29. April 2024

Der Arbeiter aus Oklahoma und die Marseiller Bohemienne

Tom McCarthys Beziehungs-Drama „Stillwater – Gegen jeden Verdacht“

Bill Baker (Matt Demon) lebt im Ort Stillwater im Bundesstaat Oklahoma (USA). Seine Frau ist tot, seine Tochter Allison (Abigail Breslin) sitzt seit fünf Jahren in Marseille (Frankreich) im Gefängnis, verurteilt wegen Mordes an ihrer Freundin.

Bill schlägt sich als Arbeiter durch. Er hat seine Alkoholprobleme überwunden, besucht regelmäßig seine kranke Schwiegermutter und fliegt auch immer wieder nach Frankreich, um Allison zu sehen. Doch die Beziehung zwischen Vater und Tochter ist belastet. Sie hat ihn als Alkoholiker erlebt, weiß, dass er dazu neigt, Dinge zu verbocken und traut ihm nicht zu, sein Leben wirklich im Griff zu haben, geschweige denn, sich für sie einzusetzen.

Dabei hat Allison einen Plan, der sie aus dem Gefängnis bringen könnte. Sie kennt einen Jungen namens Akim. Dieser habe auf einer Party damit geprahlt, schon vor Jahren eine Studentin getötet zu haben ohne dafür belangt worden zu sein. Dafür gebe es Zeugen. Und sicher sei dieser Akim es gewesen, der auch den Mord an ihrer Freundin Lina begangen habe. Es müsse nur gelingen, den Jungen ausfindig zu machen und seine DNA mit der am Tatort aufgefundenen zu vergleichen.

Allison hofft, dass es ihrer Anwältin, Maitre Leparq (Anne Le Ny), gelingen wird, ihren Fall mit diesen Fakten neu aufzurollen. Sie hat ihr einen Brief geschrieben, den sie nun ihrem Vater übergibt, als er sie im Gefängnis besucht – mit der eindringlichen Bitte, ihn der Anwältin persönlich zu übergeben.

Bill ist klar, dass dieses Schreiben alle Hoffnungen seiner Tochter enthält, und er tut sein Möglichstes, um Maitre Leparqs Interesse an dem Fall noch einmal zu wecken. Doch die Anwältin verdeutlicht ihm, dass alle rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft seien. Sie könne nichts mehr für seine Tochter tun. Er möge Allison mitteilen, sie solle sich keine falschen Hoffnungen machen. Es sei an der Zeit, sich mit der Situation abzufinden.

Diese Nachricht aber will Bill seiner Tochter nicht zumuten. Also erzählt er ihr, dass die Anwältin der neuen Spur folgen werde – und macht sich gleichzeitig selbst daran, Akim ausfindig zu machen und seine Schuld an der Tat zu beweisen. –

Das ist die Ausgangslage und der Rahmen für Tom McCarthys eindruckvolles Beziehungsdrama „Stillwater“, das in der Folge einige unerwartete dramaturgische Wendungen nimmt, sich aber nie – wie es der seltsame deutsche Untertitel „Gegen jeden Verdacht“ vermuten lässt – in einer einfachen Kriminal- oder Justizgeschichte erschöpft.

Der US-amerikanische Regisseur und Drehbuchautor Tom McCarthy hat sich schon in der Vergangenheit als Meister für realistische Szenen und Charaktere erwiesen – etwa in seinem Drama „Spotlight“. 

„Stillwater“ ist ein besonders berührendes, bis ins Detail lebensnah gestaltetes filmisches Meisterwerk, das sich im Wesentlichen auf die innere Entwicklungen konzentriert. 

Der Film wurde fast zur Gänze in Marseille gedreht und thematisiert auf ebenso empfindungsvolle wie humoristische Weise das Aufeinanderprallen der französischen mit der US-amerikanischen Kultur. 

Sprachliche Probleme, unterschiedliche Lebensweisen, gegensätzliche Werte-Traditionen – und als Kitt, der das Unvereinbare dennoch irgendwie zusammenhält: Offenheit und Herzlichkeit. Während Bill sich nach Kräften und mit dem vollen Einsatz seines oft ungestümen Wesens darum bemüht, der Spur zu folgen, die seiner Tochter weitere Jahre in Haft ersparen könnte, entfaltet sich langsam eine Beziehung mit der Schauspielerin Virginie (Camille Cottin), die ihm zunächst beim Übersetzen hilft, und ihrer Tochter Maya (Lilou Siauvaud).

Doch bald spitzen sich die Konflikte zu …

Die Rahmenhandlung von „Stillwater“ ist von wahren Begebenheiten (dem „Fall Amanda Knox“) inspiriert. Tom McCarthy konnte für seinen Film ein herausragendes Ensemble gewinnen: Matt Demon verwandelt sich zum Archetyp des schweigsamen, entschlossen zupackenden Arbeiters, Marke Oklahoma. Camille Cottin wirkt wie das Urbild der zärtlich zarten französischen Bohemienne, Abigail Breslin ist für die eigensinnige, schwer durchschaubare Tochter die Idealbesetzung. Und mit der zum Zeitpunkt der Dreharbeiten noch nicht einmal 10 Jahre jungen Lilou Siauvaud hat ein großartiges Talent die Leinwand erobert.

Sehenswert!

(2021, 140 Minuten)