29. März 2024

Bereitschaftspotentiale

Mein Freund Jens #3

Natürlich kannten wir beide das berühmt-berüchtigte Experiment von Benjamin Libet. Bereits vor Jahrzehnten hatte sich der amerikanische Physiologe eine gefinkelte Versuchsanordnung ausgedacht, um den freien Willen des Menschen wissenschaftlich zu beweisen …

Er hatte seine Testpersonen ganz einfach eine Hand heben lassen und den Zeitpunkt ihres Willensimpulses, eben dies zu tun, notiert. Gleichzeitig hatte er ihre Gehirnströme gemessen und dabei eine ziemlich atemberaubende Entdeckung gemacht: Es zeigte sich nämlich, dass die Bewegung des Handhebens im Gehirn schon vorbereitet wird, noch ehe der bewusste Entschluss dazu erfolgt. Um die Muskulatur in Tätigkeit zu bringen, baut sich zunächst das sogenannte Bereitschaftspotential auf, und dieses ist im Gehirn immer schon messbar, bevor die Versuchsperson bewusst sagt: „So, jetzt will ich!“

Jens und ich kannten dieses Experiment des 2007 verstorbenen Physiologen, und wir hatten beide auch mit großem Interesse die nachfolgenden, komplizierteren Versuche anderer Wissenschaftler verfolgt, bei denen sich letztlich immer wieder zeigte, dass das, was wir Menschen als bewussten Willensentschluss erleben, zuvor schon im Gehirn vorbereitet wird.

Und wir kannten beide das Fazit der meisten Forscher – dass nämlich der freie Wille offenbar nur eine Illusion sei. Nur hatte mich diese Interpretation nie überzeugen können, Jens hingegen schon.

„Für mich ist damit die Frage, ob es eine Entscheidungsfreiheit gibt, klar beantwortet“, sagte er in seinem So-und-jetzt-ist-aber-Schluss-Tonfall. „Letztlich haben diese Experimente ja nur bewiesen, was wir ohnehin täglich erleben, aber nicht wahrhaben wollen – nämlich, dass wir Menschen ausschließlich Verhaltensmustern folgen, die durch unsere Lebenserfahrungen vorgeprägt sind … manchmal eben zum Schaden für die Umwelt. Offen ist nur, wie wir Schwerverbrechern sinnvoll begegnen sollen. Wenn es keinen freien Willen gibt, kann es auch keine Verurteilungen wegen persönlicher Verantwortlichkeit geben. Denn niemand hat sich in diesem großen Spiel des Zufalls, das wir Leben nennen, seine Gehirnstrukturen ausgesucht!“

Ich atmete tief durch und schwamm dann dem Strom dieser Argumentation mit Vehemenz entgegen. „Mein lieber Jens“, sagte ich und sah in seine herausfordernd funkelnden Augen, „mit dieser Frage müssen wir uns nun wirklich nicht befassen. Ja, wir brauchten überhaupt keine Argumente zu erörtern oder Möglichkeiten abzuwägen, wäre alles das, was wir erfahren oder wofür wir uns bewusst entscheiden, letztlich vorgegeben. Aber diese Interpretation ist in Wirklichkeit von A bis Z totaler Quatsch! Nicht einmal Benjamin Libet selbst ging annähernd so weit!“

Jens schmunzelte und schwieg. Offenbar gefiel es ihm, sein Gegenüber erregt zu sehen, und er belohnte meine emotionale Eruption mit gesteigerter Aufmerksamkeit.

„Wir sind uns doch darüber einig, dass Schlussfolgerungen immer nur auf der Grundlage bestimmter Annahmen gezogen werden“, sagte ich und wartete sein zustimmendes Nicken ab. „Und bei allen Diskussionen und Interpretationen über das Libet-Experiment gehen wir doch von der Vorstellung aus, dass unser Gehirn selbst Bewusstsein erzeugt …“

„Warum auch nicht?“ unterbrach Jens. „Ohne Gehirn gibt es kein Bewusstsein, durch Gehirnverletzungen oder operative Eingriffe kann sich die Persönlichkeit eines Menschen grundlegend verändern, oder sie kann sogar verlorengehen. Es gibt genügend Beweise dafür, dass das Gehirn unser Bewusstsein erzeugt!“

„Es gibt keinen einzigen Beweis“, widersprach ich. „Bewusstsein lässt sich nicht künstlich generieren, und wir haben bis heute nicht die blasseste Ahnung, wie aus den Nervenimpulsen, die man messen und beobachten kann, innere Bilder und Welten, Empfindungen, Sehnsüchte oder Träume entstehen sollen. Neuronales Feuer erzeugt in Wirklichkeit ebensowenig Bewusstsein wie die leistungsfähigsten Schaltkreise irgendeines Superrechners.“

„Mit dieser Behauptung wirst du dir unter den Science-fiction-Autoren sicher keine Freunde machen“, wandte Jens ein. „Wie wäre es dann jemals möglich, dass künstliche Intelligenzen die Herrschaft über die Menschheit übernehmen?“

Ich wehrte seine Einladung, das Thema auf eine banalere Ebene zu verlagern, mit einem gezielten feindlichen Lächeln ab und brachte meine Gedanken auf den Punkt: „Nach meiner Überzeugung hat Bewusstsein seinen Ursprung nicht in der physischen Welt, sondern es kann hier nur aufgenommen werden. Das Gehirn ist nicht der Produzent von Bewusstsein, sondern der Vermittler. Unser Bewusstsein drückt sich durch das Gehirn aus, es spiegelt sich im Feuer der Neuronen, und es kann natürlich nur schlecht oder gar nicht zur Entfaltung kommen, wenn das Empfangsorgan durch irgendeine Krankheit beeinträchtigt ist. Man nennt das Transmissionshypothese.“

„Bleibt nur das alte Problem, dass angeblich nicht-physische Dinge schwer beweisbar sind“, wandte Jens ein, „und dass diese Hypothese kaum Anhänger hat.“

Diese Argumente fand ich nun wirklich nicht besonders schlagend. „Wir erleben, empfinden, planen und denken“, sagte ich. „Nichts von dem, was in uns vorgeht, lässt sich nach wissenschaftlichen Kriterien beweisen. Und doch wäre unser Leben ohne diese Dimension bedeutungslos. Erlebnisfähigkeit ist nichts Physisches und benötigt nichts Physisches, sie beweist sich durch sich selbst!“

Jens richtete sich auf und blickte mich fragend an. „Nun gut“, sagte er ernst. „Das Gehirn ist ein Vermittler von Bewusstsein. Lassen wir das einmal so stehen. Aber was ändert diese Vorstellung an den Ergebnissen des Libet-Experiments?“

„Meines Erachtens so ziemlich alles“, antwortete ich. „Der freie Wille gehört natürlich zu unserem Bewusstsein, und ein Willensentschluss muss vom Gehirn empfangen und in eine konkrete Handlung umgesetzt werden. Wenn dabei in Form des Bereitschaftspotentials zunächst der Impuls für die körperliche Aktivität erfolgt und erst dann der Gedanke an die Handlung entsteht, so erscheint mir das nur logisch. Stell dir eine Mutter vor, die sieht, wie sich ein Auto nähert, während ihr Kind auf die Straße laufen will. Sie wird zuerst handeln, um es zu retten, und erst später über diese Entscheidung bewusst nachdenken. Das bedeutet aber nicht, dass ihr Gehirn die Entscheidung trifft. Es setzt nur den Impuls aus dem Bewusstsein um – zunächst als Handlung, dann als Gedanke, ganz wie im Libet-Experiment!“

„Einen Moment, Wolfgang!“ Jens rieb sich die Stirn, als versuche er, mit den Fingerspitzen seine Gedanken zu stimulieren. „Das ist doch paradox! Du sagst damit, dass wir zwar bewusst entscheiden, also unseren Willen betätigen, dass uns diese bewusste Entscheidung aber zunächst selbst unbewusst bleibt!“

Ich musste über den Scharfsinn meines Freundes schmunzeln. Wir hatten tatsächlich einen entscheidenden Punkt erreicht. „Im Hinblick auf die Abläufe im Gehirn kann man es tatsächlich so sehen, dass sich ein Willensentschluss zunächst unbewusst und erst später bewusst zeigt“, gab ich zu. „Aber in der erlebten Wirklichkeit treffen wir keine Entscheidung unbewusst.“

Jens nickte. „Klar“, unterbrach er mich, „aber deine Erklärung bleibt paradox. Man kann nicht unbewusst bewusst entscheiden!“

„Natürlich nicht“, stimmte ich zu. „Und für mich ist es auch eine besonders spannende Frage, wie sich Bewusstsein anders verhält, wenn es dem Gehirn verbunden ist, wenn aus dem Bewusstsein also das Tagbewusstsein entsteht, das sich nur im körperlichen Wachzustand entfalten kann, während Bewusstsein an sich ja etwas Eigenständiges sein muss, das auch ohne das Gehirn besteht kann … wie es die Berichte über Nahtoderfahrungen nahe legen!“

„Bitte nicht noch so ein zweifelhaftes Thema!“ sagte Jens, aber er wollte seinen halbherzigen Protest wohl nicht allzu ernst genommen wissen. „Darüber sollten wir bei nächster Gelegenheit mit Julia gemeinsam weiter sprechen. Kannst du dich an sie erinnern? Unsere alte Freundin hat diesbezüglich vor kurzem einiges selbst erlebt!“

Julia! Als Jens ihren Namen nannte, packten mich sofort die lieblichsten Gedanken und zogen mich 22 Jahre in der Zeit zurück. Damals hatte ich ein ganz spezielles Bereitschaftspotential empfunden.

Aber das ist eine andere Geschichte …

Grafik: Roger Gut