Florian Zellers großartiges Demenz-Drama „The Father“
• Meine Filmvorstellungen beginne ich meist mit einer Inhaltsbeschreibung. In diesem Fall könnte sie etwa so lauten:
Anthony (Anthony Hopkins), ein impulsiver alter Herr, der in jungen Jahren vermutlich sowohl im Beruf als auch im Privatleben alle Fäden fest in Händen hielt, hat mit fortschreitender Demenz zu kämpfen. Er lebt allein in seiner Londoner Wohnung. Seine Tochter Anne (Olivia Coleman) kümmert sich um ihn und versucht – wieder einmal – eine Pflegekraft für ihren Vater zu finden. Denn dieser wehrt sich vehement dagegen, als Betreuungsfall gehandelt zu werden. Aber vielleicht ist die lebenslustige Laura (Imogen Poots) doch die richtige für diese Aufgabe …
Eine solche Einführung würde dem Spielfilm-Debut des französischen Regisseurs und Drehbuchautors Florian Zeller allerdings nicht gerecht. Denn für den Zuschauer wird sehr bald deutlich, dass diese Gegebenheiten lediglich in Anthonys Kopf existieren. Die Wirklichkeit sieht längst anders aus, aber der kranke Vater kann sie nicht mehr fassen und versucht verzweifelt, aus den immer kleineren Erlebnis-Bruchstücken, die seinem Gedächtnis zugänglich bleiben, ein Gesamtbild seiner Lebenssituation abzuleiten …
Im Alltag macht sich üblicherweise wohl kaum jemand bewusst, was für ein grandioser Wirklichkeits-Konstrukteur das menschliche Gehirn doch ist. Aus Sinneseindrücken und Erinnerungen formt es, dirigiert von den persönlichen Vorlieben und Abneigungen, jedem Menschen von früh bis spät seine ureignen Inseln der Gegenwärtigkeit, die unverzichtbare Grundlage dafür, dass ein bewusstes Ich durchs Leben wandern und seine Entscheidungen treffen kann.
Wenn das Gehirn gesund ist und alles gut funktioniert, kann jeder Mensch seine persönliche Wirklichkeit erleben und in dieser Weltwahrnehmung zugleich wie selbstverständlich auch mit anderen interagieren.
Aber was, wenn Erinnerungen nicht mehr greifbar sind? Wenn immer mehr der wichtigsten Bausteine zur Konstruktion der Wirklichkeit fehlen? Wenn kein kontinuierlicher Zeitfluss mehr erlebbar ist? Wenn das Ich keine Orientierung mehr findet, und es zunehmend unmöglich wird, die dürftige Essenz der eigenen Wahrnehmung mit dem Erlebenskonsens der Mitmenschen in Einlang zu bringen?
Florian Zeller gelingt in seinem Demenz-Drama „Der Vater“ der geniale Kunstgriff, den Zuschauer aus Anthonys Perspektive miterleben zu lassen, wie es ist, wenn der Bezug zu Raum und Zeit verloren geht, wenn die Wirklichkeits-Konstruktionen des Gehirns immer fragiler, fragwürdiger und durchschaubarer werden.
Das gelingt zum einen, weil sich ja auch die einzelnen Szenen eines Films erst im Kopf des Betrachters zu einem sinnvollen Ganzen fügen. Dieses Prinzip nutzt der Regisseur hier, um „Fehlkonstruktionen“ erlebbar werden zu lassen.
Zum anderen gelingt es, weil Anthony Hopkins als Vater eine (mit einem Oscar ausgezeichnete) schauspielerische Glanzleistung abliefert, die in jeder Phase, in jedem Ausdrucksdetail eine dramatische Lebensnähe vermittelt, wie sie nur selten zu bewundern ist. Ihm, vor allem auch in den gemeinsamen Szenen mit Olivia Coleman, zuzusehen, nimmt dem Film auch viel von der bedrückenden Schwere, die das Thema Demenz zunächst vermuten lässt.
Nicht zuletzt trägt zur „Entlastung“ auch das dramaturgisch großartige, ebenfalls mit einem Oscar ausgezeichnete Drehbuch bei, mit dem Florian Zeller gemeinsam mit Christopher Hampton sein eigenes Theaterstück adaptiert hat.
Der bislang wohl beste Film zum Thema „Demenz“. Absolut sehenswert!
(2020, 98 Minuten)