12. Dezember 2024

Glaube beginnt nicht erst dort, wo die Fakten enden

Wie ist die Welt, in der wir leben, beschaffen? Woher stammt sie – und welche Rolle spielen wir in ihr? Lange Zeit glaubten unsere Vorfahren an eine flache Erdscheibe, über die der Mensch als „Krone der Schöpfung“ herrscht. Später stellten wir uns unseren Heimatplaneten als kugelförmiges Zentrum des Alls vor. In den letzten Jahrzehnten aber entdeckte die Forschung immer neue Wunder-Welten – und heute erscheinen Mensch und Erde im unermesslich großen Ganzen des Weltraums als völlig bedeutungslos – und damit verloren auch alte religiöse Überlieferungen ihren Stellenwert. Zu Recht? Vielleicht stehen wir erst am Anfang des Weges zu einem neuen, ganzheitlichen Welt- und Menschenbild finden, das spirituelle Erfahrungen ebenso würdigt wie naturwissenschaftliche Erkenntnisse.

Aristoteles glaubte bereits um 340 v. Chr. an die Kugelgestalt der Erde. Doch erst Kopernikus beschrieb 1543, dass die Erde um die Sonne kreist. Wer himmelwärts blickt und das Universum mit seinen unzähligen Sternen ergründen will, kann heute wissen, dass er mit seinen Füßen auf einer sehr eingeschränkten Beobachtungsbasis steht. Unsere Erde ist ein winziger Punkt im All, der keinen Überblick über das gesamte Schöpfungsgeschehen gewährt. Auch mit unseren intellektuellen Möglichkeiten stoßen wir schnell an Grenzen, wenn wir die Welt, in der wir leben, verstehen und erklären möchten.

Steht der Mensch im Zentrum?

Die Welt – das war für unzählige Menschengenerationen vor allem das, was sie sinnlich wahrnehmen konnten. Der Blick endete am fernen Horizont – die Schöpfung musste demnach, wie man beispielsweise im altjüdischen Kulturkreis vermutete, eine ungeheuer große, flache Scheibe sein.

Der Gedanke, die Erde sei – obgleich ihre Flachheit ja erlebbar ist – in Wirklichkeit kugelförmig, war eine ungeheure Neuerung. Der berühmte griechische Philosoph Aristoteles (384–322 v. Chr.) vertrat ihn um 340 v. Chr. erstmals in seiner Schrift „Vom Himmel“, aber er ging damals noch von einer stillstehenden Erdkugel aus, um die sich in kreisförmigen Bahnen die Himmelskörper bewegten.

400 Jahre später baute der in Alexandria lebende Claudius Ptolemäus (ca. 100–175 n. Chr.) auf dieser Grundlage ein kosmologisches Modell, das mehr als 1.000 Jahre lang gültig bleiben sollte: Das „ptolemäische Weltsystem“ sah die Erde als Mittelpunkt, umkreist von der Sonne und von anderen „Sphären“, also beweglichen und fixen „Sternen“, wie sie am nächtlichen Himmel zu beobachten waren. Dieses geozentrische Weltbild fügte sich recht gut zu den tradierten religiösen Vorstellungen: Der Mensch lebt, als „Krone der Schöpfung“ fertig geschaffen, im Zentrum des Alls, umgeben von lichten und dunklen Sphären, geborgen im Schutz der Himmelsglocke, umsorgt und geführt von einem Schöpfergott, der in Gestalt Jesu sogar einen Teil seiner selbst als Liebesopfer mitten hinein in das Weltall-Zentrum und Himmels-Gegenüber „Erde“ sandte.

Doch diese stimmige Weltsicht, in der menschliche Alltagserfahrungen und traditionelle Erkenntnisse einander so gut zu ergänzen schienen, geriet dann doch ins Wanken. 1543, in seinem Todesjahr, veröffentlichte der Astronom Nikolaus Kopernikus (1473–1543) sein Lebenswerk „Sechs Bücher über die Umläufe der Himmelskörper“. Darin führte er aus, daß nicht die Erde, sondern die Sonne das ruhende Zentrum des Alls sei und die Erde um die Sonne kreise. Damit war das „heliozentrische Weltbild“ geboren – eigentlich wiedergeboren, denn schon Aristarch (ca. 310–230 v. Chr.) hatte diese Ansicht vertreten, sich damit aber im alten Griechenland nicht durchsetzen können.

Doch die Einsichten von Kopernikus, die später durch astronomische Beobachtungen von Galileo Galilei (1564–1642) untermauert wurden, standen nur am Beginn einer fortdauernden Entwicklung, die den Menschen und seinen Heimatplaneten immer weiter aus dem Zentrum rücken sollte. Bereits um 1584 ging der italienische Philosoph Giordano Bruno (1548–1600) in seiner Schrift „Vom unendlichen All und den Welten“ davon aus, dass es sich bei den vielen am Abendhimmel sichtbaren Sternen um ferne Sonnen handle, um die ebenso Planeten kreisten, wie die Erde um die Sonne kreist.

Diese intuitive Weitsicht bot für die damalige Zeit geradezu ungeheuerliche Behauptungen! Inzwischen sind sie durch Beobachtungen mit Hilfe großer Spiegelteleskope bewiesen – aber die Hüter des kirchlichen Dogmas von einst sahen darin nichts als bloße Ketzerei! Bruno wurde 1600 in Rom verbrannt, Galilei 1616 zum Schweigen verurteilt. Er blieb, nachdem er 1630 dennoch sein Werk „Dialog über die beiden großen Weltsysteme“ veröffentlicht hatte, bis zu seinem Tod ein Gefangener der Inquisition.

Andere Sonnen – andere Planeten – womöglich sogar andere Menschen!? Wo blieb da die Einmaligkeit der Schöpfung und ihrer „Krone“? Wie konnte man noch an eine besondere Sendung Jesu glauben, an die weltbewegende Bedeutung großer himmlischer Offenbarungen – wenn doch die Erde nur ein winziger Himmelskörper unter vielen, vielen anderen sein soll!

Die Kirche fand auf diese Fragen keine Antwort. Rückblickend scheint es, als reagierte sie auf die fortschreitenden Erkenntnisse der Wissenschaft mit einer hilflosen, aber um so unmenschlicheren „Bunker-Haltung“: Zunächst Prozesse und Hinrichtungen, dann – 1870 – der Beschluss der „Unfehlbarkeit des Papstes“, dazwischen seltsame pseudowissenschaftliche Entgleisungen: Erzbischof James Ussher (1581–1656) „errechnete“ Mitte des 17. Jahrhunderts aus biblischen Texten, dass Gott die Welt am 23. Oktober des Jahres 4004 vor Christus erschaffen habe …

Unzählige Sterneninseln gleiten durchs All

Doch Stoß um Stoß wurde das bis dahin immer noch recht übersichtliche Weltbild des Menschen erschüttert.

Charles Darwin (1809–1882) schloss aus seinen Naturbeobachtungen, dass in Wahrheit nichts fertig erschaffen worden ist, sondern dass alles sich entwickelt hat – auch der Mensch – und dass dieser Entwicklungsprozess in der Natur noch weitergeht.

In der Astronomie zeigte sich dann im 20. Jahrhundert, dass weder „unsere“ Sonne noch die ganze „Milchstraße“ mit all ihren Sonnen einzigartig sind oder als Zentrum der Schöpfung betrachtet werden können. Der US-amerikanische Astronom Edwin Hubble (1889–1953) wies 1929 nach, dass noch unermesslich viele andere „Sterneninseln“ durch das All gleiten. Er konnte beweisen, dass „Sterne“, also ferne Sonnen, immer in Form von Galaxien angeordnet sind, die sich allesamt in Bewegung befinden.

Die ganze „Welt“ – das ist also nicht nur ein Planet oder ein Planetensystem mit einem Zentralgestirn! Die Welt umfasst auch nicht nur eine Galaxie, nicht nur das Milchstraßensystem, dem – nach heutigem Wissensstand – insgesamt rund 100 Milliarden Sterne (!) mit unzähligen Planeten angehören. Nein, die Welt umfasst als sichtbares Universum rund 100 Milliarden Galaxien – und heute spekuliert man aufgrund mathematischer Schlussfolgerungen, dass es möglicherweise nicht nur ein Universum gibt, sondern noch unzählige andere, die gemeinsam das „Multiversum“ bilden.

Unbegreiflich, unvorstellbar, unermesslich! Und darüber, wie all das entstand, wissen wir im Detail so gut wie nichts. Aufgrund der Beobachtung, dass sich die Sterne offenbar voneinander entfernen, schließt man, dass es vor etwa 13,7 Milliarden Jahren einen „Urknall“ gegeben haben muss. Aber weshalb? Und wodurch? Einfach aus dem Nichts? Und wie sollten die faszinierenden Strukturen des sichtbaren Universums aus einem gleichförmigen Urzustand hervorgegangen sein?

Das astronomische Weltbild, wie es in der Schule heute unterrichtet wird, gründet sich im Wesentlichen auf zahlreiche Theorien, in denen kein Schöpfergott vorkommt, die aber vielleicht noch mehr Gläubigkeit verlangen als die alte biblische Schöpfungsgeschichte. Denn mit unseren Alltagserfahrungen hat dieses Weltbild wenig zu tun. Wir merken nichts davon, dass unser Sonnensystem mit 200 Kilometern pro Sekunde um das Zentrum der Galaxis kreist, nichts von den großen Sonnengeburten und nichts von den Zersetzungstragödien in fernen „Schwarzen Löchern“. Wir können all das einfach nur „als erforscht“ zur Kenntnis nehmen – und stehen damit vor ernüchternden Fakten, die unsere Erde in wenigen Jahrhunderten sozusagen vom Zentrum der Schöpfung an den äußersten Rand gedrängt und uns selbst von der „Schöpfungskrone“ zu recht bedeutungslosen „Würmchen“ degradiert haben.

Wo wir Menschen uns innerlich noch vor wenigen Generationen überschaubare „Himmelssphären“, „Weltenteile“ oder scharfe „Schöpfungsgrenzen“ vorstellen konnten, findet der Blick durch die modernen Teleskope nur eine desillusionierende Bodenlosigkeit! Hinter den prächtigen Erscheinungen des Alls scheint das Nichts zu lauern; weder ein Zentrum, noch ein Ziel, noch irgendein erkennbarer Sinn offenbart sich unserem Verstand aus den Bewegungen des Werdens und Vergehens. Und wir selbst erscheinen nur als bedeutungslose Beobachter, die, völlig überfordert, beliebige Momentaufnahmen aus unvorstellbaren Zeiträumen betrachten.

Wir brauchen ein neues Welt- und Menschenbild!

Edwin Hubble konnte 1929 beweisen, dass es nicht nur eine, sondern viele Galaxien gibt. Aber liegt das eigentlich Faszinierende nicht jenseits jeder zahlenmäßigen Größe?

Trotzte der kalten, äußeren Welt des Sichtbaren und Messbaren nicht von jeher unsere innere Wärme?

Gründet sich das, was unser menschliches Leben so lebenswert macht, nicht im geistigen Bewusstsein, in unserer Innenwelt, in den lebensdurchglühten Empfindungen, Gefühlen, Hoffnungen, Sehnsüchten, Erkenntnissen? Und müssten wir nicht dringender denn je diese Welt, in der allein sich unser Menschsein gründet, neu entdecken?

Äußerlich, körperlich, mögen Mensch und Affe die gleichen Vorfahren haben, genetisch mögen sie weitgehend identisch sein. Und die Erde mag als Randerscheinung im unermesslichen All ihre Bahnen ziehen. Aber was sagen solche Erkenntnisse über die innere Wirklichkeit aus? Über das Leben, das wir führen, über die Ziele, die uns beflügeln, über unser Gewissen, unsere seelischen Nöte, unsere geistige Gesinnung oder Gottessehnsucht? All das sind ja nicht unbedeutende Randerscheinungen unseres Daseins, sondern es sind, ganz im Gegenteil, die Grundlagen dafür. Nur unsere Geistigkeit, unsere innere Lebendigkeit, drängt uns zum Forschen und Erkennen, zum Lernen und Nachdenken.

Schon im Mittelalter hätte die richtige Antwort der Kirche auf die damals bahnbrechenden neuen Erkenntnisse darin liegen müssen, der naturwissenschaftlichen Orientierung auf die Außenwelt die spirituelle Förderung der seelisch-geistigen Innenwelt begleitend beizustellen. Die Zeit wäre reif dazu gewesen. Wissen und Glaube könnten einander ergänzen, sobald auf dogmatisch verengte Vorstellungen überwunden werden.

Heute nun scheint es für den Menschen schon fast eine Überlebensfrage zu sein, sich seiner eigentlichen geistigen Werte und Möglichkeiten bewusst zu werden. Denn nur darin liegt die Chance, sich der Leere und Trostlosigkeit zu entziehen, die das materialistische Weltbild des 21. Jahrhunderts zum Ausdruck bringt.

Es hatte gewiss sein Gutes, dass wir infolge naturwissenschaftlicher Fakten schmerzvoll erkennen mussten, doch nicht die großen Macher im Zentrum des Weltgeschehens zu sein, denn im geschichtlichen Rückblick zeigte sich die „Krone der Schöpfung“ oft genug nur in selbstherrlichem Schein. Nun aber ist es an der Zeit, die weitreichenden Gestaltungsmöglichkeiten, die in der menschlichen Geistigkeit liegen, die fördernde Macht des Empfindens, Wollens und Denkens, der Inspiration und Intuition zu erkennen und zur Förderung zu nützen.

Auch wenn die Naturwissenschaft die umfassende Formungskraft des Geistigen, diesen entscheidenden Einfluss auf das Leben in der stofflichen Welt, heute noch nicht (oder nur ansatzweise) beschreiben kann – erlebbar ist sie allemal: Spürt nicht jeder Mensch eine Verantwortung für sein Tun und Lassen, ein unlösbares bewusstes Eingebundensein in das Weltgeschehen?

Das Welt- und Menschenbild der Zukunft sollte religiös-spirituelles Erfahrungswissen mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zusammenführen. Wer die Schöpfung als Folge einer großen Liebestat Gottes betrachtet oder die Naturgesetze als den vollkommenen Ausdruck des Schöpferwillens, der steht damit in keinem Widerspruch zur Wissenschaft. Ganz im Gegenteil: Erst mit der Orientierung auf das Geistige, das Höhere, ewig Geheimnisvolle überwindet der Blick durch das Fernrohr die Welt nüchterner Fakten.

Die Mission Jesu oder die großen biblischen Gleichnisse können ihre Bedeutung behalten, wenn deren Wert nicht im äußeren Geschehen, sondern im zeitlosen geistigen Anspruch gefunden wird. Nicht geschichtliche Fragen wie die, ob Moses wirklich durch das Rote Meer gegangen ist oder ob Jesus verheiratet war, sind letztlich von Belang. Sondern die Tatsache, dass der Mensch – wann und wo auch immer – durch besondere, herausragende Weisheiten berührt wurde, die die Zeiten überdauert und seiner Spiritualität neue Impulse gegeben haben.

Heute, in der Gottes- und Gemütsferne des 21. Jahrhunderts, gleicht es einer Schatzsuche, den Herd des religiösen Feuers in den alten Überlieferungen neu zu entdecken. Für den Bau neuer, tragfähiger Brücken zwischen Naturwissenschaft und Religion muss manche Bresche in die Felsen dogma- oder geschichtsbedingter Vorurteile gesprengt werden.

Doch die Formung eines neuen, ganzheitlichen Weltbildes kann gelingen. Weil Glaube nicht erst dort beginnt, wo die Fakten enden.