19. März 2024

Obskurantismus oder: Denken unter dem Tellerrand

Flacherdler, Verschwörungstheoretiker, Corona-Leugner, Religiöse Fanatiker, die von der physischen Unsterblichkeit überzeugt sind … Meinungen und Weltbilder, die wissenschaftliche Erkenntnisse in Zweifel ziehen oder wissenschaftlich orientiertes Denken überhaupt ablehnen, machen zunehmend von sich reden. Und manchmal sieht es so aus, als ob der Obskurantismus, eine längst überholt geglaubte Denkhaltung, wieder in Mode kommt. Versuch eines Blicks unter die Oberfläche.

Ursprünglich wurde der Begriff des „Obskurantismus“ im Zusammenhang mit der Epoche der Aufklärung geprägt. Seit etwa 400 Jahren versucht der Mensch ja, die Welt durch wissenschaftliche Erkenntnisse zu erfassen. Man wollte nicht mehr einfach nur etwas glauben. Statt dessen begann man, Fragen an die Natur zu stellen, also Experimente zu entwickeln und Theorien zu formulieren, die durch die „Antworten“ der Natur bestätigt oder widerlegt werden sollen.

Doch dieses damals revolutionäre Konzept eines Wissens-Fortschritts durch Vernunft und rationales Denken fand nicht nur Zustimmung. Anhänger der Metaphysik oder religiöser Überlieferungen richteten sich gegen die Aufklärung – und wurden von deren Vertretern deshalb als „Obskuranten“ bezeichnet, als Menschen, die lieber am Obskuren, Zweifelhaften, Fragwürdigen festhalten als auf wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn zu setzen.

Heute werden mit dem Begriff „Obskurantismus“ Bestrebungen bezeichnet, die den Menschen in Unwissenheit halten und sein selbständiges Denken verhindern oder in die Irre führen (wollen).

Ich gehe davon aus, dass niemand freiwillig gern ein „Obskurant“ ist, ein – wie Meyers Konversationslexikon im Jahr 1888 diesen Begriff definierte – „Finsterling“, der die wissenschaftliche Aufklärung vom Menschen fern halten will.

Wie kommt es also, dass diese Denkhaltung – trotz aller Erfolgen der Wissenschaften in Medizin und Technik – heute offenbar immer noch verbreitet ist?

„Und die Erde ist doch flach …“

Im Jahr 2018 veröffentlichte der Film-Streaming-Dienst „Netflix“ eine bemerkenswerte und in der Folge mehrfach ausgezeichnete Dokumentation des US-amerikanischen Fernsehregisseurs Daniel J. Clark. „Behind the curve“, so der Originaltitel, zeigt dem bass erstaunten Otto Normalverbraucher, wie Menschen leben und ticken, die allen astronomischen Erkenntnissen, allen Foto- und Videodokumenten und auch der Raumfahrt zum Trotz davon überzeugt sind, dass die Erde nicht rund, sondern flach ist. 

Was die Wissenschaft, unterstützt von der NASA, der ganzen Menschheit vorgaukle, sei eine einzige große Lüge, die der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung widerspreche. 

Die Glaubensgemeinschaft der „Flacherdler“ ist, wie Clark in seinem Film zeigt, erstaunlich groß, international gut vernetzt und einem bunten Merchandising verbunden. Die Szene hat ihre Stars, ihre eigenen Tagungen und erfreut sich in gegenseitiger Bestärkung des Gefühls, eine globale Verschwörung aufgedeckt zu haben und das wahre Wissen zu besitzen.

Die deutsche Übersetzung der Filmdokumentation trägt den Titel „Unter dem Tellerrand“. Treffend, wenn man ihn auf eine Denkhaltung bezieht, die eben nicht über den eigenen Tellerrand hinaus blicken kann oder will. 

Der „Tellerrand“ steht für die intellektuelle Wohlfühlzone des Menschen und die dazu passenden Meinungen. 

Fakten, die nicht mit dem in Einklang stehen, was unmittelbar vertraut oder erstrebenswert erscheint, was leicht begriffen oder geglaubt werden kann, werden entweder einfach ausgeblendet oder mit Totschlag-Argumenten unterlaufen. Etwa mit der Aussage, dass Wissenschaft an sich ein Irrweg wäre oder mathematische Theorien keinen Wert hätten. Man müsse sie weder verstehen, noch sich damit beschäftigen. Es reiche, seinem eigenen Wahrnehmungsvermögen zu vertrauen.

Als eine Erklärung dafür, weshalb das Märchen von der flachen Erde so weite Verbreitung finden kann, führt die Dokumentation unter anderem den „Dunning-Kruger-Effekt“ an. Dieser Begriff meint „die kognitive Verzerrung im Selbstverständnis inkompetenter Menschen, das eigene Wissen und Können zu überschätzen“. 

David Dunning und Justin Kruger, zwei Sozialpsychologen, hatten um die Jahrtausendwende in ihren Studien herausgefunden, dass wenig kompetente Menschen im Vergleich zu kompetenten viel eher dazu neigen, ihre eigenen Fähigkeiten zu überschätzen. Sie können überlegene Fähigkeiten bei anderen gar nicht erkennen und außerdem das Ausmaß ihrer eigenen Inkompetenz nicht richtig einschätzen. 

Flapsig und vereinfacht gesagt: Ausgerechnet wer gar nichts weiß, neigt dazu, sich selbst zu überschätzen. Was jenseits des eigenen Tellerrandes liegt, wird als entweder unwichtig oder falsch eingeschätzt. Oder es wird einfach übersehen. (Warum denke ich jetzt gerade an einen früheren US-Präsidenten?)

Dieses obskure Bestreben, mit dem eigenen Denken konsequent und überzeugt unter dem Tellerrand zu bleiben, kennzeichnet nicht nur Flacherdler. Das gleiche Haltungs-Muster zeigen – wenig verwunderlich – auch andere Verschwörungstheoretiker. 

Nachdenklicher mag dagegen stimmen, dass manchmal auch religiös oder allgemein spirituell orientierte Menschen, von vornherein dem Obskurantismus zugeordnet werden. 

Zu Recht?

Diese Frage lässt sich nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten.

Die „Sicherheit“ des Glaubens

Zunächst ist in Betracht zu ziehen, dass es deutlich leichter ist, an irgend eine feststehende „Wahrheit“ zu glauben, als sich auf das glatte Parkett unsicherer Theorien zu begeben, die sich jederzeit ändern können.

Die Wissenschaft erhebt keinen Anspruch darauf, unumstößliche Wahrheiten zu bieten, die Religion sehr wohl.

In der Wissenschaft „irrt man sich empor“. Eine Theorie gilt immer nur so lange, bis eine bessere gefunden ist. Und Theorien gelten nur dann als brauchbar, wenn sie Möglichkeiten bieten, sie überprüfen und logische Fehler entdecken zu können. 

Wissen erscheint als etwas Unsicheres.

Dagegen soll in der Religion übergeordnete, ewige Weisheit „nach unten“ vermittelt werden. So erheben Offenbarungen und konfessionelle Überlieferungen den Anspruch, das „Wort Gottes“ zu künden. Eine objektive Möglichkeit, das zu überprüfen, gibt es nicht. Glaube bleibt subjektiv. 

Aber als solches, weder beweis- noch widerlegbar, erscheint Glaube als etwas Sicheres.

Glaube und Wissen können ganz gut nebeneinander bestehen und sogar einander ergänzen, solange es nicht um konkrete Gegebenheiten in der physischen Welt geht. 

Sofern Glaube sich auf die Ausrichtung der seelisch-geistigen Innenwelt, auf ethisch-moralische Impulse beschränkt, gibt es keine Reibungsflächen. Auch die Frage nach dem großen „Warum?“, nach dem letzten Sinn des Seins, wird von der Wissenschaft kaum berührt. 

Doch sobald es um Behauptungen geht, die – überprüfbar – die physische Welt betreffen, kann es zwischen Glauben und Wissen ordentlich klemmen. 

Dass aus religiösen Überlieferungen konkrete Aussagen über die „Erdenwelt“ abgeleitet werden, ist ja keine Seltenheit. Die Welt entstand in sieben Tagen … der Mensch wurde fertig erschaffen … alle Galaxien beschreiben einen große Entwicklungs-Kreislauf … Bluttransfusionen sind gesundheitsschädlich und so weiter.

Aus den unterschiedlichsten Lebens- und Wissensbereichen sind Beispiele dafür bekannt, wie Kirchen und Konfessionen, Glaubens- und Gesinnungsgemeinschaften, esoterische Gruppierungen oder spirituelle Meister aus dem Anspruch, eine übergeordnete Wahrheit zu kennen, konkrete Ratschläge oder Verhaltensvorschriften ableiten. 

Wer Offenbarungen oder unantastbare, als heilig erachtete Überlieferungen wertschätzt und seinen eigenen festen Glauben vielleicht sogar als unbedingt nötige Voraussetzung für eine späteres, erlöstes Leben im Reich Gottes betrachtet, wird sich vermutlich sehr schwer damit tun, die altvertrauten „Wahrheiten“ und die daraus abgeleiteten Dogmen, Gebote oder Verhaltensregeln neu zu hinterfragen.

Insofern überrascht es nicht, wenn Menschen, die ihrem Glauben einen lebensbestimmenden Vorrang einräumen – vielleicht unbewusst – Vorbehalte gegen das wissenschaftliche Konzept des Infragestellens und Emporirrens haben und den Boden ihrer vertrauten Weltanschauung in der Regel nicht verlassen wollen.

Hier das „nur ungefähre Wissen“ darüber, wie alles entstanden sein mag – und dort die „Sicherheit des Glaubens“, die sich sogar auf das Leben nach dem Tod erstreckt. Diese schwer versöhnlichen Blickwinkel hat Erich Kästner (1899–1974) in einer „Feststellung“ (so der Titel seines Gedichts) aus dem Blickwinkel des „Aufgeklärten“ beschrieben:

„Wir haben’s schwer.
Denn wir wissen nur ungefähr,
woher,
jedoch die Frommen
wissen gar, wohin wir kommen.
Wer glaubt, weiß mehr.“

Die „Kälte“ des Wissens

Abgesehen von religiös oder konfessionell motivierten Ängsten und Vorbehalten, abgesehen von Inkompetenz oder auch einfach von mangelnder Intelligenz, gibt es aus meiner Sicht noch einen weiteren, selten erörterten Grund für Vorbehalte gegenüber „zu viel Wissenschaft“.

Vor allem spirituell sowie künstlerisch-kreativ orientierte Menschen unterscheiden gern zwischen „Herz“ und „Hirn“. Sie kennen den Wert von Intuition, Inspiration und Empathie. Für sie gehören Wahrnehmungen und Erlebnisse jenseits der sinnlichen Welt zum Lebenselixier … reiches Seelenleben, intensive, bewegende zwischenmenschliche Erfahrungen und ähnliches.

Demgegenüber erscheint ihnen intellektuelle Brillanz als zweitrangig, ja, bisweilen sogar als „kalt“. Denn die Erfahrung, dass Macht- und Geldgier, rücksichtsloser Egoismus oder berechnendes Verhalten oft gerade hochintelligente Menschen auf zweifelhafte Weise auszeichnet, bestärken den Eindruck, dass „Herz“ tatsächlich wichtiger ist als „Hirn“.

Der österreichische Maler, Sänger und Dichter Arik Brauer (1929–2021) sprach einmal – in einem glühenden Bekenntnis zur Demokratie – von der „in der Natur selbstverständlichen, arterhaltenden Eigenschaft des Egoismus“, die aber vom Menschen überwunden werden könne. Dieser sei in der Lage, Macht freiwillig abzugeben. Das unterscheide ihn vom Ziegenbock: „Der wird vom Jüngeren, Stärkeren gezwungen.“

In der Natur des Tierischen ist egoistisches Vorteilsstreben evolutionär angelegt. Jeder Werbeprofi, der zur Schnäppchenjagd einlädt, nutzt das aus. Aber der Mensch hat eben auch die Möglichkeit, dieses „Erbübel“ zu überwinden – durch sein geistiges Bewusstsein, durch die Fähigkeit, der Liebe mehr und mehr Raum zu geben.

Vielleicht steht hohe Intelligenz der Liebesentfaltung, also der Menschlichkeit, tatsächlich eher im Weg, während ein argloses, einfaches Gemüt von dieser Hemmung unbelastet bleibt. Einige spirituelle Lehren gehen – frei nach dem Bibelwort „Werdet wie die Kinder“ – davon aus. Sie betrachten die „kalte Verstandesorientierung“ als Fehlentwicklung und empfehlen, wenn es um Bildung und Wissenserwerb geht, die Verfeinerung der Empfindungsfähigkeit als deutlich bessere Alternative zur Universität.

Dass aber genau dieser Weg nicht zu einem harmonischen Miteinander von „Herz“ und „Hirn“ führt, sondern Selbstgerechtigkeit, intellektuelle Blindheit und tatsächlich auch Obskurantismus begünstigen kann, zeigt sich leider auch.

Obskurantismus im Wissenschafts-Glauben

Kein Zweifel: Erich Kästner hat seine oben zitierte „Feststellung“ zu Glaube und Wissen, wiewohl sie im Grunde eigentlich zutreffend ist, als Spottgedicht verfasst.

Gespottet wird heute immer noch über alle, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht vorbehaltlos dem Weg der Wissenschaft verschreiben. 

Nicht nur Flacherdler, Verschwörungstheoretiker oder religiös fixierte Menschen müssen damit rechnen, von „Wissenden“ in den großen Eintopf des Obskurantismus und der Finsterlinge geworfen zu werden, sondern beispielsweise auch alle, die von spirituellen Erfahrungen berichten. Von ihren Nahtoderlebnissen beispielsweise, von Nachtodkontakten oder einfach von Ahnungen, die sich später bewahrheitet haben. (Allenfalls Künstler dürfen darauf hoffen, mit spirituellen Geschichten gesellschaftlich gut durchzukommen, denn Kreativen ist Spinnerei erlaubt.)  

Das Credo der Spötter lautet für alles Nichtmaterielle einfach: Gibt’s nicht. Unsinn. Hirngespinst. So, als ob „die Wissenschaft“ tatsächlich irgend eine zweifelsfreie Aussage über solche Bewusstseinsphänomene machen könnte.

In Wahrheit gibt es nicht einmal eine gültige Theorie zur Frage, was Bewusstsein ist oder wie aus dem Neuronenfeuer unter der Schädeldecke des Menschen seelische Erlebnisse entstehen können; woraus seine Innenwelt besteht; was Wahrnehmung an sich oder Absicht an sich ist; wie Wille in einer determinierten Welt überhaupt zum Begriff werden könnte. Und so weiter und so fort.

Spannende Themen, die Scharen neugieriger Wissenschaftler zu weiterem Empor-Irren einladen, zu vielen neuen Forschungen und Experimenten, die irgendwann vielleicht sogar zu einem ganz anderen Welt- und Menschenbild führen könnten.

Allein: Es gibt den Obskuratismus eben leider auch unter den Wissenschaftsgläubigen. Deren Motto lautet: Ausblenden, verspotten und wegerklären, was immer dem aktuellen Erkenntnisstand zu widersprechen scheint. 

Jenseits des alten Tellerrandes

Ich habe den Eindruck, dass sich seit einiger Zeit – beginnend unter dem Druck der COVID-19-Pandemie – die gesellschaftliche Kluft zwischen wissenschaftlich orientierten Menschen und Wissenschaftsskeptikern vertieft und das Misstrauen wächst.

Obskurantismus gibt es dort wie da. 

Denn es erfordert eben Mut, sich auf die Möglichkeit einzulassen, und zwar vorbehaltlos einzulassen, dass so vieles von dem, was bisher als unumstößliche Tatsache erschien, doch nur ein Blickwinkel von vielen ist. 

Dass jedes Wissen sich irgendwann als Teilwissen oder sogar als Irrtum entpuppen könnte. 

Dass der bisherige eigene Tellerrand fürchterlich beschränkt war.

Ich habe leider kein allgemein gültiges Rezept dafür, wie es zuverlässig gelingt, mutiger zu werden, bereit zu sein für neue Antworten und unbeschränkt offen sowohl für die Herzens-, als auch für die intellektuelle Bildung. 

Aber ich vermute, dass uns das Leben sowieso in diese Richtung drängt und es eigentlich doch nur darum geht, sich dieser Entwicklung nicht starrsinnig zu widersetzen.

Und eines kann ich mit Gewissheit in Aussicht stellen, ganz egal, welchem Weltbild jemand sich verschrieben hat: Das Leben jenseits des alten Tellerrandes wird geprägt sein durch mehr zwischenmenschliches Verständnis und auch mehr Zuversicht, durch größeres Vertrauen. 

Es wird sich freier anfühlen.