27. April 2024

Fegefeuer

Christian Petzolds Beziehungsdrama „Roter Himmel“

Leon (Thomas Schubert) und sein Freund Felix (Langston Uibel) sind unterwegs an die Ostsee. 

In der Nähe der Gemeinde Ahrenshoop hat Felix’ Familie ein Ferienhaus, das jetzt im Juni leer stehen sollte, und hier wollen die beiden Berliner an ihren Projekten arbeiten: Leon an seinem zweiten Roman „Club Sandwich“ und Felix an einer Fotomappe für seine Bewerbung an der Kunsthochschule – Thema „Wasser“. Also ist in diesem Juni schreiben und fotografieren angesagt – und vielleicht auch ein wenig die Natur genießen.

Doch schon während der Anreise passiert etwas Unerwartetes: Felix’ Auto bleibt mit einem Motorschaden im Wald liegen. Die beiden müssen die letzten Kilometer zu Fuß zurücklegen – wobei sich herausstellt, dass Felix den Weg zum Haus nicht wirklich so genau kennt, wie er selbst gedacht hat.

Und dann wird auch noch klar, dass im Ferienhaus bereits jemand wohnt – Nadja (Paula Beer), eine Saisonarbeiterin, der Felix’ Mutter das Haus ohne viel nachzudenken ebenfalls zur Verfügung gestellt hat, denn die junge Frau ist die Nichte einer Arbeitskollegin. 

Also muss Leon seine Vorstellung, selbstverständlich ein eigenes Zimmer zum Schreiben zur Verfügung zu haben, zähneknirschend aufgeben.

Der spontane Felix kommt mit den Gegebenheiten gut zurecht. Rasch freundet er sich mit der lebensfrohen Nadja an, und es stört ihn auch nicht weiter, dass sie ihr nächtliches Sexualleben mit dem strammen Rettungsschwimmer Devid (Enno Trebs) ziemlich lautstark zelebriert.

Felix genießt den Urlaub an der Ostsee, erledigt notwendige Reparaturarbeiten am Dach des Ferienhauses, entwickelt nebenbei ein paar zündende Ideen für seine Fotomappe und ist auch flugs mit Devid ein Herz und eine Seele.

Für Leon dagegen wird der Aufenthalt mehr und mehr zur Nervenprobe. Abgesehen davon, dass er kaum Muße zum Schreiben findet, scheint auch niemand seine schriftstellerische Arbeit ernst zu nehmen, den großen Zeitdruck, unter dem er doch steht, weil sein „Club Sandwich“ ja bald fertig sein sollte. Felix nervt ihn mit Einladungen zum Schwimmen, und Devid, dieser selbstverliebte Typ mit seinem seltsamen Humor und seinem geckenhaften Gehabe, wird für ihn zur ganz speziellen Herausforderung. Denn … Leon hat sich in Nadja verliebt. Seit er sie zum ersten Mal gesehen hat, geht sie ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Deshalb lässt er Nadja, als sie ihn darum bittet, sein Manuskript lesen – ein Privileg, das Leon bisher niemandem, auch seinem Freund Felix nicht, gewährt hat – aus Angst vor irritierender Kritik.

Doch genau die muss er hinnehmen, als Nadja schließlich frei heraus in einem Wort zusammenfasst, was sie über seinen Roman denkt: „Bullshit“.

Zunächst kann sich Leon noch damit trösten, dass dieses Mädchen, das hier als Eisverkäuferin jobbt, keine Ahnung von Literatur hat. Ihre Ansicht sei als Kritik nicht ernst zu nehmen. Doch später wird er herausfinden müssen, dass Nadja Literaturwissenschaft studiert – und hier nur wegen eines verlorenen Stipendiums als Verkäuferin Geld verdient. Und dass Helmut (Matthias Brandt), sein Verleger, ihre Ansicht zu dem Roman teilt …

In seinem ausgezeichneten Beziehungsdrama „Roter Himmel“ (Silberner Bär und Großer Preis der Jury bei der Berlinale) zeigt der Berliner Regisseur und Drehbuchautor Christian Petzold, wie das fragile Selbstverständnis eines Schriftstellers, der die Welt nur durch seine Beobachterbrille, aber nicht in ihrer unmittelbaren Wirklichkeit erlebt, an den Herausforderungen des Lebens zerbricht. Wie im Fegefeuer werden ihm alle Einbildungen von der Seele gebrannt. Jeder eitle Gedanke, bedeutend zu sein oder besonders Kreatives zu leisten, verbrennt im Sturm des fordernden Alltags. Es bleibt Leon die bittere Erkenntnis der eigenen Unfähigkeit. Ein Autor in Asche.

Dieses innere Drama assoziiert Petzold mit herannahenden Waldbränden, die die Region zernagen und schließlich zu einer Katastrophe führen. Doch im glühend roten Himmel leuchtet schließlich auch auch die Transformation …

Gemeinsam mit seinem großartigen Schauspieler-Ensemble und Kameramann Hans Fromm ist Christian Petzold mit „Roter Himmel“ ein filmisches Meisterwerk gelungen, das (abgesehen von dem Song „in my mind“ der österreichischen „Wallners“) sogar auf musikalische Unterstützung verzichtet und durch seine dramaturgische Kraft dennoch eine beeindruckende Sogwirkung entfaltet. Sehenswert!

(2023, 103 Minuten)