29. März 2024

Am Grab des Pazifiks

West Coast Trail, Kanada (2006)

Ein nebelverhangener Tag im Januar 1906: Das 1600 Tonnen schwere Dampfschiff „Valencia“ ist mit 94 Passagieren und 60 Mann Besatzung nach Seattle unterwegs. Es befindet sich in der Nähe von Vancouver Island und steuert die „Juan de Fuca Strait“ an, eine Meeresstraße, die vom Pazifischen Ozean in Richtung USA führt.

Doch die Menschen auf der „Valencia“ werden ihr Ziel nicht erreichen, und die meisten von ihnen werden auch den noch jungen Tag nicht mehr erleben. Denn etwa 18 Kilometer südlich von Cape Beale nahe dem kanadischen Ort Bamfield, geschieht die Katastrophe: Das Dampfschiff scheitert an der rauhen See und läuft auf Grund. Nur 38 der 154 Menschen können gerettet werden. In das „Grab des Pazifiks“, wie der berüchtigte Küstenstreifen zwischen Port Renfrew und Bamfield genannt wird, sinken weitere Opfer …

Insgesamt mehr als 50 Schiffe strandeten hier im Laufe der Zeit, weil sie den Naturgewalten nicht gewachsen waren, die durch das Zusammentreffen der Strömungen aus dem offenen Pazifischen Ozean und aus der Juan de Fuca Strait entfesselt werden. Die rund 80 Kilometer lange Strandlinie vor Vancouver Island wurde zum Schiffsfriedhof.

Der 20-Kilo-Rucksack drückt zunehmend

Der Untergang der „Valencia“ vor rund 100 Jahren sollte allerdings nicht ohne Folgen bleiben. Denn noch 1906 begann man damit, einen Fußweg durch den dichten kanadischen Regenwald zu bauen, um die Rettungschancen für Gestrandete und in Seenot geratene Menschen zu erhöhen: der „West Coast Trail“ wurde errichtet. Gleichzeitig verlegte man Telegraphenleitungen, und seit rund 40 Jahren wird der gefährliche Küstenstreifen auch mit Hilfe von Hubschraubern überwacht.

Allerdings erfüllen diese heute auch eine andere Funktion. Denn seit einigen Jahrzehnten stellen sich in jeder Saison täglich ein paar Dutzend Menschen (mehr werden nicht zugelassen) der Herausforderung, den 75 Kilometer langen Pfad entlang der kanadischen Westküste zu Fuß zu durchwandern – und durchschnittlich 100 „Hiker“ müssen in jedem Jahr evakuiert werden, weil sie sich verletzt haben oder den Strapazen des „West Coast Trails“ nicht gewachsen waren.

75 Kilometer Fußweg … für einigermaßen geübte Wanderer klingt das nicht nach besonderer Herausforderung. In unserer vierköpfigen „Alpinisten-Gruppe“ herrschte denn auch die Meinung, dass es wohl doch etwas übertrieben sein müsse, wenn der „West Coast Trail“ in unserem Reiseführer als einer „der strapaziösesten Wanderpfade der Welt“ beschrieben wurde.

Und als gelernte Österreicher ließen wir uns natürlich auch nicht von Berichten abschrecken, auf dem Trail würde man „an seine Grenzen kommen“. Schließlich wird selten so heiß gegessen wie gekocht … Guten Mutes machten wir uns also Anfang August auf den Weg – nicht so sehr deshalb, weil wir die körperliche Herausforderung suchten, sondern vor allem, weil der West Coast Trail zwischen Port Renfrew und Bamfield im Ruf steht, eine der eindrucksvollsten, überwältigendsten Wanderstrecken dieser Erde zu bieten.

Und er wurde diesem Ruf vom ersten Kilometer an gerecht. Im niederschlagsreichen Küstengebiet von Vancouver Island findet man eine einzigartige Vegetation, wie sie in ähnlicher Form sonst kaum wo auf der Erde (allenfalls noch in Neuseeland) anzutreffen ist: Mächtige, bis zu 1000 Jahre alte Douglasien, 60 Meter hohe Cedars (Riesen-Lebensbäume), Sitka- und Hemlock-Tannen von enormem Ausmaß. Alles erscheint höher, wuchtiger, kräftiger – nur der Mensch am Fuß der meterdicken Urwald-Riesen, inmitten der ausladenden, sattgrünen Blattpflanzen, verliert an Bedeutung.

Bald kommt uns allerdings zu Bewusstsein, dass sich in diesem von ungehemmtem Wachstum durchfluteten Regen-Urwald auch die Kilometer in die Länge ziehen. Fast eine Stunde benötigen wir für 1000 Meter Auf und Ab über baumdickes Wurzelwerk, Stämme, die Brücken über kleine Schluchten und Sümpfe bilden, Leitern mit bis zu 50 Sprossen und steilen Waldweg, der zum Glück gerade nicht regenfeucht ist.

Der über 20 Kilo schwere Rücksack drückt zunehmend – aber es gibt keine Alternative zu diesem Gewicht: Alles, was man zum Übernachten, Kochen und gegen Regen und Kälte benötigt, muss mit. Innerhalb des Trails gibt es keine Hütten oder Versorgungsstationen. Etwa eine Woche lang ist man mit sich und der Natur allein. Die Schöpfung erleben …

Nur keine Braunbären anlocken!

Da uns die Fähre am Ausgangspunkt unserer Wanderung, dem „Gordon River Trailhead“, erst am frühen Nachmittag übersetzen konnte, schaffen wir am ersten Tag lediglich fünf Kilometer der eigentlichen Wegstrecke. Einen weiteren Kilometer – was etwa 300 Höhenmeter und eine Stunde Gehzeit bedeutet – müssen wir über ein System aus Brücken und Leitern hinab zum Strand.

Diese Strecke werden wir am kommenden Morgen wieder bergauf klettern müssen, um dann auf dem Hauptweg weiterzugehen – doch solche „Kleinigkeiten“ werden bei der täglichen Kilometerleistung und auch in der Bemessung der Gesamtlänge des Trails nicht mitgezählt.

Nur am Strand, direkt am Meer, ist das Campieren und Kochen möglich. Und nur dort gibt es „Bear Boxes“, Container, in die man über Nacht alle Nahrungsmittel einschließt, damit nicht etwa hungrige Braunbären angelockt werden.

Auf Schritt und Tritt Neues bestaunen

Die ersten drei Wandertage führen uns vor allem durch das Landesinnere, einmal nahe am Meer, dann wieder weiter weg vom „Grab des Pazifiks“, wo heute noch ungezählte Wracks an die Tragödien von einst erinnern. Im Durchschnitt bewegen wir uns vielleicht 200 Meter von der Küste entfernt. Nachdem der höchste Punkt des Pfades, der „Pandora Point“, überwunden ist, wird das Auf und Ab etwas gemäßigter, und die Tageskilometerleistung steigert sich zum Glück, so dass wir am fünften Tag endlich gut die halbe Strecke geschafft haben. Aber was für eine Strecke!

Nicht nur die Pflanzenwelt lässt auf Schritt und Tritt immer aufs Neue staunen. Auch der Pfad selbst sorgt für Überraschungen. Einige Flüsse müssen beispielsweise mit Hilfe von „Cable Cars“ überquert werden – eine Art Seilbahn, bei der man sich und sein Gepäck allerdings mit eigener Muskelkraft weiterziehen muss. Außerdem sind rund hundert größere und kleinere Brücken verschiedenster Bauart zu überqueren; am beeindruckendsten ist dabei wohl die lange, schwankende Hängebrücke über „Logan Creek“.

Wir hatten unverschämtes Glück!

Das zweite Drittel des West Coast Trails führt überwiegend direkt am Strand entlang – und auch hier lässt die Natur die Anstrengungen immer wieder vergessen: Über uns kreisen minutenlang prächtige Weißkopf-Seeadler, um sich dann hoch auf Baum- oder Felsspitzen niederzulassen und für lange Zeit regungslos eins mit ihrer Umgebung zu werden. Auf den etwas küstenferneren Felsen faulenzen Seelöwen in der Sonne. Zur Abenddämmerung lassen sich draußen im Meer ein paar Grauwale blicken – noch in kilometerweiter Entfernung wird die Größe und Mächtigkeit dieser Tiere erahnbar.

Den Gesetzen und dem Leben des Meeres muss man sich auch als Wanderer anpassen. So ist für die Vorausplanung der einzelnen Teilstrecken eine Gezeiten-Tabelle unerlässlich. Denn manche Wegstücke können nur bei Ebbe bewältigt werden – beispielsweise der „Carmanah Point“, ein Leuchtturm, in dessen Nähe nicht nur die höchsten Bäume Kanadas, Sitka-Fichten, wachsen, sondern wo uns am fünften Wandertag die überhaupt größte Überraschung auf dem Trail erwartet: Unter einfachen Zeltplanen, mitten in der Wildnis und versorgt durch ein kleines Boot, das aus Bamfield regelmäßig Nachschub holt, hat – exklusiv für die Hiker des West Coast Trails – ein Imbissstand geöffnet.

„Chez Monique – Welcome“ steht auf einfachen Papptafeln, und eine improvisierte Speisekarte offenbart, was neben dem Sortiment an Schokoriegeln und Limonaden in Moniques Küche gezaubert wird: Wir essen den besten Hamburger unseres Lebens, und es gibt sogar ein kühles Bier – eine kleine Sensation für Kanada, ein Land, in dem es alkoholische Getränke nur in „lizensierten“ Lokalen und im Lebensmittelhandel praktisch überhaupt nicht gibt …

Unvergesslich bleibt der Campingplatz an den „Tsusiat Falls“, wo Wasser aus dem gleichnamigen See direkt am Strand über 18 Meter Höhe in die Tiefe stürzt. Unvergesslich der indianische Fährmann, der uns am vorletzten Tag der Wanderung zeigte, wie man Königskrabben fachgerecht zubereitet.

Und ebenso unvergesslich der siebente und letzte Tag des „West Coast Trails“, der uns vor Augen führte, welches unverschämte Glück wir bei diesem Ausflug in die kanadische Wildnis doch gehabt hatten. Denn als es die letzten zwölf Kilometer, die wir noch im Landesinneren bis zum Ausstieg in Bamfield zurückzulegen hatten, sanft aber beständig regnete, wurde erst so richtig klar, was uns hier bei ausgeprägtem Schlechtwetter erwartet hätte.

Die unvergleichlich schönen, nahezu unberührten Küsten und Urwälder, die prächtige Tierwelt, die im Meer versinkende Abendsonne, der volle Mond am nächtlichen Himmel über dem Lagerfeuer – all das hätte sich im Bewusstsein wahrscheinlich gar nicht recht verankern können; es wäre Schritt um Schritt ein kräftezehrender Kampf gewesen, der an die Substanz gehen und das Letzte fordern kann.

So aber erwiesen sich die 75 Kilometer zwar als unglaublich lang und unerwartet strapaziös – zugleich aber auch als wunderschöne Erfahrung, die ich jedem Naturliebhaber empfehlen möchte. Allerdings sollte man fit für diese Tour sein, ausreichend Erfahrung mit mehrtägigen Wanderungen und schweren Rucksäcken haben – und, wie wir gelernt haben, die Warnung, dass der West Coast Trail zu den anstrengendsten Touren zählt, in österreichischer Gemütlichkeit nicht ganz verhallen lassen …

West Coast Trail, letzter Tag