oder „Spinner“ gelten?

Dann aber öffneten wissenschaftliche Studien die Schleusen. Sie zeigten, dass Todesnähe-Erfahrungen überall auf der Welt weit verbreitet sind (allein in Deutschland dürften 3,4 Millionen Menschen ein solches Erlebnis gehabt haben), und ermunterten dazu, das Tabu rund um das Sterben zu brechen.

Die wissenschaftliche Erforschung von Nahtoderlebnissen (NTE) konnte beweisen, dass Menschen im Sterben bestimmte „Stationen“ durchleben:

• Bewusstseinsveränderung: Man wird von einer unaussprechlichen Erfahrung überwältigt, verbunden mit einem Gefühl der Ruhe und des Friedens. Körperliche Schmerzen oder Krankheiten werden nicht mehr verspürt, sogar Behinderungen sind nicht mehr vorhanden.

• Todeserkenntnis: Man erkennt, dass dieses Erleben mit dem Sterben zusammenhängt oder dass man tot ist. Oft schließt sich dieser Erkenntnis ein (manchmal unangenehmes, durchdringendes) Geräusch an.

• Ausleibigkeit: Man hat den Eindruck, seinen Körper zu verlassen, oder hat eine „außerkörperliche Erfahrung“ (AKE). In diesem Zustand werden zum Beispiel die Bemühungen der Ärzte um eine Reanimation oder eine Operation aus einer Perspektive von oben miterlebt.

• Tunnelerlebnis: Man hat das Gefühl, sich in einem dunklen Raum oder Tunnel zu befinden, in dem ein Licht sichtbar wird, zu dem man machtvoll hingezogen wird. (Zwei bis fünf Prozent der Menschen berichten, über diesen Raum nicht hinauszukommen, was manchmal als „Höllenerlebnis“ geschildert wird.)

• Außerweltliche Umgebung: Es tut sich eine überirdische Welt in herrlichen Farben, mit schönen Blumen und oft durchklungen von wundervoller Musik auf.

• Begegnung mit Verstorbenen: Man begegnet verstorbenen Verwandten oder Freunden und kommuniziert mit ihnen.

• Strahlendes Licht: Man begegnet einem strahlenden Licht, das bedingungslose Akzeptanz und Liebe vermittelt, und hat Kontakt mit tieferem Wissen.

• Lebensrückschau: Das gesamte Erdenleben wird in seinen wichtigsten Momenten panoramaartig nochmals durchlebt (und bewertet), was in einem einzigen Augenblick und ohne Distanz erfahren wird. Mitunter folgt dieser Rückschau eine Vorausschau, bei der ein Teil des künftigen Lebens überschaut werden kann.

• Grenzwahrnehmung: Eine Grenze wird wahrgenommen. Man erkennt, dass nach dem Überschreiten dieser Grenze eine Umkehr oder Rückkehr in den Körper unmöglich wäre.

• Rückkehr: Man kehrt bewusst in den Körper zurück – oft in der herben Enttäuschung, die herrliche Jenseitswelt wieder verlassen zu müssen.

Nicht jeder Mensch mit einer NTE erlebt alle diese Stationen; manche Todesnähe-Erfahrungen sind tief und komplex, andere beschränken sich auf wenige typische Aspekte. Aber die Sterbeforscher erkannten, dass diese Erlebnisse einheitlich bei allen Menschen vorkommen – ob es sich nun um Kinder oder Erwachsene handelte, um gläubige Menschen oder Atheisten, Gebildete oder Ungebildete – und unabhängig davon, welchem Kulturkreis sie zugehörten. Mehr als drei Dutzend wissenschaftliche Arbeiten kamen weltweit zu dem gleichen Ergebnis: das Phänomen tritt überaus häufig auf und ist ernstzunehmen.

Aber wie ist es zu erklären?

Ein Beweis für das Leben nach dem Tod?

Auch wenn die geschilderten Nahtoderfahrungen viele typische konfessionelle Vorstellungen von Himmel und Hölle, von Gottes Liebe oder Strafgericht nicht unterstützten, so sahen vor allem gläubige Menschen in den Forschungsergebnissen einen Beweis dafür, dass unser Leben nicht mit dem Tod endet. Für die Betroffenen selbst wird dies im Regelfall sowieso zur unumstößlichen Gewißheit: Sie verlieren, wie Studien gezeigt haben, die Angst vor dem Tod, ihr Blick auf das Leben ändert sich, Spiritualität und Religiosität spielen fortan eine große Rolle für sie, oft entfalten sich sogar besondere geistige Fähigkeiten – höhere Sensibilität, bessere Intuition, bisweilen wird auch von Heilkräften oder Hellsichtigkeit berichtet.

Menschen, die häufig mit dem Sterben zu tun haben – etwa Altenbetreuer, Krankenpfleger oder Hospizhelfer – betrachten die geschilderten Todesnähe-Erlebnisse meist ebenfalls als stimmige Ergänzung zu ihren eigenen Erfahrungen. Denn je unmittelbarer man in den Sterbeprozess eines Menschen miteinbezogen ist, desto klarer kann man miterleben, dass es sich beim Tod um einen Lösungsprozess handelt: die bewusste Seele verlässt die Körperhülle.

Die Wissenschaft indes stand der Interpretation, NTE würden ein Leben nach dem Tod beweisen, von Anfang an skeptisch gegenüber. Die erste grundlegende Kritik wies auf einen entscheidenden Schwachpunkt aller Studien hin: Diese fassten im Prinzip ja nur Schilderungen von Erlebnissen zusammen, die teilweise weit zurück in der Vergangenheit lagen. Es war im Allgemeinen nicht mehr möglich nachzuvollziehen, unter welchen Umständen die befragten Menschen ihre Erfahrungen gemacht hatten, ob sie wirklich klinisch tot gewesen waren oder welche Krankheitssymptome und Medikationen die Erlebnisse begleitet hatten.

Die Vorbehalte, dass alle diese Studien retrospektiven (rückblickenden) Charakter hatten und daher grundsätzlich nur bedingt aussagekräftig seien, konnten jedoch um die Jahrtausendwende entkräftet werden. Der niederländische Kardiologe Dr. Pim van Lommel hatte nämlich von 1988 bis 1992 die erste NTE-Studie unter kontrollierten Bedingungen durchgeführt, indem er 344 Patienten befragte, die definitiv tot gewesen waren, aber reanimiert werden konnten. 62 von ihnen konnten ein NTE schildern. Seine 2001 veröffentlichte Arbeit (in der auch die Persönlichkeitsveränderungen nach solchen Erlebnissen untersucht wurden) gab der Auffassung, NTE seien ein Beweis für das Leben nach dem Tod, entscheidenden Auftrieb. Denn bei den Menschen, die Pim van Lommel in seine Studie einbezogen hatte, hatte das Herz durchschnittlich etwa zwei Minuten lang stillgestanden. Das bedeutet, es war in der Folge des Herzstillstandes, also nach etwa 10 bis 20 Sekunden, zum Ausfall der elektrischen Aktivitäten in der Hirnrinde gekommen. Und damit war klar: die typischen NTE treten auch unter wissenschaftlich exakt kontrollierten Bedingungen auf. Und die Frage, wie diese Erlebnisse denn zu erklären seien, wurde im 21. Jahrhundert brennender denn je. Um so mehr, als es den Neurowissenschaften inzwischen gelungen war, viele Aspekte des menschlichen Lebens und Bewusstseins durch Vorgänge im Gehirn zu erklären. Neue bildgebende Verfahren halfen dabei, das Zusammenspiel der Nervenzellen unter der Schädeldecke zu beobachten, und bedeutende Gehirnforscher gelangten zu der ernüchternden Auffassung, dass alles typisch Menschliche – wie etwa der freie Wille, das Ich-Bewusstsein oder eine immateriellen Seele – nichts weiter als das Ergebnis von Prozessen im Gehirn sei, eines faszinierenden Zusammenspiels vieler Milliarden von Nervenzellen.

Auf der Grundlage dieser materialistischen Weltanschauung wurden nun zahlreiche Erklärungsansätze für die dokumentierten Nahtoderlebnisse entwickelt, während zwischen 2003 und 2006 weitere „prospektive Studien“ durchgeführt wurden, die ähnlich aufgebaut waren wie die niederländische Arbeit von Dr. Pim van Lommel. So zeigte sich beispielsweise in einer amerikanischen Studie von Bruce Greysons (2003), für die 1595 Patienten interviewt worden waren, sowie in einer englische Studie von Penny Sartori (2006) abermals, dass NTE häufig während Herzstillstand und Totalausfall aller Gehirnfunktionen dokumentiert werden können.

Nahtoderlebnisse – ein „Spiel“ des Gehirns?

Welche Bedeutung hat also das Gehirn für Nahtoderlebnisse?

Folgt man der in der heutigen Wissenschaft üblichen naturalistischen Weltauffassung, so ist das Gehirn das Zentrum unseres Menschseins und die Geburtsstätte unseres Bewusstseins. Ohne Gehirn kann es demnach kein Bewusstsein geben, und jede Bewusstseinsveränderung muss mit Vorgängen im Gehirn und im übrigen Körper zusammenhängen.

Dieser Annahme folgend wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Theorien zur Erklärung von NTE entwickelt. Die wichtigsten davon:

• Sauerstoffmangel führt zu einer Sinnestrübung bei gleichzeitiger Anregung des Sehsinns sowie zu einer kurzzeitig anormalen Gehirntätigkeit, ehe die Gehirnfunktionen schließlich total ausfallen. So könnten das „Tunnelerlebnis“ sowie das „strahlende Licht“ erklärt werden.

• Endorphin ist ein körpereigenes Morphin, das Schmerzen stillt und Wohlgefühle auslöst. Bei Stress wird es im Körper in großen Mengen freigesetzt. Dies könnte die angenehme Bewusstseinsveränderung erklären, die bei NTE geschildert wird.

• Kohlendioxid wird als Erklärung für Ausleibigkeitserlebnisse herangezogen: Bei Sauerstoffmangel steigt der Kohlendioxidgehalt im Blut. Experimente mit Testpersonen ergaben fallweise, dass diese beim Einatmen von CO2 den Eindruck hatten, ihren Körper zu verlassen.

• Elektrischer Sturm: Aus der Epilepsie-Forschung weiß man, dass es im Gehirn zu einem elektrischen „Sturm“ oder „Kurzschluss“ kommen kann. Wenn ein epileptischer Anfall in einer Hirnregion in der Nähe des Schläfenbeins (in den „Temporallappen“) ausgelöst wird, kann dies die Wahrnehmung verändern. Auch mit diesem Effekt könnten Schwebegefühle, Ausleibigkeitserlebnisse oder „Halluzinationen“ wie die außerweltliche Wahrnehmung erklärt werden.

• Dimethyltryptamin (DMT) ruft bewusstseinserweiternde Erfahrungen hervor. Dieser Stoff ist im Körper in geringen Mengen natürlich vorhanden, seine Produktion wird von bestimmten Hormonen (Kortisol, Adrenalin, Noradrenalin) angeregt. Bei starkem Stress, wie etwa bei einem Unfall, heftigem Schmerz oder Herzstillstand, setzt der Körper große Mengen dieser Hormone – und damit auch DMT – frei. Die Erlebnisse, die mit dieser „psychoaktiven Substanz“ gezielt ausgelöst werden können, erinnern stark an Nahtoderlebnisse: Es kommt zu Ausleibigkeitserfahrungen, beschleunigtem Denken, der Wahrnehmung einer außerweltlichen Umgebung, der Kommunikation mit Lichtwesen, und die Menschen verlieren infolge ihrer Erlebnisse auch ihre Todesangst. DMT kann, damit es diese Wirkungen auslöst, intravenös injiziert werden; es wird allerdings vom Körper schnell abgebaut.

Zu allen diesen physiologischen NTE-Theorien gesellen sich psychologische Erklärungsansätze. So geht man aufgrund von Erfahrungsberichten davon aus, dass das Gehirn in Todesgefahr Schutzphantasien erzeugt sowie Gedanken, die der (religiösen) Erwartung der betroffenen Person entsprechen. Insgesamt könnte es sich bei den Erlebnissen nach Ansicht mancher Forscher einfach um intensive Träume handeln.

Die Auffassung, dass Nahtoderlebnisse letztlich auf Gehirn- und Körperfunktionen zurückzuführen seien, erhielt durch die Publikation und Interpretation von Experimenten und Forschungsergebnissen weiteren Auftrieb. So wurde beispielsweise geschildert, dass sich durch die gezielte Stimulation bestimmter Gehirnregionen Erlebnisse evozieren ließen, die Teilaspekten von Nahtoderfahrungen ähnelten. Beispielsweise gelang es dem Neurochirurgen Wilder Penfield während Gehirnoperationen an Epilepsie-Patienten, Erinnerungssequenzen sowie Licht- und Geräuschwahrnehmungen künstlich hervorzurufen. In anderen Versuchen ließen sich kontrolliert Ansätze für außerkörperliche Erfahrungen stimulieren, und zwar sowohl elektrisch, als auch durch den Einsatz von Ketamin, einem Medikament, das früher für die Anästhesie benutzt wurde und das durch die Blockade bestimmter Rezeptoren im Gehirn Halluzinationen auslösen kann.

Bewusstsein besteht unabhängig vom Körper

Stellen diese Erklärungsmöglichkeiten in Summe nicht tatsächlich vehement die Auffassung in Frage, Nahtoderlebnisse wären schlüssige Beweise für ein Weiterleben der Seele oder des menschlichen Bewusstseins?

Wie schon erwähnt: Allen diesen Erklärungen ist gemeinsam, dass sie von einem materialistischen Weltbild ausgehen und die Grundannahme stützen wollen, das Gehirn sei das Zentrum des Menschen und ein Bewusstsein ohne Gehirntätigkeit unmöglich. Alle Interpretationen von Forschungsergebnissen, die dieses Paradigma in Frage stellen, werden daher von vornherein nicht wirklich ernstgenommen oder in ihrer Tragweite bezweifelt.

Genau in diesem Dilemma stecken nun auch die Ergebnisse der Sterbeforschung, insbesondere der jüngsten Studien, die sich auf Patienten beschränken, die nachweislich klinisch tot, also minutenlang ohne Herz- und Hirnfunktion waren. Bei näherer Betrachtung zeigen solche Umstände nämlich, dass praktisch alle – oft allzu leichtfertig als „Erklärung“ präsentierten – materialistischen NTE-Theorien nicht stichhaltig sind.

Sauerstoffmangel beispielsweise kann man als Ursache für Todesnähe-Erfahrungen aus mehreren Gründen ausschließen: Bewusstseinsveränderungen, die auf akuten Sauerstoffmangel im Gehirn zurückzuführen sind, gehen im allgemeinen mit Verwirrung, Angst, Gedächtnisstörungen und eingeschränktem Sprachvermögen einher. Davon jedoch kann bei NTE keine Rede sein – im Gegenteil: die Erfahrungen der Betroffenen sind klar, gut erinnerbar und werden ohne Einschränkung der intellektuellen Leistung geschildert. Außerdem kommt es häufig auch ohne Sauerstoffmangel zu Todesnähe-Erlebnissen, etwa während eines drohenden Unfalls oder bei starken Depressionen.

Die Ausschüttung von Endorphinen greift als NTE-Erklärung ebenfalls zu kurz. Zwar wirken Endorphine tatsächlich schmerzstillend und das Wohlergehen fördernd, aber diese Wirkung hält im Körper stets mehrere Stunden an, während bei einer Nahtoderfahrung das besondere friedliche Gefühl sofort nach dem Erwachen wieder verschwunden ist. Außerdem können die wichtigsten Elemente einer NTE – Ausleibigkeit, die Wahrnehmung einer außerweltlichen Umgebung oder die Kommunikation mit verstorbenen Menschen – durch Endorphine nicht hervorgerufen werden. Gleiches gilt für die Wirkung von Kohlendioxid.

Auch was durch gezielte elektrische Stimulation bestimmter Gehirnregionen tatsächlich erreicht werden kann, wirkt bei näherer Betrachtung eher bescheiden.

Der niederländische Kardiologe Dr. Pim van Lommel beschäftigte sich beispielsweise ausführlicher mit den geschilderten Epilepsie-Behandlungen von Dr. Wilder Penfield. Er schreibt dazu in seinem Buch „Endloses Bewusstsein“: „In all den Jahren, in denen Penfield viele Hundert Patienten behandelte, kam es nie zu einer wirklich außergewöhnlichen Erfahrung mit verifizierbaren Wahrnehmungen, und kein einziger seiner Patienten schilderte einen Veränderungsprozess. Die Wirkung dieser Stimulation scheint in vielerlei Hinsicht nicht mit einer NTE vergleichbar zu sein!“

In dieser Stellungnahme sprach van Lommel eines der bemerkenswertesten Phänomene im Rahmen der von ihm dokumentierten Nahtoderlebnisse an, für die es bis heute keine wissenschaftliche Erklärung gibt: Was betroffene Menschen während ihrer Ausleibigkeit erleben – den eigenen Körper sowie Menschen und Szenerien, die sie von oben beobachten –, konnte in vielen Fällen von anderen Beteiligten bestätigt werden.

Der niederländische Kardiologe nahm auch noch andere wissenschaftliche Berichte unter die Lupe, etwa die durch einen Beitrag im Wissenschaftsmagazin „Nature“ bekannt gewordenen Arbeiten von Olaf Blanke. Dieser Forscher hatte im Jahr 2002 erstmals beschrieben, dass bei einer Patientin nach einer elektrischen Stimulation eine „bruchstückhafte außerkörperliche Erfahrung“ aufgetreten sei, bei der sie ein verzerrtes Bild ihrer Unterschenkel wahrgenommen hatte. Van Lommel: „Im Titel seines Artikels im Magazin ,Nature‘ stand jedoch, es sei ihm gelungen, die Gehirnregion zu lokalisieren, die außerkörperliche Erfahrungen auslöse. Dieser Artikel erhielt weltweite Beachtung in der Presse und erregte vorschnell großes Aufsehen.“

Van Lommel kritisierte besonders die weitreichenden Schlüsse, die aus der Beobachtung einiger weniger Fälle gezogen wurden, und kam in seiner Betrachtung zu dem Ergebnis, dass „von den Tausenden mit Stimulation behandelten Epilepsiepatienten keiner von einer wirklichen außerkörperlichen Erfahrung berichtet“ hatte.

Somit entlarvt sich die bis heute oft ins Treffen geführte „Erklärung“, ein elektrischer Sturm wäre die Ursache für Nahtoderfahrungen, im Grunde eher als ein willkommenes „Wunschargument“ für alle, die nicht an ihrem materialistischen Weltbild rütteln wollen. Denn dieses steht durch die Ergebnisse der Sterbeforschung auf dem Prüfstand: Wenn klare Bewusstseinserlebnisse just in einem Zustand möglich sind, in dem das Gehirn nachweislich nicht mehr arbeiten kann, dann bedeutet das nichts anderes, als dass unser Bewusstsein auch unabhängig vom Körper weiterbesteht.

Auf der Suche nach einem neuen Menschenbild

Zu diesem Schluss kamen – mehr oder weniger deutlich – viele Sterbeforscher, die in den letzten Jahren große prospektive Studien begleiteten und publizierten. In einem Beitrag für die Zeitschrift „The Lancet“ formulierte Dr. Pim van Lommel: „Wissenschaftliche Studien zum Phänomen NTE machen uns die Grenzen unserer heutigen medizinischen und neurophysiologischen Vorstellungen von den unterschiedlichen Aspekten des menschlichen Bewusstseins und der Beziehung des Gehirns zu Erinnerung und Bewusstsein deutlich“.

Der amerikanische Forscher Bruce Greyson zog unter anderem folgendes Fazit: „Wenn klare Wahrnehmungen und die damit verbundenen komplexen Wahrnehmungsprozesse in einer Phase möglich sind, in der der klinische Tod des Patienten eindeutig nachgewiesen ist, gerät die Vorstellung, das Bewusstsein sei ausschließlich im Gehirn lokalisiert, ins Wanken.“

Der bekannte Sterbeforscher Sam Parnia schrieb (gemeinsam mit seinem Kollegen Peter Fenwick) in einem Resümee: „Die Daten legen nahe, dass die NTE in einer Zeit der Bewusstlosigkeit entsteht […] Komplexe Erfahrungen, wie sie nach einer NTE beschrieben werden, können zu einem solchen Zeitpunkt entweder nicht zustande kommen oder nicht in Erinnerung bleiben. Man würde bei solchen Patienten auch keine subjektiven Erfahrungen erwarten, weil alle Gehirnzentren, die bewusste Erfahrungen generieren, gerade wegen des aufgetretenen Sauerstoffmangels ausgefallen sind.“

Und die Engländerin Penny Sartori, ebenfalls Leiterin einer großen NTE-Studie, folgert: „Solange wir in der gängigen wissenschaftlichen Perspektive verharren, dass Bewusstsein eine Nebenerscheinung neurologischer Prozesse ist, bleibt die NTE ein unerklärliches Phänomen!“

Aus diesem Grund sind viele kritische Forscher nun auf der Suche nach einem neuen Menschenbild und stellen zentrale „Selbstverständlichkeiten“ der Hirnforschung in Frage – beispielsweise eben die Annahme, dass aus den Vorgängen im Nervensystem des Menschen Bewusstsein entstehen kann. Dies ist nämlich – entgegen der allgemein verbreiteten Auffassung – nur eine Vermutung, für die es bis heute keinerlei Belege oder Beweise gibt.

Zwar konnte durch bildgebende Verfahren in den letzten Jahrzehnten schlüssig nachgewiesen werden, dass ein konkreter Zusammenhang zwischen registrierten Aktivitäten im Gehirn und bestimmten Bewusstseinserfahrungen besteht. Aber ist nun diese Bewusstseinserfahrung tatsächlich immer eine Folge der Gehirnaktivität – oder ist nicht umgekehrt die Gehirnaktivität eine Folge des Bewusstseins? Diese Frage kann nach dem heutigen Stand der Forschung niemand allgemeingültig beantworten. Lässt man jedoch beide Möglichkeiten offen, so sprechen die Ergebnisse der Sterbeforschung klar dafür, dass das Gehirn eben nicht Bewusstsein erschafft, sondern dass es dem Bewusstsein ermöglicht, auf der körperlichen Ebene tätig zu werden. Das Gehirn wäre demnach, den Worten von Professor John C. Eccles (1903–1997) folgend, „ein Bote des Bewusstseins“.

Dieser Gedanke ist nicht neu. Er wurde in letzter Zeit lediglich in den Hintergrund gedrängt, weil die Neurowissenschaften faszinierende Erkenntnisse über die Zusammenhänge zwischen Gehirntätigkeit und Bewusstseinserfahrungen dokumentierten. Das naturalistische Menschenbild, das uns als komplexe biologische Maschine darstellt, erhielt dadurch beachtlichen Auftrieb und fand, als handle es sich um eine erwiesene Tatsache, auch vielfach Eingang in die Literatur oder die Filmkunst – und damit in das allgemeine Weltbild. So ist es in modernen Science-fiction-Romanen oder -Filmen oft eine Selbstverständlichkeit, dass computergesteuerte Roboter auch Bewusstsein entwickeln können oder dass die Gedanken- und Empfindungswelt des Menschen mechanisch manipulierbar ist.

Kritischen Forschern gehen solche kühnen Schlussfolgerungen viel zu weit. Denn zwischen einem bestimmten neuronalen Zustand, wie er in Gehirnscans beobachtet werden kann, und dem konkreten Gemütszustand eines Menschen klafft eine unüberwindbare Lücke. Aus der Aktivität einzelner Gehirnregionen lässt sich praktisch nichts über den Gehalt von Gedanken oder Empfindungen aussagen. Es gibt keinen Nachweis dafür, dass neuronale Netze in der Lage wären, die Vielfalt unserer Innenwelt hervorzubringen – das also, was unser Leben und Bewusstsein eigentlich ausmacht. Einige Forscher bezweifeln aufgrund mathematischer Berechnungen sogar, dass das Gehirn allein in der Lage wäre, alle Erinnerungen unseres Lebens und die damit verknüpften Gedanken und Empfindungen zu speichern. Kurzum: Über den Geist, das Wesen des menschlichen Bewusstseins, ist nach wie vor nur wenig bekannt.

Vielleicht werden die Ergebnisse der Sterbeforschung künftig in die Suche nach einem neuen Menschenbild münden, in dem auch nicht-physische Wirklichkeiten eine Rolle spielen und in dem die traditionelle Vorstellung, dass unser Körper von einem Geist oder einer Seele „belebt“ wird, neuen Aufschwung erfährt.

Eine Frage des Blickwinkels

Lässt man die Möglichkeit zu, dass Bewusstsein auch unabhängig von einem materiellen Träger oder „Empfangsorgan“ (dem Gehirn) existiert, dann wären außerkörperliche Bewusstseinserfahrungen, also seelische Erlebnisse ohne Gebundenheit an den physischen Körper, jedenfalls nichts Ungewöhnliches, sondern durchaus normal. Allerdings müsste man davon ausgehen, dass solche Erfahrungen üblicherweise durch eine „Blockade“ unterdrückt werden, da sie für das normale Alltagsleben unzweckmäßig sind und eben auch nur von wenigen Menschen in besonderen Situationen erlebt werden.

Aus diesem Blickwinkel könnte man annehmen, dass Dimethyltryptamin (DMT) dafür sorgt, dass diese Blockade überwunden und die Bindung des Bewusstseins an die Gehirnfunktionen sozusagen gelockert wird. Der Geist kann sich dadurch außerhalb des Körpers erleben. Die Wirkung von DMT würde demnach also nicht darauf hinweisen, dass Nahtoderlebnisse beziehungsweise außerkörperliche Erfahrungen nur „im Gehirn“ stattfinden, sondern sie könnte zum chemischen Mechanismus gehören, der solche Erlebnisse ermöglicht.

Dabei dürfte auch der Zinkspiegel im Körper eine Rolle spielen, denn das Metall Zink ist für die Synthese des Neurotransmitters Serotonin erforderlich, der unter anderem in DMT umgewandelt werden kann. Erst unter außergewöhnlichen Umständen, wie eben angesichts des Todes oder durch gezielte DMT-Injektionen, steigt der Spiegel dieser körpereigenen Droge so weit, dass die natürliche Blockade überwunden und ein erweitertes Erleben möglich wird.

Diese Theorie erklärt möglicherweise auch, weshalb, wie die Studien gezeigt haben, ältere Patienten tendenziell seltener von einer NTE berichten: Mit fortschreitendem Alter sinkt der Zinkspiegel im Körper.

Im Übrigen spielt in der Frage, weshalb sich manche Menschen an Todesnähe-Erlebnisse erinnern und andere nicht, offenbar das Kurzzeitgedächtnis eine wichtige Rolle. Funktioniert es gut – etwa dann, wenn ein Patient nach seiner Reanimation nicht tagelang im Koma lag und künstlich beatmet werden musste –, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass er von einer NTE berichtet, signifikant höher als beispielsweise nach einer schweren Gehirnerschütterung, einem Schlaganfall oder wochenlangem Koma.

Das bedeutet, dass vielleicht – ähnlich wie bei unseren nächtlichen Träumen – jeder Mensch an der Schwelle zum Tod die geschilderten Stationen durchlebt, dass sich aber viele einfach nicht daran erinnern können. Dennoch sind NTE prinzipiell kaum mit Träumen zu vergleichen, denn intensive Träume ereignen sich in den sogenannten REM-Schlafphasen (von „Rapid-Eye-Movements“ = Schlafphase, die von außen durch schnelle, ruckartige Augenbewegungen erkennbar ist), in denen das Gehirn nachweislich sehr aktiv ist, während NTE auch in Phasen ohne Gehirnaktivität erlebt werden können. Außerdem ziehen Träume, so intensiv sie sein mögen, üblicherweise keine gravierenden, anhaltenden Verhaltensänderungen nach sich, während genau das bei Todesnähe-Erlebnissen geschieht, weil diese ungleich eindringlicher und lebensnäher erfahren werden als Träume und intensiver selbst als das tagbewußte irdische Leben.

Bei näherer Betrachtung zeigt sich also, dass keine der so häufig vorgebrachten materialistischen Theorien wirklich erklären kann, was bei Nahtoderlebnissen geschieht. Nach wie vor sind solche Erfahrungen ein fundierter Hinweis darauf, dass unser Leben mit dem Tod nicht endet, und dass wir Menschen, wie es in allen bedeutenden Religionen und Weisheitslehren zum Ausdruck kommt, nicht allein unser Körper sind, sondern dass wir diesen Körper nur vorübergehend beleben …

Grafik © Roger Gut, Luzern