2. Mai 2024

Freiheit versus Verantwortung?

Gedanken zur „gekränkten Gesellschaft“

• Angesichts der Corona-Pandemie sprach der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann in einem Essay von einer „gekränkten Gesellschaft“ (Neue Zürcher Zeitung/Kleine Zeitung, 1. 1. 2021). Wir würden uns schwer damit tun zu akzeptieren, dass uns ein Virus plötzlich Verhaltensänderungen abverlangt. Denn nach unserer Überzeugung gab es „Seuchen höchstens in Weltgegenden, die weder die europäischen Hygiene- und Gesundheitsstandards noch das unbedingte Vertrauen in eine aufgeklärte Wissenschaft kannten. Dass ein Virus die Dynamik einer […] Gesellschaft bremsen, ja außer Kraft setzen kann, überstieg unser Vorstellungsvermögen.“

Inzwischen haben die meisten Menschen diese „Kränkung“ überwunden. Sie nutzen die wirksamen Impfungen, die mittlerweile zur Verfügung stehen und verhalten sich verantwortungsvoll so, dass sie sich selbst und andere nicht gefährden. Kleinere Einschränkungen, wie das gelegentliche Tragen einer Maske oder die Durchführung von Tests, werden gern in Kauf genommen, um größere Einschränkungen im gesellschaftlichen Miteinander zu vermeiden. Denn inzwischen ist klar: Das Virus ist gekommen, um zu bleiben. Oder, wie es Virologen ausdrücken: Auf die Pandemie folgt die Endemie.

Aber nicht alle haben diese „Kränkung“ überwunden. Manche betrachten die medizinisch empfohlenen und/oder politisch verordneten Schutzmaßnahmen als unzumutbare Einschränkung der persönlichen Freiheit und lehnen sich protestierend dagegen auf. Was dabei geschieht, analysierte Liessmann sehr treffend: „Die Krise offenbarte, dass viele ihre individuelle Freiheit ohne den politischen und sozialen Rahmen denken wollen, der diese überhaupt erst ermöglicht.“

Dabei tangieren die Diskussionen manchmal auch die weltanschaulichen Grundlagen: Wer dem Menschen – im Gegensatz zum Materialismus – einen freien Willen zugestehe, müsse doch auch unbedingt dessen Freiheit in allen Entscheidungen – für oder gegen das Impfen, Maskentragen, Testen und so weiter – ohne Wenn und Aber akzeptieren.

Vielleicht spielt dieser Gedanke besonders bei spirituell orientieren Menschen eine Rolle, die Schutzmaßnahmen auffallend oft ablehnen, wodurch sich die Kluft zum gesellschaftlichen „Mainstream“ meines Erachtens leider deutlich vertieft hat.

Doch es gibt keinen freien Willen ohne Wenn und Aber. Wer, idealistischen Leitbildern folgend, das Wesen des Menschen im Geistigen sieht und die Entwicklung des Bewusstseins als tieferen Sinn des Lebens überhaupt betrachtet, sollte auch mit der „Kehrseite“ des freien Willens rechnen. Oder, anders ausgedrückt: Zur Natur des freien Willens gehört die Verantwortung.

Dieser Begriff kann im Sinn eines „Antwort-Erfahrens“ verstanden werden: Wir entscheiden uns frei für etwas, sind aber an die Folgen der Entscheidung gebunden. Das Leben „antwortet“, unser Handeln hat zu Aus- und Wechselwirkungen. Wer etwas tut (oder unterlässt), darf oder muss mit allen Konsequenzen daraus leben. Nur auf dieser Grundlage sind Erfahrung und Entwicklung möglich.

Jedes Pochen allein auf den freien Willen greift daher zu kurz. Es kann nur um verantwortungsvolles Wollen und Entscheiden gehen.

Auch innerhalb einer Gesellschaft bleibt die persönliche Freiheit auf Dauer nur gewährleistet, wenn sie mit Verantwortungsbewusstsein einher geht – andernfalls entstünde Schaden für die Gemeinschaft.

Freiheit versus Verantwortung?

Nein, Freiheit ist Verantwortung, beide Aspekte gehört zusammen. In jedem Ruf nach Freiheit klingt zugleich der nach verantwortungsbewusstem Handeln mit.

Vermutlich wissen oder spüren sogar die heute schon berühmt-berüchtigten „Corona-Leugner“ die Last der Verantwortung. Daher bleibt ihnen – als Rechtfertigung für die noch nicht überwundene „Kränkung“ – im Grunde nur übrig, die Fakten zu leugnen oder in Frage zu stellen. „Dem Imperativ zum gemeinsamen Handeln, den uns das Virus oktroyiert, kann nur entgehen, wer die Gefahr einer Infektion zur Fiktion erklärt“, schreibt Liessmann in seinem Essay.

Um im Hinblick auf die aktuelle Lage nicht missverstanden zu werden: Ich halte es für sehr wichtig, dass die Entscheidung für oder gegen eine Impfung oder andere Schutzmaßnahmen jedem Menschen selbst überlassen bleibt. Es mag für den Einzelnen ja gute Gründe geben, sich gegen eine Impfung zu entscheiden und somit das höhere Infektionsrisiko für sich selbst und das persönliche Umfeld in Kauf zu nehmen. Erfahrungsgemäß sind die Empfehlungen der Politik nicht immer das Maß aller Dinge.

Es gilt: Jeder Mensch hat das Recht auf eine eigene Meinung. Andererseits: Einfach nur unkritisch all das für wahr zu halten, was es leichter macht, eine „Kränkung“ zu ertragen, ist kein Ausdruck von verantwortungsvollem Verhalten. Denn niemand hat ein Recht auf eigene „Fakten“.