19. März 2024

Buchverkäufer Gabriel

Als Franz 30 Jahre alt war, ging er zu einem Meister, um ein neues Leben zu beginnen. Er nannte sich fortan Gabriel und beschritt den Weg der Selbstfindung.

Der Guru mahnte ihn, dass dieser steil sei und riet ihm, die Wüsten der Welt aufzusuchen, damit Gabriel sie kraft seines göttlichen Kernes überwinden könne. So wurde der Dreißigjährige ein Wandermönch. Er ließ sich seine prächtigen langen Haare scheren, packte die Bücher seines Meisters ein und besuchte Stadt um Stadt, um sie zu verkaufen.

Die Menschen interessierten sich nicht besonders für die Schriften des großen Gurus. Wiewohl Gabriel beteuerte, dass dessen Werke auf den großen Buchmessen 29, fast 30 Euro kosteten und er sie auf der Straße hier zu einem einmaligen Sonderpreis feilbiete, blieb die Masse unbeeindruckt. Die Bewohner der Stadt schienen sich für Bier und Schweinefleisch mehr zu interessieren als für Nahrung des Geistes. Aber so war die Wüste eben: geistlos, kalt und selbstverliebt.

Gabriel wusste, dass er daran lernen sollte. Es war gewollt, dass er hart ringe mit der sturen Besserwisserei dieser Un-Menschen, die längst die Göttlichkeit in sich vernichtet hatten. Aber es kam große Einsamkeit über ihn. Er wusste sich herausgehoben aus dieser trägen, satten Masse, ja, doch das rettende Ufer des Geistes schien ihm dennoch fern. Als endlich das Bild des Meisters vor seinem inneren Auge auftauchte und ihm Beruhigung schenkte, fand er neue Zuversicht.

Die Gewissheit, endgültig jedes materielle Streben überwinden zu sollen, veranlasste Gabriel, die Bücher in den Straßen der Stadt fortan zu verschenken. Seine feine Intuition würde ihn auf die richtigen Menschen zugehen lassen.

Leuchtenden Auges und in glühendem Sendungsbewusstsein stellte er sich den Auserwählten in den Weg. Aber diese hatten für ihr Heil keine Zeit und lehnten das 25-Euro-Geschenk ab. Sie bedachten den Wandermönch lediglich mit erstaunten Blicken.

Bald hatte der Wandermönch sein letztes Geld verbraucht. Seine stille Verwandlung zum Bettlerdasein stimmte ihn trübe. Würde die Wüste ihn brechen? Musste er in dem beißenden Sturm vibrierender Energien, der ihn unkontrollierbar und zerstörerisch umbrandete, untergehen? Endete so seine göttliche Freiheit?

Da kam ein Licht über ihn. In den unverschenkbaren Werken seines Meisters stand ein eherner Satz: „Biege dich wie ein saftiger junger Zweig im Wind, um nicht in Starre gebrochen zu werden.“

Gabriel war fest entschlossen, sich dem Wüstensturm anzupassen. Er verließ sich nun nicht mehr nur auf seine feine Intuition, sondern erwartete vor dem Eingang der größten Buchhandlung der Stadt seine Zielgruppe. Ja, er dachte nun in Zielgruppen. Jedem Menschen, der noch halbwegs geistreich dreinschaute, erklärte der Wandermönch, er wolle ihm ein Buch schenken. Das kostbare Werk sei prinzipiell gratis, jedoch habe er selbst dafür im Einkauf 10 Euro bezahlt und auf den großen Buchmessen würde es 25 Euro kosten. Mit einer Spende würde man nicht nur ein wertvolles Buch erwerben, sondern zugleich die Sache der nach Edelmut strebenden Wandermönche unterstützen.

Die Strategie führte zu ersten Erfolgen. Manche Menschen ließen sich tatsächlich Bücher schenken und bezahlten dafür 20 Euro.

So wurde Gabriel erneut zum Schüler und erlernte die Gesetze der Diplomatie, des Mitleidheischens und kraftvoller Worthülsen. Er entwickelte sich zum Gauner und verdiente gut. Zuletzt verließ er stolz die Wüste. Erhobenen Hauptes sah er auf seine schlafenden Mitmenschen hinab. Er war erwacht, Meister geworden und konnte nun endlich die Früchte seiner Göttlichkeit ernten.

Nur hin und wieder hatte er einen Albtraum: Er sah sich gefangen in einem dicken Spinnennetz, unscheinbar, unwesentlich, Beute nur, und ein Orkan aus wirren Simmen rollte aus der Ferne heran, um ihm, „Gabriel! Gabriel! Gabriel!“ brüllend, das Bewusstsein zu überschwemmen.

Er war dann froh, aus dem Chaos seines Namens in einen neuen Tag zu erwachen und tröstete mit dem Gedanken, dass wohl schon mancher große Meister Hilfen benötigt hatte, um die gewaltigen Energien zu bändigen, die an seinen Geist branden. Psychopharmaka.

Grafik: Roger Gut („Weltuntergang“)