27. April 2024

Gefangen in der Filterblase

Kriege und Krisen zeigen, wie wichtig Medienkompetenz ist. Doch daran mangelt es in unserer Gesellschaft. Die Folgen davon belasten Einzelne sowie ganze Familien – und gefährden die Demokratie.

Meine Karriere als Journalist habe ich bei einer Tageszeitung begonnen. Damals, als noch ziemlich junger Mann, habe ich Nachrichten-Beiträge, auch Reportagen und Serien sozusagen am Fließband geschrieben. Eigene Recherchen, die Verwertung von vertraulichen Hinweisen aus der Leserschaft, von Agenturmeldungen und Korrespondentenberichten – all das gehörte zum redaktionellen Alltag. Ich konnte auch einige Konfliktfelder journalistischer Arbeit miterleben: Die Versuche von Politikern oder Interessengruppen, sich Redakteure zu Handlangern zu machen beispielsweise, oder die nicht immer einfache Aufgabe, die redaktionelle Unabhängigkeit auch gegenüber finanzkräftigen Inserenten zu wahren. 

Zum Beruf des Journalisten gehört ein Begriff, über den ich mir damals keine Gedanken gemacht habe, der für die heutige Gesellschaft aber unverzichtbar geworden ist: Medienkompetenz. 

In den 1980er-Jahren war die Lage noch recht überschaubar: Es gab uns, die Journalisten, die Produzenten, und es gab die Konsumenten von Nachrichten. Es gab sozusagen Sender und Empfänger, die weitgehend getrennt voneinander agierten, und für einigermaßen mündige Medienkonsumenten war es auch recht einfach, zwischen seriösem Journalismus und Boulevard zu unterscheiden, oder das steile Qualitätsgefälle zwischen unabhängigem Investigativ-Journalismus und Prostitutions-Journalismus zu erkennen, der kritiklos und willig für alles und alle PR macht. 

In der Gesellschaft mäanderte das Berufsimage des Journalisten zwischen Achtung und Ächtung, aber die Dienstleistung des verständlichen Aufbereitens und Vermittelns von Nachrichten wurde nach meinen Erfahrungen insgesamt als wichtig erachtet.

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Lage durch die Entwicklungen im Internet vollkommen verändert. Die sozialen Netzwerke haben die Grenzen zwischen Sendern und Empfängern verwischt. Jeder kann jederzeit sich selbst und seine Meinung präsentieren, und wenn jemand völlig aus der Luft gegriffene, nie hinterfragte Ansichten als „Fakt“ oder „Wahrheit“ öffentlich macht, wird ihn kaum jemand daran hintern. 

Diese Entwicklung könnte als Demokratisierungsprozess durchaus begrüßt werden, wenn dabei gleichzeitig alles das besondere Wertschätzung genießen würde, was tatsächlich dem Finden und Vermitteln von Fakten dient, also einerseits seriöser Journalismus und andererseits auch die Forschungsarbeit.

Genau das ist aber nicht der Fall, im Gegenteil: Die sozialen Netzwerke untergraben die Wertschätzung für redaktionelle und wissenschaftliche Arbeit. Und das ist vor allem deshalb möglich, weil unserer Gesellschaft Medienkompetenz weitgehend fehlt und in den Schulen auch nicht vermittelt wird. 

Deshalb verlor der Journalismus radikal an Bedeutung. Klassische Printmedien oder TV-Nachrichtensendungen sind für die meisten jüngeren Menschen uninteressant. Die sozialen Netzwerke reichen ihnen als Informationsquellen. 

Damit sind allerdings erhebliche und oft nicht erkannte Gefahren verbunden, denn diese Netzwerke beeinflussen Menschen auf Grund ihrer Mechanismen unmittelbarer, sie fördern Abhängigkeit, Fanatismus und antidemokratisches Verhalten.

Fröhliche Blasen-Einfalt

Keine Frage: Auch klassische Medien verfolgen wirtschaftliche Ziele. Verlage, selbst öffentlich-rechtliche Sendeanstalten wie der ORF in Österreich, sollen und müssen Geld verdienen. Aber sie finanzieren damit (auch) seriösen Journalismus, das heißt im besten Fall: objektive und unabhängige Information auf Grund ergebnisoffener Recherchen, mit denen keine Meinung, Gesinnung oder Ansicht „verkauft“ werden soll. 

Dagegen folgen soziale Netzwerke ausschließlich wirtschaftlichen Zielen. Sie betrachten es grundsätzlich nicht als ihre Aufgabe, wertvolles oder gesichertes Wissen zu vermitteln. Es geht ihnen um die Optimierung ihrer Reichweite. Wer immer in einem solchen Netzwerk als „Sender-Empfänger“ kommuniziert, ist zugleich selbst das Produkt, mit dem das Netzwerk sein Geld verdient. Denn er generiert attraktive Inhalte, die mit Werbung verknüpft werden können. Je größer die Reichweite und je länger die Menschen innerhalb des Netzwerks online bleiben, desto höher sind die Werbeeinnahmen für die Betreiber.

Daher sorgen Algorithmen, spezielle Computercodes, dafür, dass jeder Nutzer erstens genau das erhält, was ihn interessiert, und zweitens, dass sein Interesse an einem Thema gesteigert wird.

Die Video-Plattform YouTube schlägt zum Beispiel nicht etwa jedem Zuschauer die gleichen Filme vor, sondern wertet gezielt seine bisherigen Online-Suchen aus und zeigt ihm folglich das, was thematisch für ihn persönlich am besten passt. 

Dabei spielen nicht nur die Themen an sich eine Rolle, sondern auch die damit verbundenen Emotionen. Aufregung, Empörung, Verärgerung oder Wut motivieren Zuschauende eher zum Dranbleiben. Videos, die solche Gefühle ansprechen, werden öfter aufgerufen – und damit auch öfter empfohlen.

Deshalb ist es gut möglich, dass jemand zunächst vielleicht nur eine Gebrauchsanweisung zur Unkrautbekämpfung im Garten oder ein Rezept sucht, und nach einigen weiteren Klicks zu „Geheimtipps“ Videos mit krausen Verschwörungstheorien empfohlen bekommt.

Jedenfalls lassen die Algorithmen im Nu eine sogenannte Filterblase entstehen: Automatisch wird für jeden Zuschauer aus dem Gesamtangebot an Information das herausgefiltert, was seiner eigenen „Blase“ am besten entspricht, also seinen persönlichen Interessen, Ansichten und auch Vorurteilen. 

Fazit: Jeder brät im Saft seiner eigenen Komfortzone, findet dabei sein Welt- und Menschenbild immer und immer wieder bestätigt und darf sich im Gefühl sonnen, dass ja „alle“ oder wenigstens „die meisten“ so denken wie er. 

Fröhliche Blasen-Einfalt!

„Stoppt Tiktok“ & Co – aber bitte mit Bedacht!

Dabei ist „YouTube“ ein vergleichsweise harmloses Beispiel für ein soziales Netzwerk, das mit tatsächlichen oder möglichen thematischen Vorlieben und Emotionen des Nutzers „spielt“.

Weitaus weniger verhalten geht es bei „Tiktok“ zu. Diese Kommunikations-Plattform wird weltweit bereits von etwa 1,7 Milliarden Menschen aktiv genutzt – 70 Prozent davon sind jünger als 24. Ein Netzwerk für die Jungen, das speziell durch Playback-Kurz-Videos bekannt wurde. Die Userinnen und User „swipen“ sich durch vielfältigste audiovisuelle Eindrücke, verweilen bei manchen ein paar Sekunden länger als bei anderen, und schon nach wenigen Videos reagiert das System mit einer maßgeschneiderten Filterblase – wobei heftige Emotionen hier besonders leicht durchdringen.

Wie genau der Algorithmus von „Tiktok“ arbeitet, auf welchen Grundlagen er also Inhalte vorschlägt, gilt als gut gehütetes (chinesisches) Geheimnis. Jedenfalls ist die App so umstritten, dass sie in manchen Ländern (zum Beispiel Indien) gesperrt oder zumindest für dienstliche Mobiltelefone verboten wurde (zum Beispiel in Frankreich).

Die österreichische „Falter“-Journalistin Lina Paulitsch gab sich für eine Recherche zur Gefährlichkeit von „Tiktok“ auf der Plattform als 14-Jährige aus. Ihr Experiment fiel „noch verstörender aus als erwartet“. Im Nu hatte sie es zum Beispiel mit islamistischer Propaganda zu tun, mit Hass, Gewalt, Indoktrinierung: „Innerhalb einer Stunde befinde ich mich in einer Filterblase religiöser und spiritueller Appelle, die mir Angst machen“, schrieb sie – und zog als Fazit: „Stoppt Tiktok!“ („Falter“ 49/23). 

Paulitschs Recherchen passen zu einer Studie von „Amnesty International“ (2023). Die Organisation erkannte im Geschäftsmodell von „Tiktok“ Menschenrechtsverletzungen, da der Algorithmus dieses sozialen Netzwerks „von Natur aus missbräuchlich“ arbeite.

Wenn also die Algorithmen sozialer Netzwerke (in diesem Fall vor allem junge, unerfahrene) Menschen verführen, gezielt Schwächen ausnutzen und Suchtverhalten begünstigen (auch darauf wies die „Falter“-Recherche hin), und wenn damit letztlich demokratiefeindliche Tendenzen gefördert werden, dann sollte das Konsequenzen haben. 

Jedoch sind generelle Verbote oder Zensurmaßnahmen wohl nicht die ideale Lösung. Eher angemessen erscheint im Hinblick auf die gesellschaftliche Bedeutung der sozialen Netzwerke eine gesetzliche Regulierung der Algorithmen, die da auf die Menschheit losgelassen werden, und das am besten international.

Und vor allem muss Medienkompetenz schon in der Schulbildung einen zentralen Stellenwert bekommen. 

In jüngster Zeit zeigen vor allem Kriege und Krisen immer wieder eindrucksvoll, wie gut die Filterblasen sozialer Netzwerke funktionieren, wie gefährlich sie sind und dass sie die Gesellschaft nachhaltig spalten können. 

Aber das führte bisher kaum zu Konsequenzen. 

Nach wie vor gelingt es Schaumschlägern und Rattenfängern, über soziale Netzwerke ein gutgläubiges Publikum anzusprechen, einfach indem sie behaupten, etwas besser zu wissen oder gründlicher zu durchschauen als die „gleichgeschalteten Medien“ oder die „Mainstream-Wissenschaft“. 

Und leichter denn je werden diese Netzwerke zur weltanschaulichen Heimat für Menschen, die auch sachlich völlig unsinnigen Meinungen und Behauptungen lieber Glauben schenken als journalistisch gut recherchierten oder wissenschaftlich fundierten Fakten. Weil sie gar nicht wissen, was die Qualität einer Nachricht ausmacht, weil sie den Unterschied zwischen Meinung und erwiesener Tatsache nicht kennen oder weil sie einfach an die „Wahrheit“ ihrer Filterblase glauben wollen – denn hier werden bestehende Überzeugungen und Denkgewohnheiten bestärkt und vertieft und hier wird ihnen das angenehme Gefühl vermittelt, auf dem richtigen Weg, vielleicht auch anderen überlegen zu sein.

Menschlich ist das verständlich. 

Wer möchte sich in seinen persönlichen Überzeugungen nicht sicher fühlen?

Eben deshalb ist kritische Medienkompetenz wichtiger als je zuvor.

Hat Journalismus Zukunft?

Hätte ich heute als junger Mensch über meine berufliche Zukunft zu entscheiden, würde ich mich wohl wieder dem Journalismus verschreiben. 

Ich hoffe, dass die Erkenntnis dessen, was unkontrollierte „soziale“ Netzwerke an Schaden anrichten, auch zu einem gewissen Selbstreinigungsprozess in den Verlagshäusern und Sendeanstalten beiträgt – in dem Sinn, dass sie guten, seriösen Journalismus als ihr wichtigstes Kapital betrachten.

Menschen verführen, zur Sucht treiben, in Filterblasen gefangen setzen und kommerziell ausnutzen können die neuen Netzwerke besser als „klassische“ Medien – schneller, kompromissloser, effektiver. Aber diese könnten ein wertvolles Gegengewicht im Dienst der Gesellschaft bilden. In der Aufwertung ansprechend präsentierter Recherchearbeit oder guter Interviews liegt meines Erachtens ihr Auftrag und mittelfristig auch ihre Existenzberechtigung.

Insofern sollte der Beruf des Journalisten eine große Zukunft haben.