18. April 2024

Gralserzählung

April | Der Nacht entrissen

– – 10. April

Erlösungshungrig kreist die Erde, man irrt umher und irrt. Freiheit ist nur ferner Traum, tief in die Nacht hinein verbannt. 

Das Drama beginnt.

1. Akt: Nüchterner Gehirnforscher trifft auf religionsphilosophisch angehauchten Musikdramatiker, wechselseitiger Impakt zweier Welten. –

Wir werden sehen. Morgen lasse ich Feder und Flügel ruhen, streife mein gemütvolles Leben ab und mutiere zum Teil eines Experiments. Ich werde der Wissenschaft meinen freien Willen zur Verfügung stellen. Ich betrete Gralstempel der Forschung. – –

 

Als Oskar Hofmann in das kalte Neonlicht des techniküberfrachteten Kellerraums trat und dem kaum hörbaren, indes umso bedrohlicheren Hintergrundgurgeln näher schritt, durchfuhr ihn für Momente ein Albtraum seiner Kindheit und zugleich eine Schreckensstunde seiner Jugend.

Dieses abgrundtiefe Brummen – es würde unvermittelt anschwellen, betäuben und konnte gewiss auch töten!

Er mochte vielleicht fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, als ihn die Vernichtung gejagt hatte, Nacht für Nacht. Immer ging er an Mutters Hand einen schmalen, dunkel asphaltierten Weg entlang, bis hinter ihm in dumpfem Dröhnen schnell und schneller eine mächtige Maschine näher rollte. Schon wusste er, dass dieses Ungetüm, nach dem er sich nie umzusehen wagte, erbarmungslos die Welt verzehren würde; in jäher Panik entriss er sich der mütterlichen Geborgenheit, stürzte davon, doch die Luft gerann im Strampeln seiner Beine zu zäher Flüssigkeit, der Asphalt zerbrach zum Sumpf, seine Flucht erstarrte, und als die Vernichtungswalze an ihm war, überfuhr ihr Todeston wie spitze Nadeln seinen Kopf, um alles Ich zu löschen. Doch rettete ihn in diesem Augenblick stets das traute Bett aus seinem Sturz in die Zersetzung. –

Jahre später hatte ihn die bodenlose Empfindung, sich an eine Apparatur zu verlieren, noch einmal eingeholt.

Als junger Zivildiener musste er eine missmutige, hässliche Frau zur Strahlentherapie geleiten. Mit starrem Blick und abrasiertem Haar lag sie auf der Trage, ein rotes Fadenkreuz kennzeichnete an der Kopfhaut den dahinter wuchernden Tumor. Dann und wann brach die Dahingeschobene eruptiv aus ihrer Passivität und versengte die an ihr vorbeigleitende Welt mit glühendem Hass. Zügellos schrie sie dann Wut und Hohn hinaus, bis sie erschöpft in ihr entmenschlichtes Dasein zurücksank, für Trost und Zuspruch unempfänglich, und endlich der Technik überantwortet wurde. Im kahlen Therapiesaal wurde ihr Schädel in die Maschine gespannt, damit die Strahlen punktgenau den Knochen durchfahren konnten.

Er hatte sie durch das Glas der Eingangstür beobachtet, wie sie dort allein in ihrer Ohnmacht verblieb, der Körper nur noch Appendix eines gigantischen Automaten, dessen lebensleerer Atem in unrhythmischem Brummen und Knacken aus dem Raum drang.

Und jetzt, begrübelte Oskar Hofmann seinen Entschluss, wollte er sich freiwillig einer Maschine einverleiben. Aber er fand keine Muße für seine geliebten dramatisierenden Gedankenspiele. Eine unangenehm helle, nasale Stimme tönte durch den Raum.

„Ich darf Sie herzlich bei uns begrüßen!“, empfing der Professor die kleine Gruppe, die sich für den Versuch gemeldet hatte. „Mein Name ist Benjamin Liebelt.“

Routiniert und mit selbstverliebtem Schmelz gab der kleinwüchsige, glatzköpfige Forscher seinen Begrüßungsauftritt. „Ich freue mich, dass Sie sich zu dem Experiment bereit erklärt haben. Wir starten heute mit Ihnen die letzte Reihe eines umfangreichen Versuches, mit dem die jahrhundertealte Frage, ob der Mensch über einen freien Willen verfügt, entschieden werden wird. Die Grundlage für unser Experiment sehen sie hier in diesem Raum!“ Er wies auf eine komplizierte Anordnung von Geräten, Computern und Monitoren, die um einen tunnelartigen Körperscanner angeordnet waren, und erklärte in Umrissen das raffinierte Bild gebende Verfahren, mit dem bestimmte Gehirnaktivitäten beobachtet werden konnten.

„Die Versuchsreihe dient einer ausführlichen Studie, die wir hier in der Universität demnächst fertigstellen werden. Sie, sehr geehrte Herren, werden heute nichts weiter zu tun haben, als eine Verkabelung über sich ergehen zu lassen und danach eine dieser beiden Tasten zu drücken, wobei sie … die freie Wahl haben!“ Während er die letzten Worte in verhaltenem Zynismus betonte, huschte ein bübisches, gelinde gequältes Lächeln über das Gesicht des Professors, und er demonstrierte den Vorgang anhand einer kleinen Konsole. –

Tatsächlich verlief das Experiment unspektakulär und anspruchslos für die Probanden. Oskar Hofmann hatte nichts weiter zu tun, also zu beliebigen Zeitpunkten eine Taste zu betätigen – die grüne links oder die rote rechts.

Das Todestosen der weltfressenden Maschine vernahm er nicht.

 

– – 12. April

Wieder dieser Albtraum. Spät am Nachmittag der Anruf aus der Operndirektion, ich sage leichtfertig zu, und dann erst wird mir zu meinem Schrecken bewusst, dass ich die Rolle ja nie studiert habe! Wie auch sollte Kundry zugleich den Parsifal singen?

Mein liebes Unterbewusstsein, was willst du mir sagen? „Erlösung dem Erlöser!“ – Soll ich vielleicht selbst den finden, der mich aus meinem unsteten Leben entführt?

Parsifal, wo irrst du umher?

Dich, meinen lieben Amfortas, du zum König der Wissenschaft gefallener Priester, werde ich morgen wieder sehen. Der alte Sturm, die alte Müh; immer, wenn deine Wunde schmerzt und blutet, soll ich Linderung verschaffen! – –

 

Waltraud Behrend war eine auffallend attraktive, charismatische Frau. Lockiges, rostbraunes Haar wellte über ihre Schultern, den schlanken Körper umspielte ein rotes, tief dekolletiertes Kleid in kunstvollem Faltenwurf. Alles an ihr, jedes Detail bis zu den rougegetönten Wangen und den dunkel umrandeten Lippen atmete das Flair der großen Bühne.

In diesem Moment umspielte ein unruhiges Schmollen die herben Züge ihres Mundes. Aufmerksam und fasziniert musterte sie ihr längst vertrautes Gegenüber. Sie kannte die unromantischen Grübeleien dieses Mannes. Die Flamme der Tischkerze, die der Ober soeben entzündet hatte, flackerte unruhig.

„Die Erinnerung verklärt nicht nur, sie belügt uns schlicht und einfach“, stieß der Professor dozierend hervor. „Menschen können Jahrzehnte lang aneinander vorbei leben, verklemmt und verheddert in Alltagsroutinen, erstarrt in irgendwelchen unbedeutenden Rollen, und im Rückblick erscheint ihnen dieses Jammertal außergewöhnlich und erstrebenswert! Es gibt keinen machtvolleren Gaukler in diesem Universum als das Gehirn des Homo sapiens!“

„Auf uns trifft das ja nicht zu, lieber Benjamin“, beruhigte sie. „Ob und wie ein eheliches Miteinander verkrampft oder erlöst, werden wir nie erfahren! Denn zu diesem Schritt sind wir beide zu feige!“

Er nickte müde, entschlossen, sich jener arglosen Passivität zu ergeben, die er an der Seite dieser Frau stets ersehnte und ertrug. Endlich durften sich seine Gedanken aus den Zügeln des professionellen Analysierens und Schlussfolgerns befreien. Bald würden sie nur noch die unbekümmerten Boten heftiger Gefühle sein, würden nur noch, gleich dem Tanz des Kerzenscheins, der verführerischen Schönheit dieser Frau entgegenlodern.

„Du hast Deinen strahlenden Ritter bislang also nicht gefunden“, sagte er. Feststellung und Frage verschmolzen, und seine Stimme klang in einer neu gewonnenen Freiheit tiefer, sanfter, beinahe herzlich.

„Schmerzt Dich Deine alte Wunde wieder?“ fragte sie.

Er stöhnte leise. „Ich hätte mich auf diese Experimente nie einlassen sollen. Und – ja, ich wäre wohl besser Pfarrer geworden, wie ich es als Junge wollte. Stell dir vor, wie einfach die Welt sein könnte! Dort droben wohnt Gott, und wo immer in seiner großen Schöpfung ein Kind gezeugt wird, schafft er die unsterbliche Seele hinzu, ein kleines, aber in sich großes Ich, das es dem Menschen gewährt, nach seinem Tod auf ewig weiterzuleben im himmlischen Reich des Herrn! Eine Welt voll Sinn und Sonnenschein! Wie simpel, wie sicher – und wie leicht durchschaubar! Aber wir, die wir das Wesen des Menschseins ohne kindlichen Glauben ergründen wollten, kühn mit dem Skalpell in der Hand – was dagegen haben wir gefunden? Eine schwabbelige graue Masse unter der Schädeldecke, die auf unbegreifliche Weise Vorstellungen von einer Welt und Illusionen von einem Selbst erzeugt. Unser Seziermesser legte einen unendlich verästelten Baum der Erkenntnis frei – aber keine göttlich umsorgte Seele, keinen unabhängigen Willen, kein bedeutungsvolles Ich. Dieses Wissen, glaube mir, schmerzt schrecklich. Der Blick in das Gehirn stürzt in einen boden- und trostlosen Abgrund, er hechtet ins Nichts, er tötet den freien Geist mit der Einsicht, dass es ihn nicht gibt. Wir hätten die biblische Warnung vor dem Baum der Erkenntnis nicht zu leicht nehmen sollen!“

Waltraud Behrend hatte ihre Ellenbogen auf den Tisch gestützt und mit den Handflächen ihre Wangen umfasst. Ein regloses, unergründliches Lächeln begleitete ihre rastlos musternden Blicke; es mahnte den Professor, sein Gedankenkarussell endlich zum Stillstand zu zwingen.

Er schwieg nun.

„Du hast mich angerufen, weil du das Leben wieder spüren willst!“, sagte sie dann, griff über den Tisch und umfasste zärtlich die Hand des alten Freundes. „Ich habe zwei Vorstellungen zu singen und kann dir immerhin fünf Tage bieten. Lass uns die Zeit nicht sinnlos vergrübeln!“

Erregt zuckte das Kerzenlicht. Der Ober servierte roten Wein.

 

– – 14. April

Routinestunden, Durchschnittsbegabungen, immerhin aber eine viel versprechende Liszt-Interpretation, die das Mittelmaß erfreulich überragte. –

Morgen endlich werde ich mit Professor Liebelt sprechen – über den Einbruch in das Allerheiligste, das Antasten des Geheimnisses zwischen Körper und Geist, zwischen Vergänglichem und Lebendigem; über den Schritt in die Burg, die Entdeckung des Grals …

Eine weitere Fieberanalogie, gewiss, mein Tagebuch ist voll davon. Offenbar dokumentiere ich beharrlich die Suche nach dem Überwältigenden. Armer Tor – und bleibt doch immer nur so klug als wie zuvor! 😉

Wenigstens hoffe ich nun auf einen packenden Nachklang zu dem Experiment, das mir harmlos und einfältig erschien, geradezu enttäuschend unspektakulär. – –

 

Oskar Hofmann saß in einem muffigen, unaufgeräumten Arbeitszimmer. Ein junger, teilnahmslos umhertölpelnder Student hatte ihn in gelangweilt angewiesen, hier zu warten. Nun streifte sein Blick über Türmchen und Türme von Büchern, Ordnern, Manuskripten und Datenträgern, und er fragte sich, weshalb er dieses Gespräch gesucht hatte. Was immer der Professor mit der selbstgefälligen Stimmhöhe in seinem Experiment beweisen wollte – konnte es sich lohnen, über den freien Willen Worte zu verlieren? Denn was, wenn nicht Freiheit und Kreativität enthebt das Menschsein stolz dem Weltgetriebe?

Da verhing sich Oskar Hofmanns Blick an einem Porträt, das in goldenem Rahmen hart am Rand des Schreibtischs stand. Angestrengt überlegte er, woher er die attraktive, rothaarige Frau kannte, deren Bild der Entropie und Agonie ringsum mit Ausdruckskraft und Lebenswärme trotzte. Aber schon vereinnahmte ihn die markante Stimme des Trompetentenors; Professor Liebelt stürmte herbei, schüttelte seinem Gast die Hand, stieß die Bürotür ins Schloss und setzte sich gut gelaunt an seinen Tisch.

„Ich bin informiert, dass Sie Pianist sind und am Konservatorium unterrichten“, begann er lachend das Gespräch. „Aber das war sicher nicht der Grund für Ihre Teilnahme an diesem Experiment. Das Brummen und Stöhnen unserer Maschinen sind ja leider die einzigen akustischen Reize, mit denen wir hier aufwarten können!“

Oskar Hofmann schmunzelte. Im persönlichen Gespräch erschien ihm die narzisstische Eloquenz des Professors doch erfrischender und herzlicher als erwartet. „Sehen Sie in mir lieber den Hobbyphilosophen mit einem Hang zur Theologie“, antwortete er. „Mich hat einfach die Entdeckungslust zu dem Experiment motiviert, die unbescheidene Hoffnung, damit etwas über die großen Geheimnisse des Menschseins zu erfahren!“

Dieser Anspruch tauchte den Professor für Momente in eine lichte Melancholie. Jugendliche Empfindungen durchflogen sein Inneres, er spürte wieder das Feuer, nach dem Kern in allem zu forschen, jene ferne, beflügelte Zeit, in der die Welt noch nicht zersetzt gewesen war von dröhnenden Maschinen. Aber schon überschattete wieder die nüchterne Wirklichkeit den Lichtblick. Die Wissenschaft hatte die Epoche der Romantik überwunden, er war ihr auf diesem bitteren Weg gefolgt und wollte auch sein Gegenüber ohne Umschweife mit der nackten Wahrheit konfrontieren. „Nun“, fragte der Professor, während die Finger seiner Hände sich nervös umgarnten, „was sagen Sie, wenn ich behaupte, dass es keinen freien Willen gibt? Dass er tatsächlich weiter nichts ist als eine gelungene Illusion unseres Gehirns?“

Oskar Hofmann wäre diesem philosophischen Disput durchaus zugetan gewesen, aber stark und stärker faszinierte ihn die Frau auf dem Porträt. Es wusste gewiss, sie zu kennen; etwas eigentümlich Vertrautes ging von ihr aus. Die Gegenfrage, die er dem Professor stellte, kam deshalb weit aus der Ferne: „Ist diese Vermutung denn das Ergebnis Ihres Experiments?“

Professor Liebelt nickte bedächtig. „Sehen Sie, in den Wissenschaften ist der freie Wille lange schon umstritten. Die Psychologie schließt ihn aus, weil sie den Menschen als abhängiges Wesen enttarnt hat, gesteuert von Trieben und unbewussten Schemen. Die Naturwissenschaft zweifelt ihn an, weil etwas Freies, Unabhängiges grundsätzlich nicht in eine Welt passt, die Gesetzmäßigkeiten folgt. Und auch die meisten Philosophen haben die Willensfreiheit als eindrucksvolle Illusion erkannt, die aus unserem Bedürfnis nach Sinn erwächst und davon auch befriedigt wird! Das Götzenbild vom freien Menschen, der seine Entschlüsse zu verantworten hat, pflegt im Grunde jetzt nur noch die Theologie, weil dieses seltsame Fach das Entscheidende nicht zu wissen, sondern nur zu glauben fordert.“

Oskar Hofmann erwiderte nichts, und der Professor hielt abwartend inne. Kurz schweifte auch sein Blick hinüber zu der rot blühenden Schönheit. War er ins allzu Floskelhafte abgesunken? Glitten seine welterschütternden Folgerungen, die er schon so oft doziert hatte und dabei liebend gern selbst entkräftet hätte, an diesem Gast ebenso vorbei wie an Waltraud in den letzten Tagen?

Um den Musiker doch noch in seine Gedankenbahn zu zwingen, setzte der Professor seinen Monolog mit erhöhtem Eifer fort: „Wie Sie ja wissen, geschätzter Herr Kollege, konnte die Theologie bislang mit Fug und Recht behaupten, unsere Willensfreiheit sei nicht widerlegbar. Wir alle haben geglaubt, unabhängig zu sein in unserem Tun und Lassen. Aber mein Experiment beweist das Gegenteil – und zwar endgültig. Wir müssen uns damit abfinden, dass die Vorstellung von einem freien Willen im Menschen ebenso überholt ist wie der Gedanke, die Erde sei der Mittelpunkt des Alls. Wie sehr diese neue Wende unser Weltbild noch erschüttern wird, ist nicht absehbar. Welcher Richter wird den Mörder aburteilen, wenn er sicher weiß, dass es den eigenverantwortlichen Entschluss zur Tat nicht gibt? Wer wollte über Ethik und Moral befinden, wenn doch alles menschliche Verhalten nur der Ausdruck einer ewig experimentierenden Natur ist? Wer könnte noch behaupten, dass ein Mensch im Geist der Nächstenliebe mehr Werte in sich trägt als ein düsterer Sadist, der lustumnachtet quält und tötet?“

Professor Liebelt atmete schwer aus, ließ die Stille für seine Worte zeugen und schloss dann bedächtig mit prophetischenm Credo: „Die Theologie, mein lieber Herr Hofmann, ist am Ende! Die Macht des Glaubens verlor ihre Existenzberechtigung schon vor Jahrhunderten – und zwar durch das Experiment. Durch unseren Mut, tradierte Annahmen an der Natur zu messen. Und nun, nachdem der Nebel des Irrtums sich langsam auch aus unserer Innenwelt verzieht, tut sich ein einsamer Erkenntnispfad auf, furchtbar schmal, furchtbar öde. Wir finden keinen Halt mehr in einer Götterwelt oder in einer unverstandenen Dreieinigkeit, und noch weniger Halt in der hochgeschätzten eignen Geistigkeit! Es wird Generationen dauern, ehe wir gelernt haben, alle Gedanken und Gefühle als naturdiktiert zu akzeptieren. Wir müssen uns eingestehen, dass wir in Wahrheit keinerlei Gestaltungshoheit über die Artigkeiten und Abartigkeiten des Lebens besitzen. Wir müssen mündig werden im Wissen, dass nur eine unbegreifliche, dem Zufall ergebene Evolution uns das Hirngespinst von einem wollenden Ich zugedacht hat.“

Als der Professor geendet hatte, ließ Oskar Hofmann seine Widerrede in zwei Worten ersterben. „Nun, also –“ begann er, etwas Unverbindlicheres fiel ihm nicht ein, während er abermals überlegte, seinem Drang nachzugeben und sich geradeheraus nach der stolzen, rothaarigen Erscheinung zu erkundigen. Ganz sicher hatte er mit dieser reizvollen Frau schon einmal zu tun gehabt. Nur wann und wo? Die Höflichkeit gebot ihm, eine profanere Frage anzuschließen: „– mich interessiert zunächst natürlich, was bei diesem Experiment konkret geschehen ist!“

„Natürlich, das müssen Sie wissen!“, lachte Professor Liebelt, erfreut über die zart erblühende Anteilnahme seines Gastes. „Und es ist schnell erklärt! – Sie erinnern sich: Während unseres Experimentes sollten Sie jeweils eine Taste betätigen, die rote oder die grüne auf der Konsole, und zwar immer zu Zeitpunkten Ihrer Wahl, die von uns natürlich sorgfältig dokumentiert wurden. –“

Oskar Hofmann wartete die dramaturgische Pause geduldig ab. Erst sein zögerliches Nicken interpretierte der Professor als Signal, weiter zu sprechen: „Wie Sie wissen, haben wir über unseren Monitor die Vorgänge in Ihrem Gehirn beobachtet. Wir konnten zusehen, wie bestimmte Areale aktiv wurden, wie Impulse ausgingen, um zunächst die Muskeln zu stimulieren, damit Ihre Finger dann die gewünschte Bewegung ausführen. Aber das Aufregende bei jedem solchen Blick in das Steuerzentrum des Körpers ist, dass das Feuer der Neuronen nicht etwa erst nach dem Entschluss zündet, sondern bereits zuvor!“ – Wieder unterbrach sich der Professor und setzte dann in bedeutungsschwerer Langsamkeit und mit gefährlich weit aufgerissenen Augenlidern nach: „Wir sahen immer schon Sekunden vor Ihrem Entschluss, für welche Taste Sie sich entscheiden werden! – Verstehen Sie die ungeheure Dimension dieser Beobachtung? Wenn das Ich glaubt, einen Entschluss zu fassen, hat das Gehirn schon längst entschieden!“

Oskar Hofmann nickte seinem Gegenüber abermals Verständnis zu. Diese Feststellung erschien ihm wirklich überraschend, andererseits aber – und er wusste nicht, warum – auch keiner besonderen Aufregung wert. Indes gab der Professor seiner Unruhe Raum und durchwanderte energisch sein Büro: „Was wir in unseren Forschungen seit Jahrzehnten wieder und wieder beobachten, ist die uneingeschränkte Abhängigkeit des Menschen von seinem Gehirn. Demenz – eine geringe Störung, und das Ich verliert sich in der zeitlosen Gegenwart! Ein kleiner chirurgischer Schnitt an entscheidender Stelle, und der Charakter des Menschen verändert sich bis auf den tiefsten Grund!“ Professor Liebelt hielt kurz inne, dann sah Oskar Hofmann einen Zeigefinger vor seinen Augen zittern: „Doch die größte Leistung des Gehirns ist es, diesen unfassbaren Gedanken der Freiheit zu produzieren: Ich entschließe mich! In dieser ununterbrochenen Illusion des wachen Entscheidens gründet sich unser menschliches Selbstverständnis, die schützende gedankliche Kontinuität, die wir blauäugig als ,psychische Gesundheit‘ bezeichnen! Aber nichts davon ist real …“

An dieser Stelle unterbrach ein unsensibles, ungestümes Klopfen an der Tür den Vortrag. „Sie haben schon wieder Besuch, Herr Professor!“, rief der Student aus dem Vorzimmer in rüder Monotonie herein, öffnete gleichzeitig und presste sich ungelenk an den Rahmen. Schon trat die rothaarige Frau hoheitsvoll an ihm vorbei und schob hinter sich die Tür ins Schloss.

Eine blühende Welt durchhellte den versponnenen Arbeitsraum.

Benjamin Liebelt fand nicht sogleich die Brücke in diesen Garten, und sein zögerliches Ansinnen, die beiden Gäste einander bekannt zu machen, ging ins Leere. Oskar Hofmann drückte der Sängerin bereits beglückt die Hand: „Es ist mir eine große Freude, Frau Behrend!“

Als sie eingetreten war, hatte er sie sofort erkannt. Die absonderliche Lebensferne dieses Gebäudes musste ihm die ausgeprägte Erinnerung an die bekannte Künstlerin irgendwie vernebelt haben.

Venus in Person! Erst vor wenigen Monaten hatte er sie erstmals auf der Opernbühne erlebt – ein herrlicher, dramatischer Mezzo, eine intensive Schauspielerin mit hypnotischer Ausstrahlung, ein seltener Glücksfall für die alte Arche der Künste! „Ach, liebe Venus, lass’ mich zieh’n!“ Er hatte Tannhäusers verzweifeltes Abnabelungsmühen an jenem großen Abend lebhaft nachvollziehen können – wen hätte eine solche Liebesgöttin nicht gebannt!

Benjamin Liebelt lächelte ihr mehr gezwungen als begeistert zu und wies mit schlapper Hand auf seinen Gast: „Oskar Hofmann. Er ist Pianist, ein Künstlerkollege gewissermaßen. Er hat an meinem Experiment teilgenommen. Wir haben eben über den freien Willen diskutiert!“

Waltraud Behrend erwiderte nichts, sie schwieg nur das sonnigste Schweigen und wärmte den unbekannten Bewunderer wie selbstverständlich mit ihrer herzlichen Zuneigung. Er ruhte im Strahl ihrer Augen, tastete sich an der Schnur ihrer sorgsam gezupften Brauen entlang und glitt dann über die Hügel, die ihre hohen Backenknochen warfen, hinab zu den edel geschwungenen Lippen, diesen geheimnisvollen Wächterinnen eines Tors, dem so unbeschreiblich vielfarbige Töne und Stimmungen entströmen konnten. Er hörte Kundrys hysterisches Lachen, das impulsive Gezeter der Carmen und spürte Isoldes sehnsuchtsvollen Hauch an der Schwelle zur letzten Hingabe.

Doch schon zerrte der Professor an den Fäden zwischen Sängerin und Musiker und improvisierte den Schlussakt: „Nun, lieber Herr Hofmann, wir beide sind ja schon zum Ende gekommen. Es ist alles erklärt. Ich möchte Ihnen nur noch eine Empfehlung mit auf den Weg geben, einen guten Rat, dem auch ich zu folgen suche!“ Er schob ihn an der Schulter sanft aus dem Bannkreis der Venus und fuhr in der vertraulicheren Art, die ihre Gegenwart erzwang, mit gedämpfter Stimme fort: „Wenn Ihnen die große Illusion bewusst wird, die in der Idee des freien Willens liegt, wenn Ihnen aufgeht, dass Sie als Mensch gar nicht das sind, was Sie bisher zu sein glaubten, dann muss das im praktischen Leben nichts Großes verändern.“ Und kumpelhaft fügte er hinzu: „Ich denke, wir sollten weiterhin unseren moralischen Prinzipien folgen, unseren Wertvorstellungen, vielleicht sogar den religiösen Maßstäben. Auch wenn das gute alte, freie Ich nur eine Idee des Gehirnes ist, lässt es sich ja ganz gemütlich leben, nicht wahr?“ Jetzt schmunzelte er.

Oskar Hofmann nickte artig und schlug in die Hand des Professors ein. „Da haben Sie sicher Recht“, sagte er. „Und ich wünsche Ihnen Erfolg für die Publikation Ihrer Studie!“

Als er in den Augenwinkeln sah, dass Venus ihn noch immer musterte, entglitt er dem fixierenden Blick des Professors, trat entschlossen auf sie zu und lieh sich kühn ihre Hand für einen galanten Abschiedkuss. „Ich werde am 18. April in der Parsifal-Vorstellung sein“, sagte er. „7. Reihe links. Ich freue mich auf diese Gelegenheit, Sie wieder zu sehen!“

Sie löste schmunzelnd ihre gebieterische Haltung, hob den Kopf etwas zur Seite und fragend die Augenbrauen, und ohne sich um Benjamins Gegenwart zu kümmern, lud sie den charmanten Unbekannten ein: „Ich werde um 13 Uhr mit einer Freundin im Operncafé zu Mittag essen, vielleicht sogar in Klingsors Zaubergarten, sofern es draußen warm genug ist! Vielleicht möchten Sie uns begleiten!?“

„Sehr gern“, erwiderte er, nachdem er seine Überraschung verwunden hatte, sah sie an und kostete den lebensvollen Augenblick bis an die Anstandsgrenze aus. Dann verließ er wortlos den Raum.

Im Vorzimmer tappte zwischen den Schreibtischen immer noch der willensfreie Student umher, blind und taub vorbei an Oskar Hofmanns Abschiedsgruß.

 

– – 17. April

Amfortas, mein Lieber! Mir wird klar, dass ich deine Leiden nicht mehr lindern kann. Und dir in deinem bohrenden Erkenntnisschmerz scheint mein Rückzug ja sogar willkommen! 

Ich hoffe mit dir auf einen Parsifal, der dir Erlösung bringt. –

Leonie, meine Lieblingssouffleuse! Deine Routine in der Kunst, sich nicht zu zeigen, lässt mich dem morgigen Plauderstündchen wie ein junges Mädchen entgegensehen; aufgeregt wie am ersten Tag. Danke für deine vorauseilende Absage! – –

 

– – 18. April

Heute Mittag werde ich Kundry und wohl auch ein Blumenmädchen kennen lernen. –

Kurz und pathetisch also: Der „Parsifal“ meines Lebens! – –

 

Waltraud Behrend und Oskar Hofmann hatten sich in Klingsors Zaubergarten für einen gemütlichen Tisch in einer intimen Ecke entschieden.

Allein zu zweit scherzten sie über Wagners unselige Privatreligion, plauderten über große Rollen und kleine Regisseure, waren sich einig über die Notwendigkeit sprachlich gut gepflegter Tagebücher, philosophierten über das Erlösungsbedürfnis der Welt und diskutierten die Opferrolle der Frau. Der alte Richard habe das zur völligen Selbstaufgabe bereite weibliche Wesen in so vielem durchschaut; wie reizvoll wäre es gewesen, heute, hier in diesem Gastgarten, ein wenig mit ihm zu streiten!

Benjamin, der Professor, spielte demgegenüber eine unbedeutende Nebenrolle. Zwar wussten sie seiner Theorie des unfreien Willens, über die er sich bei jeder Gelegenheit ausließ, nichts wissenschaftlich Relevantes zu entgegnen. Aber Scanner, Monitore, Maschinengebrumm und Schädelschnitte erschienen vor diesem linden, viel zu kurzen Frühlingsnachmittag sowieso nur als ferne Staffage, bedeutungslos im Dreiklang von Leben, Lust und Liebe.

Als sie den Rausch vollendeter Übereinstimmung zu überwinden hatten, weil eine andere Welt auf Kundry wartete, quittierte sie sein inniges Umfassen ihrer Hand mit einem freundschaftlichen Kuss auf seine Wange, lachte beschwingt und stürmte dann durch den Künstlereingang des Opernhauses einer offenen Zukunft entgegen.

Er blickte ihr nach, und unwillkürlich fuhr ihm Parsifals dramatischer Ausbruch durch den Sinn, der hinter diesen Mauern bald über den Orchestergraben schallen würde. „Ha, dieser Kuss!“ Oskar Hofmann schmunzelte still in sich hinein. Das Schicksal des Amfortas hatte ihn nicht gestreift; frohgemut ging er in den großen Abend.

 

Doch das Bühnenweihfestspiel gewichtete sich anders als erwartet. Nicht Waltrauds stimmliche und darstellerische Weltklasse-Präsenz erhob den Abend zur Sternstunde, und auch nicht der junge, sportliche Heldentenor, der den erkrankten Parsifal im letzten Augenblick ersetzen musste. Das Wunder vollbrachte ein weißhaariger, langbärtiger Magier am Dirigentenpult, ein ungelenker, dramatisch übergewichtiger und wahrscheinlich sogar schwer asthmatischer Klotz aus dem Norden, ein erstarrter Körper, dem aber die Musikalität in unbändigem Strom aus den Unterarmen wogte, aus den Händen zitterte, aus den Fingerspitzen in das Orchester hinein vibrierte und dort einen überirdischen Klangteppich wob, wie ihn Oskar Hofmann noch nie gehört hatte. Er trug den jungen Parsifal mit größter Rücksicht durch das Tal der Suche nach sich selbst und nach dem Gral, er durchflog mit Kundry die Welten zwischen Licht und Dunkel, drängend, stürmend, wieder flüchtend.

Aber das alles verblasste gegenüber jenem erhabenen Moment im dritten Akt, wenn Parsifal als Gralskönig wiederkehrt und der alte Ritter Gurnemanz sich ihm andient. „Mittag. – Die Stund’ ist da. Gestatte, Herr, dass dein Knecht dich geleite!“

Nichts konnte der gewaltigen Verwandlungsmusik, die aus diesen Worten quillt, Einhalt gebieten. Zunächst tastete sich aus dem Graben nur ein leises, zart anschwellendes Om, Töne als Vorboten des Lichtes, die die Wege in das Dunkel erkunden, bis das Anschwellen der Streicher und Hörner das Herannahen von Größerem bezeugt, kühne und kühnste Erwartungen weckt, die Erfüllung aller Verheißungen. Dann aber rückt die Armee des Lichtes tatsächlich machtvoll näher und nahe, um im heiligen Schwingen der Gralsglocken alles Leben im Atem des Ewigen erglühen zu lassen.

Die weltfressenden Maschinen zerstoben in Sekunden, die Albträume endeten, die Irrtümer offenbarten ihre Nichtigkeit.

Benjamin Liebelt war staunend erstarrt. Die dem Orchestergraben prächtig entstiegene Wolke lagerte über der Welt und entlud sich im Feuer der Neuronen. Und die erschienen nur noch als Antennen für das Leben, das aus dem Unsichtbaren herüberschwappt! Es kündete der Gral aus ewiger Weisheit und entzauberte das Nichts hinter der Attrappe aller Forschung.

Oskar Hofmanns Finger glitten wie von selbst über die Tasten, offenbarten Transkriptionen aus dem Ewigen. Der Wille ist gedankenfreie Tat!

Als die Klangflut abebbte, war alles gezeigt, erfasst, enträtselt, die Welt entlastet vom Wahn des Grübelns und neu geborgen im Geheimnis des Empfangens. –

 

Der Gral enthüllt, Amfortas geheilt! Kundry lag, umflutet von herniederrieselnden Himmelsklängen, im Dunkel der Bühne. Auch sie, die Führerin und Verführerin, die Wortmächtige und Sprachlose, das durch Welten und Inkarnationen wandelnde Weib, war erlöst.

Als der steinerne Koloss zuletzt den Taktstock senkte und wie tot am Pult verharrte, lange noch, nachdem der letzte Ton zart und zart verklungen war, blieb es still im Saal. Das magische Band dieses Giganten zu jedem Menschen in den Reihen ließ den Applaus erst antoben, als seine eigene Lunge wieder bereit zur Aufnahme war.

 

Die Erhabenheit dieser letzten Stunde musste sie alle erfasst haben. Und als Kundry vor den Vorhang trat, um die Ovationen in sich aufzusaugen, spürte Oskar Hofmann ihren heißen Atem bis in die siebte Reihe. –

 

Freiheit ist kein ferner Traum, der Heilige Speer hat sie der Nacht entrissen. Das Drama endet. – –

Grafik: Hans Beletz