1. Dezember 2024

Tobende Gedanken

März | Nach Wintermonaten

Zögernd tasteten seine Finger über den glatten Bezug der Couch, bis sie gelähmt erstarrten. Wehmut veränderte und verschleierte seine Wahrnehmung. Für Momente hatte er Brigittas Gegenwart gespürt. Unsicher streifte seine Erinnerung durch die erhellenden Stunden und Jahre, die ihn seiner Frau so innig verbunden hatten, dieser liebenden Seelenärztin, die er nun trotzig von sich stoßen würde.

Couchgeflüster nanntest du es, schelmisch und fürsorglich, wenn mich irgend etwas bedrückte und du das verstörte Gemüt wieder klärtest. Brigitta, du unbrauchbarer Engel. Du kennst nicht den Schatten des Himmels, der die Liebe befleckt.

Die entschuldigenden Gedanken blieben Fragmente. Zitternd fuhren seine Finger über den Mantel, den er im Kleiderschrank abgelegt hatte und prüften dann abermals den Bezug des schicksalhaften Möbelstückes. Vorsichtig zog er die Bettlade heraus, ließ sie für Sekunden einrasten und schob sie hastig wieder hinein.

Alles war in Ordnung.

Er war ein unbedeutender Fremder im Hotelzimmer einer anonymen Stadt. Irgendein Mann an irgendeinem späten Abend im März, irgendwo auf dem letzten Kap vor der lauen See des Alters.

Er hatte die Rufnummer gewählt. Im Tor zum tiefsten Verlies seiner Seele steckte der Schlüssel. Er musste nur noch aufschließen.

Die Frau würde nun kommen. Ein Beben durchfuhr seinen Körper, widerstrebend vermengten sich Angst und Lust und Schmerz und Scham. Die Wallung unbändiger Gefühle trieb ihn vor den Spiegel, sein Kamm fuhr ohne Widerstand durch das exakt gescheitelte, angegraute Haar, langsamer, ein zweites Mal, ein drittes Mal.

Gut sehe ich aus, gut genug, gewiss!

Nicht noch einmal entscheiden. Einfach wollen, wonach die Wolken des Unbewussten drängen.

Er schluckte schwer, vergewisserte sich, dass die beiden Gläser auf dem runden Tischchen sauber waren und verfolgte dann gedankenleer den Sekundenzeiger seiner Armbanduhr.

Als es endlich klopfte, flog sein Blick zur Zimmertür. Ruckartig umfasste er mit seiner rechten Hand seine linke, trat heran und öffnete.

Vor ihm stand eine mittelgroße, gut aussehende Frau, deren Alter er nicht zu schätzen gewusst hätte. Halblanges, dunkelbraunes Haar umrahmte puppenhaft ein hübsches, aber hart gezeichnetes Gesicht. Sie trug einen grob gestrickten, hellgrauen Pullover und einen gleichfarbigen Rock aus feinerem, zart gemustertem Stoff. Ihre schlanke Taille umfasste ein breiter brauner Ledergürtel, der Brust und Hüfte dezent hervorhob. Farblich passend trug sie kniehohe Stiefel und über die Schulter eine Tasche, die salopp zum Gesäß hinab hing. An einer langen Halskette baumelte ein kugelartiger Anhänger.

Ihre Gestalt, der subtile Reiz hinter und in dem biederen Äußeren der Frau brannte sich ihm ein und entspannte ihn zugleich. Nervös bat er sie herein, bemerkte, wie er sie anstarrte, hörte, wie sie ihn im Näherkommen zwanglos nett begrüßte und wie er sie schließlich mechanisch fragte, ob sie etwas trinken wolle.

Sie bejahte, stellte sich als Laura vor, und noch ehe Momente der Scham sein Fieber hätten kühlen können, erriet sie in freundschaftlichem Plauderton, dass dies wohl sein erstes solches Abenteuer sei, ermunterte ihn, es einfach zu genießen. Sie freue sich, einen gut aussehenden Mann kennenzulernen und wolle das Finanzielle vorab regeln, so brauche man später keine Gedanken daran zu verschwenden.

Als Laura dicht neben ihm auf der Couch saß, in einer Hand noch das Getränk, den anderen Arm hinter seinem Kopf, mit den Fingern rhythmisch die Schulter bespielend, war der Bann gebrochen. Ohne Umschweife führte sie ihn mit der trockenen Frage, woran er denn so gedacht habe, an den Abgrund seines Lebens.

Der dunkle Sog hatte in ihm gewirkt, so lange er zurückdenken konnte, hatte wieder und wieder seine Gedanken geködert, gefangen und einer Welt bizarrer Wünsche und Gelüste zugetan, die seiner Brigitta und dem profanen Leben fremd und fern verbleiben musste. Der still glühende Drang, aus dem immer neue Bilder hinauf in die Welt der Sinne stiegen, war das ganze nun schon verebbende Leben lang unaussprechlich geblieben, doch jetzt, an Laura, sollte er in Worte münden.

Sein Herz pochte stark und schnell, er suchte Halt in ihrem Blick, atmete nach Mut. Und endlich flüsterte er ihr das Geheimnis seines Lebens zu. – –

Brigitta kannte die Nebel, die ihren Mann verstörten. Sie wusste, dass sie sich wieder lichten würden, aber sie wusste nicht, woher sie kamen. Wolfgang war an solchen Tagen einer schnöden Sachlichkeit ergeben, launisch, trotzig, auf Routinen fixiert, reizbar, in seinem Perfektionismus, seinem Ordnungswahn erstarrt. Nicht in Gedanken, nicht in Worten und noch weniger durch Hingabe konnte sie ihn dann erreichen.

Umso mehr hatte sie sich an seiner offenkundigen Veränderung erfreut. Unverhofft hatten ihr die letzten Wochen den beschwingten, humorvollen, feinfühligen Mann wieder geschenkt, die Erneuerung einer lange unbeschwerten Liebe.

Aber nun schien dieser feine, lichte Faden wieder zu reißen, und wieder wusste Brigitta nicht, weshalb. Seit Tagen schon hatte sie die zunehmende Verdüsterung wortlos ertragen. Aber an diesem Morgen saß ihr am Frühstückstisch ein Fremder gegenüber. Wolfgangs Blick glitt an ihr vorbei ins Leere, seine Stimme klang mechanisch kalt, der Anflug seines Lächelns wirkte müde. Tief im Herzen mitempfand sie bodenlose Traurigkeit, bleierne Erstarrung. Schweigend hatte er um sich einen Stacheldrahtverhau errichtet. Der Versuch, ihn zu erreichen, musste schmerzen. Doch sie wollte nicht länger ausgeschlossen bleiben, sie wollte diese Hürde überwinden.

„Kann ich dir helfen?“, fragte sie zärtlich, auf herbe Zurückweisung und Widerspruch gefasst.

Er aber blickte nicht auf, schüttelte nur geschwächt den Kopf und antwortete im Aufstehen mit angeschlagner Stimme: „Nein, das kannst du nicht!“

Brigitta hörte sein Geständnis und empfand ihre Ohnmacht. Erstmals war in Wolfgangs Worten angeklungen, dass im Verborgenen tatsächlich etwas keimte, unfassbar, fremd, bedrohlich. Und zugleich war ihr, als habe seine matte Entgegnung eine verborgene Überzeugung enthüllt: Nein, du kannst mir nicht helfen. Nicht du! – –

Langsam, kraftlos wischten seine Handflächen über den Bürotisch, bis sie sich inmitten der penibel aufgeräumten Arbeitsfläche trafen. Er fühlte sich ausgebrannt.

Ich bin unerreichbar geworden, Brigitta, und du auch!

Er ahnte das Leid seiner empfindsamen Frau. Gedankenversunken zog er jenes abgegriffene Bild aus der Geldtasche, das seiner Vorliebe für glatte Haptik zuwider laufen durfte. Lange betrachtete er es. Das Foto zeigte Brigitta und ihn während ihrer Hochzeitsreise, zwei unbekümmerte junge Menschen auf einem Fährschiff durch den Geiranger Fjord im Norden Norwegens; hinter ihnen die „sieben Schwestern“, verbunden durch einen zarten Regenbogen, den die Morgensonne in einem Moment überfließender Schönheit vor die Wasserfallkulisse hingezaubert hatte.

Dieser ferne Lebensaugenblick in seiner unbeschwerten Heiterkeit hatte ihm als Sinnbild seiner Ehe gegolten. Wasser war Brigittas Wesen – durchscheinend und anpassungsfähig, doch kraftvoll seinem Ziel entgegenströmend. Mit ihr an seiner Seite hatte er sich stets über die Wogen des Lebens getragen gefühlt, bekräftigt, beheimatet.

So sehr ich dich auch liebte, Deiner Liebe war und bin ich unwert und unwerter denn je!

Brigittas Anmut beseligte immer noch, ungetrübt der Glanz des Wassers, das ihre Augen umspülte und jede Seelenregung widerspiegelte. Immer noch strahlte sie etwas Magisches, Transzendentes, Engelgleiches aus. Doch Himmelwesen können eine Last sein. Und irgendwann erträgt man sie nicht mehr.

Wolfgang schob das alte Bild wieder zurück an seinen Platz. Er atmete schwer. Seine Hoffnung hatte sich nicht erfüllt. Als Laura die Tür zum Hotelzimmer hinter sich zugezogen hatte, war ihm das als Schlussakkord für den Albtraum seines Lebens erschienen. Er hatte den grandiosen letzten Akt der Befreiung erfahren, war eins mit dem eignen Schatten geworden, und noch vor Tagen hätte nichts und niemand ihm die Überzeugung nehmen können, jene Sternstunde der Erfüllung hätte die Erlösung für immer gebracht.

Unterdrückung, Verdrängung … muss der Damm nicht irgendwann bersten? Wenn sich der Drang dagegen frei ins Tal der Begierden ergießen darf – verliert er damit nicht an Kraft und an Gefahr?

Wie neu geboren hatte er sich gefühlt – stundenlang, tagelang. Dann aber, plötzlich und unvermutet, hatte der heiße Sturm seine Gedanken zu durchwühlen begonnen, machtvoll und mächtiger wurde der Drang, es noch einmal zu erleben. Wenigstens einmal noch brauchte er das geschützte Refugium, wo ihm gelassenes Ausleben gewährt war, ohne Rücksicht, ohne Vorbehalte, ohne Anspruch.

Immer noch hielt er seine Geldtasche in Händen. Und nun öffnete er sie, um einen kleinen, sorgfältig gefalteten Notizzettel heraus zu ziehen.

Lauras Telefonnummer war darauf notiert. – –

Brigitta begegnete der neuen Wandlung ihres Mannes reserviert. Allzu unvermittelt zeigte er ihr plötzlich Zuneigung. Etwas Fremdes überlagerte seine Ausgelassenheit. Unverhofft hatte er sie zu diesem romantischen Abendessen eingeladen, aber sie fühlte, dass nicht Freude ihn drängte. Wofür wollte er ihr Ausgleich bieten? Was drängte nach Entschuldigung?

Das Kerzenlicht warf unruhige Schatten über seine Augen. Brigitta umfasste Wolfgangs Hände, lächelte gütig. Mit größter Vorsicht kam die Frage über ihre Lippen. „Wollen wir diesen schönen Abend in einem Couchgeflüster enden lassen?“

Kein Gedanke hätte sein kunstfertig empor geschraubtes Hochgefühl nachhaltiger erschüttern können. Die Frage hatte ein Tabu gebrochen. Denn längst war das Gespräch mit seiner Frau dem Unaussprechlichen gewichen. Die Couch gehörte nicht mehr ihrer Welt.

„Ich weiß nicht, worüber wir reden sollten!“ Er hörte seine kalte Lüge, aber die Erinnerung echote sein Eingeständnis, sich mit seinem Schatten doch nicht wirklich eins zu fühlen. Laura hatte ihn gelassen anwiesen, keinen Schuldgefühlen nachzuhängen.

Entspannter, befreiender, unbekümmerter hatte er die zweite Nacht mit ihr erlebt. Sie hatten einander im selben Hotelzimmer getroffen, zur gleichen Stunde, und sie hatte bereits gewusst, was er erwartete …

„Drängt dich wirklich nichts?“ Brigittas Zuneigung riss Wolfgang aus seinen Gedanken. Sein Blick schweifte aus der Erinnerung in ihre Augen hinüber. Die unwirkliche Heiterkeit, die ihn in diesen Abend getragen hatte, verflüchtigte sich wie das Nachglühen eines Traums, und das Erwachen verzehrte seine Kraft.

Brigitta begleitete sein Ringen schweigend. Es gelang ihm nicht mehr, seine Gedanken zu orientieren. Er spürte die Nähe seiner Frau und zugleich ihre Ferne, ihre einladende Anteilnahme und die unüberbrückbare Kluft, die ihn von ihr trennte. Gern hätte er sich in diesem Augenblick Brigittas Gegenwart ergeben, aber jede Lüge und auch die Wahrheit würde den Abstand zu ihr nur vergrößern. So sagte er zuletzt, indem er seine Augen schloss, langsam und müde: „Ich kann darüber nicht sprechen!“

Brigitta griff über den Tisch und stützte seinen schweren Kopf zärtlich mit der Hand. Und irgendwann fühlte er sich stark genug zu sagen: „Vielleicht kann ich es später einmal. Gib mir bitte Zeit!“

Brigitta nickte. Sie hoffte, Wolfgang an diesem Abend wieder gefunden zu haben. – –

Laura. Sie hatte ihn intimer, nackter, ehrlicher erfahren als jeder Mensch zuvor. Er erlebte sie vor sich, während er ins Nichts starrte – ihre erotische Strahlkraft, ihr betörendes Auftreten, das nächtliche Dunkel ihrer Stimme, die hintergründigen Accessoires ihrer Bekleidung. War der kugelförmige Anhänger ihrer Halskette nicht ein Sinnbild für die Welt, die von ihr abhängt? Ihr Gürtel ein Symbol für die verführerischen Schlange?

Schwärmerisch ergründete er Lauras Attraktivität. Aber nichts hallte lauter in seiner Erinnerung als die Worte, die er selbst ihr einst ins Ohr geflüstert hatte, sein Bekenntnis, sein Geständnis, seine Offenbarung. In weitester Ferne indes, kaum noch wahrnehmbar, flackerte im Dunkel seiner Innenwelt das Kerzenlicht jenes linden Abends, als alle Schwere geborgen in Brigittas Hand gelegen war …

Laura – er musste sie wieder sehen! Auch wenn der Sumpf dieser Nebenwelt sein Bewusstsein immer gieriger verschlang, auch wenn er sich selbst wegen dieses unwürdigen Doppellebens längst fremd, ja verhasst war, er brauchte den geschützten Raum, den sie ihm bot, er ersehnte und verlangte diese eine, diese einzige Frau, der er sich je anvertraut hatte.

Immer noch starrte er ins Leere. Dann aber griff er entschlossen zum Telefon und drückte die Ziffernfolge, die sein magisches Traumbild erneut in die Gegenwart zaubern konnte. Schon hörte er die geheimnisvolle Farbe ihrer Stimme, den mechanisch-nüchternen Tonfall, in dem sie ihren Namen nannte, schon öffnete er wieder mit pubertärem Bauchflimmern die Tür, spürte er wieder den entschiedenen Druck ihres sehnigen Körpers.

Doch auch sein dritter Versuch, Laura zu erreichen, schlug fehl. Jäh fand er sich zurück an seinem Schreibtisch, in einer entleerten Wirklichkeit, freudlos, leblos.

Mechanisch griff er abermals und abermals zum Telefon, spürte für Sekunden Lebensfünkchen, die sein Nichts erwartungsvoll durchglommen und sank dann enttäuscht wieder dahin. Über die Frau, die von ihm alles erfahren hatte, wusste er nichts als ein paar abgetane Zahlen aus einer Kontaktanzeige, der keine Adresse zuzuschreiben war.

Die Gedanken dumpfer Hilflosigkeit wurden immer lastender, je länger die Stunden und Tage währten. Die Menschen in ihrer Heiterkeit und ihren Sorgen kümmerten ihn nicht, die platten Freuden und Leiden des Lebens schwangen sich unbedarft an ihm vorbei. – –

Ein abermals letztes Mal hatte er Lauras Nummer gewählt, stupide einigen Sekunden vager Hoffnung nachjagend, die doch wieder wortlos enden würden. Da erschreckte ihn unverhofft eine rauchige, verbrauchte Stimme. Sie grüßte ihn duzend und hauchte ihm eine geschmacklose Anbiederung entgegen.

In der Sprachlosigkeit, die Wolfgang jäh betäubte, hörte er sich eine Entschuldigung stammeln, aber er hatte den Hörer wohl schon vorher abgelegt.

Als die lange Sekunde seiner Erstarrung verstrichen war, wurde ihm letztgültig bewusst, dass dieser Anschluss in eine Welt führte, an der anzustreifen ihn im Grunde seines Herzens ekelte.

Der kurzen Sekunde des Stolzes, in der er den Zettel mit Lauras Rufnummer wütend zerriss, folgte eine lange, düstere Leere.

Es gibt keinen Schutz vor dem Leben, keinen verantwortungsfreien Raum, kein Schattenrefugium!

Die Gedanken überwältigten ihn in lebloser Sachlichkeit, ohne Wut, ohne Bitterkeit, ohne Schmerz. Er empfand nur machtlos, wie sein Leben verblasste, wie alle Kraft in Bangigkeit verfloss und ihn die dumpfe Angst beschlich, sich selbst zu verlieren.

Müde saß er auf der Couch. War es die aus der verglühten Nebenwelt? Oder die andere, die Brigitta mit ihm geteilt hatte? Die Worte waren ihm schwer geworden, die Atemzüge zäh, seine Gedanken forderten, überforderten ihn.

In ohnmächtigem Schweigen kauerte er im Verlies seiner Seele und ersehnte den fernen, trauten Kerzenschein. – –

„Ich bin so froh, dass die Tage ohne dich vorüber sind!“ Brigitta sagte es mit Vorsicht. Das Pflänzchen des Lachens und des Vertrauens, das nach so langen Wintermonaten zart zu erblühen begonnen hatte, benötigte noch Zeit. Aber diesmal war es kein neues Trugbild, es wuchs in der Kraft des Lebens.

Wolfgang hatte sich verändert. Er hatte Abgründe und Wolken durchirrt, dort wie da ein heimatloser Fremdling, ein Dulder eigner Illusionen. Nun blickte er mit der Wehmut des Pilgers, der sich endlich aus Einsamkeit erretten will, in das ferne, nahe Antlitz seiner Frau. Und Brigitta schenkte seiner müde gegrübelten Stirn wortlos einen Kuss.

Ohne Ziel und Absicht schwiegen sie in ihrem Couchgeflüster.

Zart und fühlend wie am ersten Tag hielt er ihre Hand umfasst.

Er erinnerte sich jenes magischen Moments, als ihm das Leben die Frau an seiner Seite zugespielt hatte. Am Rande einer Menschenmenge, im Foyer eines unbedeutenden Hotels hatte er sie erstmals gesehen. Und immer noch empfand er die Ergebenheit, die ihm Brigittas heitere Ruhe damals erweckt hatte, immer noch spürte er die Weltenferne ihres Blickes auf sich ruhen. Und doch hatte er den warmen Zauber dieses Urbildes aus seinem Gemüt hinaus in einen fernen, unerreichbaren Himmel verbannt und sich selbst einer fernen, unerreichbaren Hölle zugesehnt. Aber nun empfand er wieder das Leben, erkannte die alte Freundin an seiner Seite und wollte die Tore seiner stickigen Nebenwelt aufreißen, um sie mit Brigittas Anmut und Liebreiz zu fluten. Doch Stolz und Scham sind Mauern. So umtanzten einander lange nur Gedanken, bis endlich eine zarte Stimme aus dem Schweigen drang.

„Jeder Mensch ist viele kleine, spielende Kinder“, sagte Brigitta, während ihr Blick sanft zu ihm hinüber glitt, um zu sehen, ob er der Gedankenspur folgen wollte. Wolfgang schmunzelte, als ihm die alte Couchgeschichte in Erinnerung kam, diese treffliche Parabel für die Entwicklung aller vorder- und hintergründigen menschlichen Eigenschaften. Er sah die Wiese vor sich, auf der die Kinder spielen, den mächtigen Zauberball, der über ihnen schwebt um immer wieder irgendwo hinab zu sinken, und abermals die Kinder, wie sie hochspringen und eifrig nach dem Ball sich strecken, weil jede Berührung sie ein Stück erwachsener werden lässt.

Wolfgang atmete angestrengt aus. „In meiner Kinderschar“, gestand er stockend, „gibt es einen hässlichen kleinen Sonderling. Er verabscheut das geschwisterliche Spiel, er will nicht im Spiegel der anderen wachsen und reifen, aber er ist umso gieriger nach Leben!“

Bittere Selbstanklage verschmolz mit den Glutresten der Erinnerung. Wolfgang spürte noch einmal die Polsterbank des Hotelzimmers, er fühlte den Rand des Glases, das seine erregt bebenden Finger für Laura reinigten. Wieder trat sie durch die Tür, und wieder flüsterte er ihr das Geheimnis seines Lebens zu. Doch nun saß Brigitta an seiner Seite.

Ich werde Dir gestehen, dass ich dem ekeligen Sonderling Spielraum geschaffen habe. Und dann werde ich dir meine ganze Armseligkeit nicht mehr nur in Sinnbildern offenbaren, sondern alles kalt im Wort benennen, ungeschminkt, ungeschützt.

Irgendwann würde sein Blick wieder schwerelos in ihre glänzenden Augen fließen können, wenn denn Vergebung möglich wäre …

Brigitta verstand, und mehr noch ahnte sie. „Ich glaube, die Geschichte von dem kleinen Außenseiter spielt in uns allen“, bemerkte sie sanft, vorsichtig, um nicht zu belehren und nicht zu verstören. „Ein infantiler Wunsch, der sich nie am Leben messen konnte, ein entwicklungshungriges Bedürfnis, das aus irgendeiner Nische kriecht, wenn der Alltag sich entspannt … So ein Sonderling braucht Liebe und Führung!“

Verschämt floh Wolfgang ihren Blick: „Und wenn er selbst führt?“, fragte er gebrochen, entschlossen. „Es gibt bizarre Kinderwelten, Venusspiele, Hexenhäuser …“

Brigitta schüttelte sanft den Kopf und gebot seinen Lippen Schweigen, indem sie sie zärtlich mit dem Zeigefinger verschloss. „Du bist ein alter Dummkopf!“, sagte sie und küsste nochmals seine Stirn.

Nein, Laura hatte nie etwas von ihm erfahren. Er hatte ihr ledglich eine kleine, dunkle, bedeutungslose Nische seiner Innenwelt entdeckt, in der unförmige Gedanken tobten.

Das wahre Bekenntnis seines Lebens flüsterte er nun der Frau an seiner Seite zu, nicht dem Engel mehr, keinem fernen Himmelswesen. Es waren nur wenige Worte der Liebe, aber sie durchbrachen in ihrer stillen Kraft den Schleier seiner Wehmut, durchtrennten den schützenden Verhau um seine Seele und erschlossen ihm Hoffnung.

Erschöpft fand er an diesem Abend endlich ihre Nähe.

Grafik: Hans Beletz