24. April 2024

Begegnung im Juni

Juni | Sehnsucht nach Entfaltung

Der alte Mann trat vor den in Gold gefassten Spiegel in der Mauernische seiner geliebten Schreibstube und lächelte zufrieden. Sein Blick durchstreifte die Furchen, die die Jahre und Jahrzehnte auf dies Gesicht gezeichnet hatten, seine Finger knüpften nach alter Gewohnheit die Krawatte, und flüchtig verwob sich der Moment mit den Spuren der Vergangenheit. Das rotbackige Kindergesicht des artigen Jungen, der so gern etwas verwegener gewirkt hätte, der fahrige Blick des schüchternen Halbwüchsigen, der die abenteuerlichsten Gedanken wälzte, aber das Erleben scheute, der zaghafte, immer und immer noch unreife Mann, der sich auf der Wartebank wohler fühlte als auf dem Spielfeld des Lebens, beständiger Beobachter großer Siege und bitterer Niederlagen, doch eben Beobachter nur.

Ja, lange Zeit hatte er lediglich die Bühnen und Darsteller gesehen, die Komödien und die Tragödien anderer, sogar sich selbst in einer Rolle, und lange hatte er gebraucht, um diese Fähigkeit zur Distanz, die die Gegenwart betrachtet wie ein Blick aus der Zukunft, für sein Werk zu nutzen.

Aber Friedbert lächelte zufrieden, denn irgendwann hatte er die vielschichtige Landschaft seines Selbst, die dieser Spiegel so glänzend umfasste, doch lieb gewonnen. Wie eine kurze, ferne Spanne des Atemholens erschienen ihm nun die Jahrzehnte, in denen er auf sich gewartet hatte. Als ewige Gegenwart öffnete sich ihm indes der kostbare Nachmittag, der sein Inneres entfaltet hatte und der ihm heute wieder besonders nahe war. Mochte ihm sein Leben im Rückblick immer konturloser erscheinen, unbedeutender, geschrumpft auf eine Handvoll tragender Momente – die Gedanken an jenen Nachmittag im Juni erfüllten ihn noch immer mit besonderer Wärme. Kaum zwei Stunden waren es gewesen, die ihn der Beliebigkeit entrissen und den Dichter aus seinem Schlummer geweckt hatten, die ihn – obgleich er die Trugkraft der Verklärung wohl durchschaute – nach wie vor noch inspirierten und zu Worten drängten.

Nach einem prüfenden Blick auf seinen Anzug, der zu minimalen Korrekturen drängte, wandte Friedbert sich zum Gehen. Die warmen Sonnenstrahlen, die durch die halb geschlossenen Fensterbalken in die Schreibstube fluteten, ermunterten ihn, das Haus zu verlassen, und heiteren Schrittes begab sich der betagte Dichter zum Stadtcafé, hinein in den Vorhof des Himmels, in dem er einst seiner Muse begegnet war und wo er heute einen alten Freund wiedertreffen würde. Harald – unweigerlich flogen seine Gedanken zurück in die Nachkriegszeit, in die bescheidene Dreizimmerwohnung seiner Eltern, in den Hinterhof mit der morschen Sandkiste, in der die Kleinen nimmermüde ihre vergänglichen Burgen, Straßen und Tunnels formten, während die Großen drumherum ausgelassen Fußball spielten, bis wieder einmal eine überhitzte Stimme aus einem der Fenster schnitt und die Jungen lautstark mahnte, dass ja kein Schuss eine Scheibe zerstöre oder eine der Vorrichtungen zum Wäschetrocknen, die bei jedem Windstoß schepperten und der Hausfassade bedrohliche Lebendigkeit verliehen.

Harald, sein alter seelenverwandter Kumpan! Seltsam, dachte er, wie durch die gezeichnete Gestalt des Alters dieselbe Persönlichkeit schimmert, die einst das Kind umfasste, dieses unergründlich Eigentliche, das von den Lüften und Stürmen des Lebens geschliffen und geformt wird und dennoch nie sich selbst verliert. Und seltsamer noch, wie man als Kind, ganz im Jetzt versunken, einen guten Freund so nachhaltig vergessen kann, nur weil eine andere Lebensgegenwart ein paar Stadtbezirke weiter die Gedanken und Gefühle bannt.

Bis zu ihrer unerwarteten Begegnung vor zwei Wochen hatte er Harald, seinen Schul- und Kindergartenfreund, 60 Jahre lang nicht gesehen.

Harald – seltsam, wie der Klang eines Namens sofort Bilder auferweckt, vergessen geglaubte Miniaturen des Lebens, und wie der Blick auf ein vertrautes Antlitz dort Lebensfäden wiederfindet, die längst verloren schienen.

Das Stadtcafé war erreicht. Der alte Mann hielt inne und spürte den linden Duft von Heimat, der hier seit jenem Juninachmittag beständig für ihn wehte. Er sah zur Sonne hin, genoss ihre sanften Stiche und suchte dann erst hinter der Glasfassade des Cafés nach dem vertrauten Antlitz. Schon sah er den Freund, wie dieser winkend seinen Blick zu bannen suchte, und er ahnte, dass auch dieser späte Nachmittag sich den prägenden Momenten seines Lebens zugesellen würde. –

 

Bald flogen die Erzählungen der Freunde über die Jahre und Jahrzehnte, durchstreiften schicksalsträchtige Stätten und manches kühn gebaute Wolkenschloss. Zwei Sandkisten-Kumpel belebten einander die Erinnerungen, offen, vorbehaltlos, als ob das Leben sie eingeladen hätte, jetzt und hier an ihrem Tisch Bilanz zu ziehen.

Beide waren sie kinderlos geblieben, beide Witwer geworden.

Friedbert hatte vor kurzem erst seine geliebte Frau verloren, jäh und unerwartet. Sie war eines Morgens einfach nicht mehr aufgewacht.

Harald stand seit Jahren allein. Eine seltene, unheilbare Muskellähmung hatte schon bald nach ihrer Hochzeit seine Frau befallen und alle Hoffnungen und Träume aus dem schmalen Buch des gemeinsamen Lebens getilgt, hatte zuletzt die Stunden und Minuten ins Unerträgliche gedehnt, bis ihr endlich eine milde Regennacht Erlösung gebracht hatte.

Friedbert war nach seinem Abitur in die Industrie gegangen, hatte sich an schnöden Werbetexten versucht und in der undankbaren Kunst, einfache Gebrauchsanweisungen für viel zu komplizierte Produkte zu verfassen. Aber stark und stärker hatte er unter seiner eigenen Mutlosigkeit gelitten. Er sollte, aber wollte nicht den goldenen Käfig verlassen, der ihm die fahle Sicherheit des Geldes bot, seine Empfindungen jedoch umschlossen hielt – bis an jenem Juninachmittag eine zarte Schicksalshand das Überreife in ihm weckte und aus dem Schatten des Betrachters sich der Dichter lösen konnte.

Harald hatte Architektur studiert, eine Professur an der Universität erhalten, hatte gelehrt, geforscht, Projekte geleitet, Studentengenerationen auf den Weg gebracht, und war dabei einsam geblieben. Die muffigen Räume des alten Lehrgebäudes waren sein Zuhause gewesen – zweckdienliche, ungestaltete Wände, von denen nur er ahnte, dass sie bisweilen vielschichtig-bunte Gedankenwelten umschlossen. Kürzlich war das Ende seiner beruflichen Karriere mit allzu plakativer Geste groß gefeiert worden. Und nun?

Sein eigenes Leben schien ihm bedeutungslos geworden, das des Künstlers hingegen erfüllend.

Friedbert aber spürte die Seelenverwandtschaft, dort wie da den ruhelosen Drang, jedes Erleben zum Werk zu gestalten. Dichten und bauen, Texte und Räume formen, Spuren in die Zeiten graben … sie beide waren doch diesem triebhaften Zwang verpflichtet, die Welt und sich selbst durch ein drittes Auge wahrzunehmen, mit sondierendem Blick, der besessen und Besitz ergreifend immer neue Materialien sucht, Farben, Eigenheiten, Ausdrucksmöglichkeiten, die sorgsam in einem Nebenbewusstsein gesammelt werden und nach gelungener Reife heftig nach Erfüllung drängen – Schriften, Pläne, Gedichte, Entwürfe, Erzählungen, Detailansichten …

Das Leben seines Freundes war heute so bedeutungsvoll wie das seine an jenem Nachmittag, von dem er noch nie gesprochen hatte. Nun aber drängte der Druck des Schweigens in Worte. Friedbert sah sich um, seine Gedanken folgten dem Blick zurück, und er schrieb die kostbarsten Momente seiner Erinnerung hinein in den Raum. –

 

Es war vor 25 Jahren, an einem Nachmittag im Juni. Ich kam hierher, um mir mit würzigem Kaffee und anspruchslosen Grübeleien ein paar Stunden zu vertreiben. Aber all die kleinen Zufluchtsinseln waren diesmal schon besetzt, und an dem Fenstertisch, der den einzig freien Platz geboten hätte, saß eine Frau. Ich sah sie nur von hinten, sie blickte unbewegt nach draußen auf die Straße, als ob sie jemanden erwarte. Gewöhnlich hätte ich es gar nicht in Betracht gezogen, in diese Welt, die ihr und einem verspäteten Begleiter vorbehalten schien, so einfach einzudringen. Und doch sprach ich sie an, fragte, ob ich mich zu ihr setzen dürfe. Als ihre dunklen Augen zu mir aufsahen, erschien mir mein Wunsch sogleich als allzu kühn. Unmittelbar, durchaus nicht nur ihrer seltenen Schönheit wegen, ahnte ich, dass das keine Fremde war, neben der man einfach sitzen, lesen oder in nutzlosem Gedankenkreisen Kaffee nippen konnte. Aber schon nahm sie hilfsbereit ihre Tasche von dem freien Platz und bot ihn mir freundlich an. –

 

Wie damals erschienen die Menschen und Räume, die Geräusche und Gerüche des Stadtcafés als unscharfe, fahle Kulisse, als toter Rahmen für das einzig Lebendige, für die beiden Menschen hier am Tisch.

Und der Dichter schrieb seine Geschichte weiter. –

 

Ich habe über all dies bisher geschwiegen, denn ich fürchtete, mein Erleben könnte dadurch Schaden nehmen, jedes Wort darüber nur als Schwärmerei erscheinen. Aber noch heute sehe ich die dunklen Augen dieser Frau, wie sie vertrauensvoll und absichtslos meine Blicke fingen und meine Gedanken geborgen nahmen. Ich sah in eine offene Seele, die mich in die Tiefe des Augenblicks geleitete, und noch bevor wir heiter im Gespräch versanken, hatte ich mich ihr bereits ergeben.

Bisweilen ertappte ich mich in diesen Stunden, gedankenlos ihre schiere Schönheit zu fixieren und wunderte mich, dass nicht alle Gäste rundum ebenso dem Zwang verfielen, auf sie hinzustarren.

Aber ich gelobe, es hielt mich nicht dumpfe Verliebtheit umfasst, nein, diese Begegnung, in der ich mich selbst fremder fühlte als sie mir fremd erschien, schlug tiefere Quellen an, sie schürte die Selbstachtung und Schaffensfreude, als härte ein Feuer mir neue Lebensfundamente!

 

Friedbert hielt inne und erfreute sich daran, dass der alte Freund die glühenden Momente nachempfinden konnte. Es fiel ihm überraschend leicht, die zarten Küsse seiner Muse zu beschreiben, denn oft und oft schon war die Fülle jenes Juninachmittags in sein dichterisches Werk geflossen.

Das Geheimnis ihrer Augen beschäftigte ihn immer noch. Wohl hatte er in ihnen auch das Abenteuer funkeln sehen, doch die Bereitschaft schien von feiner Scham durchwoben, sie reizte zur Ausgelassenheit, doch verbat zugleich Begehrlichkeiten.

Andere mochten die Kluft verspüren, die diese Frau der Alltagswelt entfremdete, mochten es eben darum aufgegeben haben, sie weiterhin noch anzustarren – er aber hatte jene Stunden einfach an der Seite einer alten Freundin verbracht, die er schon Monate oder Jahre kennen musste, und sie hatten einander Hoffnungen, Wünsche und Sehnsüchte eröffnet und über das Leben gesprochen, als ob es ein kunstvoller Traum gewesen sei, aus dem sie hier auf ihrer Insel erwachten, hoch über der Welt.  –

 

Wir flogen ungebremst dahin. –

Als er es sagte, tauchte die Stimme des Dichters wieder ab in das unverbrüchliche Vertrauen, das an jenem Nachmittag zwei Fremden gestattet hatte, selbst intime Seelengründe zärtlich mit Worten abzutasten. –

 

Ich wusste bald von ihrer stillen Leidenschaft zu tanzen. Als sie gestand, sich manchmal ihrer Freude an der Leichtigkeit einfach hinzugeben, lebenstoll und unbekümmert, schwerelos, zu später Nacht, geleitet nur von einer unsichtbaren Ballerina, färbte ein verschämter Hauch von Röte ihre Wangen. Und bald wusste sie von meinem Drang, aus dem kleingedruckten Universum eng gefalteter Gebrauchsanweisungen hinauszusterben, von meinem Traum des freien, schöpferischen Wortgestaltens, von meiner Sehnsucht nach Veränderung, die mich die kalten Mauern der Gefängniszelle, in der ich schon seit Jahren reglos hockte, immer stärker spüren ließ.

Das Gespräch mäanderte nur kurz in mein Verlies, denn unsere Begeisterung für die Musik ließ es in die Erlebniswelten großer Komponisten strömen, hinein in Konzertsäle, Theater und Opernhäuser. Doch hatte sie mit feinem Sinn die Gitterstäbe meines Käfigs schon erfasst und drängte mich, sie durch die Glut eines Entschlusses endlich fortzuschmelzen. Also rang sie mir mit sanfter Urgewalt das Versprechen ab, mich fortan konsequent darin zu üben, Momente des Lebens in Sprache zu hüllen, sie festzuschreiben und derart konserviert der Vergänglichkeit zu rauben. Diese zarten Fäden aus zeitlosen Stunden woben meine Zukunft. Ich hatte ihr mein Wort gegeben, und sie hatte mir mein Werk geschenkt. –

 

Wenn er der leidlichen Grübeleien gedachte, der zähen Bangigkeit, dem eignen Anspruch doch nicht zu genügen, so wunderte sich Friedbert immer noch, dass ihn der Sturm nur eines Nachmittags tatsächlich hinan gestoßen hatte in das Leben.

Aber noch mehr erfüllte ihn wie ehedem die Unendlichkeit des Augenblicks, als ihre Blicke ineinander lagen, tastend, spürend, fragend, antwortend, und das erfüllte Spiel der Worte und Gebärden doch nicht dem Drang der Triebe folgte, sondern nur und rein dem schicksalhaften Ruf des Lebens.

Er erinnerte sich ihres entrückten Lächelns in der stillen letzten Minute, bevor der profane Lebensalltag sie empfindungslos von ihrer Insel jagte. Der erhabene Einklang von Güte, Freude und Wohlwollen lag darin, vielleicht auch unbestimmte Wehmut. Er hatte die absichtslose Zuneigung gespürt, die diese Frau wohl jedem Menschen schenken konnte, und er hatte den Gedanken stets verbannt, dass dieses Lächeln nur die Mühe übertünchte, eine Flut mächtiger Gefühle zu beherrschen, eine Urgewalt, die alle Lebensfundamente rücksichtslos erfasst und hinweggeschleudert hätte. Einfältiger Gedanke!

Er wusste noch genau die Worte, die er zuletzt in die Stille gesetzt hatte, langsam und zärtlich: Wenn ich demnächst im Schreiben mein Geschick erprobe, irgendwann, zu später Nacht, dann werde ich Sie tanzen sehen! Oft und immer wieder werde ich Sie tanzen sehen!

Dann war die Ballerina von der Bühne geschwebt. Er hatte sie seit jenem Junitag nicht mehr gesehen. –

 

Die schemenhaften Konturen des Stadtcafés nahmen wieder Form an, die Stimmen tönten angeregter, verbanden sich der Emsigkeit rundum, der würzig-frische Duft des Kaffees lockte stark. Der alte Dichter bemerkte, dass sein Freund in Nachdenklichkeit versunken war, und schenkte ihm schweigend Zeit.

Schließlich umfassten Haralds Gedanken die niemals unbeschwerte Zeit seiner Ehe und hoben sie ins Jetzt. –

 

Als Claudia erkrankte, als das Schicksal sie in bittren Schüben mehr und mehr erstarren ließ, erstarb mit ihr Stück für Stück auch ich. Zunächst trug mich noch die flüchtige Kraft des Mitleids, die Zuversicht, irgendwie noch Heilung zu erreichen. Aber nach Jahren des Ringens und Wartens, nach so vielen enttäuschten Hoffnungen, untergrub mich doch die Bodenlosigkeit, eine kraftraubende Ohnmacht, die es mir kaum noch erlaubte, mit klarem Sinn wenigstens nur durchzuhalten. Und als Claudias Kampf endlich verloren war, war mir der Gedanke, selbst wieder glücklich sein zu dürfen, fremd geworden. Meine Bestimmung, so bestimmte ich es unbewusst mir selbst, lag im Ertragen. Genuss war nur den anderen zugedacht, das eigene Schicksal blieb es, ohne Neid unter einer Taucherglocke zu verharren. Ich wollte das Opfer der Trauer bleiben. Das war die dumme Rache, die ich meinem Leben zugedachte.

 

Friedbert erwiderte nichts. Er wusste, dass er seinem Freund nichts Besseres bieten konnte als die stille Gegenwart des verständnisvollen Hörers. Und dann gestand Harald, dass auch sein Leben eine prägende Begebenheit erhellte, über die er noch nie mit jemandem gesprochen hatte.

 

Als Claudia dem Kerker ihres Körpers endlich entkommen war und ich erschöpft und leer die Nacht durchstreifte, um nun im Rausch des Regens halb zu wachen, halb zu schlafen, begegnete sie mir im Traum – wortlos, das Bild einer Empfindung nur, aber mächtig und lebensnah. Sie, die ich kaum anders mehr gekannt hatte als unbeweglich, starr, gealtert, deren Gedanken sogar sich zuletzt nur noch stur und unbeweglich an Nichtigkeiten festgeklammert hatten – dieses wunderschöne Mädchen erlebte ich mit einem Mal in unbeschwerter Lebensfreude, frei, erwacht, ein Geschöpf, das mir tanzend seine Liebe zu Füßen legte und mich mit seine Heil beflügeln wollte. Aber so tief und nachhaltig mich dieses Traumbild auch berührte, ich konnte mich ihm doch nicht anvertrauen. –

 

Als ihm nun Tränen in die Augen traten, gab Harald sich entschlossen einen Ruck, seine Hände krampften sich für Momente an die Kante des Tisches, er nickte, sog kräftig Luft ein, als wolle er etwas Bedeutungsschweres kundtun, atmete stattdessen aber in befreitem Lachen aus. Es war ihm klar geworden wäre, dass endlich auch er sich, wie sein Freund, neuen Lebensraum verschaffen musste. Hatten sie einander deshalb nach so langer Zeit gefunden? Legte das Leben solchen Spuren, um sich im Atem freundschaftlichen Austauschs neu und weiter zu entfalten?

 

Die Nacht war sternenklar und wolkenlos, als die beiden Alten nach draußen auf die Straße traten. „Wir sollten in Verbindung bleiben!“, schmunzelte der Architekt. „Vielleicht kommt die Zeit ja wieder, in der wir gemeinsam an Straßen und Burgen bauen!“

„Oder vielleicht nur einfach Zeichen in den Sand ziehen“, schlug der Schriftsteller vor. „Zwei Herzen für zwei alte Träumer zum Beispiel, beide durchbohrt von Amors Pfeilen, die sie zu später Stunde doch noch trafen …“

 

Als Friedbert später in seiner geliebten Schreibstube die Post sortierte und den in edler Handschrift gestalteten Brief einer ihm namentlich nicht bekannten Frau sorgsam zu öffnen begann, fiel sein Blick, wie schon zuvor an diesem Tag, flüchtig auf die eigene Gestalt im Spiegel. Ein alter Mann, dessen Antlitz die Fülle der Vergangenheit offenbarte, und die Einsamkeit der Gegenwart.

Ob er künftig nochmals jemandem begegnen würde, dem er sein nun abgeklärtes Wesen so nahtlos beigesellen könnte wie vor 15 Jahren der namenlosen Frau, die ihm auch in der Ferne stets nah geblieben war?

Würde sie immer noch irgendwo heimlich ihre Sehnsucht pflegen – vielleicht gerade jetzt, spät in dieser Juninacht?

Grafik: Hans Beletz