15. Oktober 2024

Sexueller Missbrauch – und der Weg in die Freiheit

Isabelle Müller im Gespräch (2013)

Im Buch „Phönix Tochter“ verarbeitete die Autorin Isabelle Müller ihre Kindheitserlebnisse – und wurde damit zur Wegweisern für viele von sexuellem Missbrauch Betroffene.

Sie haben unter dem Titel „Phönix Tochter“ ein beeindruckendes Buch geschrieben – über Ihren Lebensweg als fünftes Kind einer vietnamesischen Mutter und eines französischen Vaters. Sie schildern darin die ärmlichen Verhältnisse, in denen Sie aufgewachsen sind, die Fremdenfeindlichkeit, die Ihrer Familie in Frankreich entgegenschlug und auch, wie Ihr Vater Sie als Kind neun Jahre lang sexuell missbraucht hat. Solche Themen werden oft tabuisiert – wobei ja gerade das Wegschauen Fehlentwicklungen begünstigt. Warum haben Sie dieses Buch geschrieben? War es Therapie für Sie, um mit einer Lebensphase abzuschließen – oder wollten Sie von Anfang an gesellschaftlich etwas erreichen?

MÜLLER: Ich war in einer Phase meines Lebens angekommen, in der ich spürte, dass ich vieles in mir trage, was ich noch nie mitgeteilt hatte. Ich habe die Biographie meiner Mutter zu schreiben begonnen, wobei sich in ihre Vergangenheit natürlich auch meine mit hineingemischt hat. Als ich dieses Buch über meine Mutter dann fertig hatte, meinte der Verlag, dass es aus Marketinggründen ganz schlau wäre, zuerst das geplante Folgebuch zu veröffentlichen – also meine eigene Geschichte. So hat sich das zufällig gefügt, wobei ich nicht an Zufälle glaube.

Sie wollten also eigentlich die Biographie Ihrer Mutter schreiben!

MÜLLER: Genau, das Buch, das jetzt als nächstes veröffentlicht werden soll. Es ist besonders exotisch und spannend, weil es auch die Geschichte Vietnams, Frankreichs und Algeriens aufarbeitet, wobei es mir immer ein Anliegen ist, vom Schicksal ganz normaler Menschen zu berichten, vor allem zu zeigen, was ganz einfache Frauen ertragen und erreichen können im Leben. Ich würde nicht über Promis schreiben wollen. So wurde ich also vom Verlag dazu gebracht, meine Autobiographie zu schreiben, und es wurde mir erst nach der Veröffentlichung bewusst, dass manche Themen darin schockierten. Ich sprach zum Beispiel die Armut an, die in Frankreich auf dem Land herrschte, und die Diskriminierung, die Ausgrenzung, die gegenüber Fremden betrieben wurde. Viele Leute waren schockiert und, ich würde sagen sprachlos, als sie das in dieser Form hörten. Und einige, vielleicht fünf Prozent, waren wirklich empört. Sie haben mich dann fast angegriffen und gesagt: „Warum tust du das? Du hast doch alles!“

Sie wollten wahrscheinlich vor allem nicht, dass Sie das Thema des sexuellen Missbrauchs an die Öffentlichkeit tragen …

MÜLLER: Ja, sie haben sich gewundert, warum ich intime Themen so offen und frei anspreche und erzähle, was ich empfunden und erlebt habe. Sie meinten, darüber spricht man nicht – und Du hast doch alles, Du hast Kinder, Dein Mann ist ein bekannter Unternehmer, das macht man nicht. Aber ich habe geantwortet: Nein, ich sehe das anders, denn eben weil viele Menschen so wir Ihr denken, werden solche Themen immer im Schatten bleiben – und das darf nicht sein. Wenn man gegen diese Dinge kämpfen will, sollte man sie ans Licht bringen. Bei meinen Lesungen habe ich dann bemerkt, wie groß der Bedarf ist, etwas in diesem Bereich zu tun. Viele Leute saßen in diesen Lesungen zunächst mit verschränkten Armen, als skeptische Beobachter – aber schon nach ein paar Worten und Erzählungen haben sie sich entspannt, und ich konnte miterleben, wie ich ihr Herz berührte. Viele betroffene Menschen sind in ihren eigenen Erlebnissen gefangen, weil die Gesellschaft das Thema Missbrauch tabuisiert. Aber solange man das tut, werden diese Menschen sich in ihrer Opferrolle einkapseln und leiden. Ich weiß genau, wovon ich rede, ich weiß genau, wo es weh tut, ich weiß genau, wie sich ein Opfer fühlt, und ich weiß auch, wie ein Täter tickt. Aber ich habe zum Unterschied zu vielen anderen Menschen genug Kraft gefunden, um aus der Abwärtsspirale rauskzukommen und zu sagen: Es gibt so viel mehr im Leben, so viel Schönes, Gutes, dass es viel zu schade wäre, einfach ein Leben lang zu jammern und zu sagen: „Ihr seid alle schuld, ich bin das Opfer, ich kann keine Freunde finden, keine Arbeit finden, mein Leben ist pfutsch!“ So gesehen, verkörpere ich den Ausweg ins Glück, die Hoffnung.

Sie hatten bei ihren Lesungen also immer wieder das Gefühl, mit dem sexuellen Missbrauch innerhalb der Familie ein Thema anzusprechen, das viele Menschen persönlich berührt …

MÜLLER: Ja, ich habe immer wieder erlebt, dass sich Zuhörer outeten. Bei zwei von meinen insgesamt 148 Lesungen sind Männer aufgestanden und gegangen – und ich bin mir sicher, dass es Täter waren. Für diese Menschen habe ich ein Gespür. Sie kamen aus Interesse; dann aber haben sie bemerkt, dass mein Blick sie durchdringt und sie haben den Saal verlassen. Auch so etwas passiert!

Wie haben Sie denn für die Biographie recherchiert? Sind Sie an die Orte gereist, wo ihre Mutter gelebt hat? Und was hat Sie überhaupt dazu motiviert, ihre Lebensgeschichte zu schreiben?

MÜLLER: Ja, ich habe diese Reisen mit meiner Mutter unternommen. Es war so: Schon im Alter von 6 Jahren wusste ich, dass ich Schriftstellerin werden wollte. Es mag ein bisschen komisch erscheinen, aber meine Mutter hat mir über Jahre hinweg immer über ihr Leben erzählt, diese Geschichte kenne ich auswendig. Später habe ich dann angefangen, mir Notizen zu machen, Daten und Fakten aufzuschreiben, denn die Biographie war immer im Gespräch. Für mich war das sehr wichtig, denn ich bin halb Französin, halb Vietnamesin, ich habe asiatisches Blut, ich habe eine besondere Haltung zur Natur, zum Universum, ich spüre zum Beispiel die Sprache der Tiere. Mein Opa konnte mit Elefanten reden – wenn man so etwas in Europa sagt, würde man nur zu hören bekommen, dass es noch einen Platz in der Psychiatrie gibt. Diese Nuancen, die ich mitbekommen habe, die Teil meiner Kultur und Erziehung waren, wollte ich tiefer ergründen. Meine Mutter war ein Freigeist, sie war für mich wirklich ein besonderer Mensch, und ich wollte als erstes erfahren, ob alle Vietnamesen so sind wie meine Mutter. Ich habe dann sehr schnell festgestellt, dass nicht alle so sind wie sie. Meine Mutter war ein ganz besonderer Mensch mit einer besonderen Haltung.

Ihre Mutter ist ihrem Vater, der ein Besatzungssoldat war, nach Frankreich gefolgt. Sie schildern in Ihrem Buch, wie sie dort auf Grund ihrer Abstammung gesellschaftlich ausgegrenzt wurde und wie Ihre Familie in ärmsten Verhältnissen aufwuchs, viele Dinge brachte Ihr Vater aus der Müllhalde nach Hause. War das aus Ihrer Sicht ein besonderes Schicksal, oder haben das viele Menschen in ähnlicher Form erlebt?

MÜLLER: Es gab einen Riesenunterschied zwischen Provinz und Großstadt. In der Stadt gab es Penner und Bettler, Menschen, die wirklich nichts zu essen hatten, aber es war nicht so krass wie in der Provinz. Hier gab es quasi keine Kultur. Man hat abends sein Glas Rotwein getrunken, man saß vor der Glotze, die Frau hat die Wäsche und den Garten gemacht und hat vier, fünf, sechs, sieben Kinder gekriegt. Wir hatten Kontakt zu anderen Schichten der Gesellschaft, es gab sehr viele Portugiesen, Spanier, und es gab auch Roma. Sie wurden genauso ausgegrenzt wie wir. Eine Familie lebte zum Beispiel in einem Wohnwagen – die Eltern mit 14 Kindern … kein fließendes Wasser, keine Heizung … die haben dann im Freien gekocht, haben aus alten Autoreifen ein Feuer gemacht und regelmäßig Wäsche geklaut, die draußen hing. Diese Armut wurde von den besser gestellten Franzosen, von den stolzen Grande-Nation-Vertretern, gemieden. Sie kannten genau alle Plätze, wo solche Menschen lebten, und wenn sie zum Beispiel Besuch von ihrer Verwandtschaft bekamen, dann vermieden sie es, Wege zu fahren, auf denen diese Armut ins Auge gestochen hätte. Es war ein bewusstes Wegschauen.

Also kein Schicksal, das nur Ihre Familie erlebte …

MÜLLER: Es gab gewiss sehr viele ähnliche Schicksale.

Ich fand es beeindruckend, wie Sie im Buch Ihren Vater schildern – nämlich eher mit dem Abstand, den ein Romanautor zu seinen Protagonisten hat. Sie beschreiben sehr lebensnah, wie er und ihre Mutter sich kennenlernten, wecken sogar Verständnis für seine schwierige persönliche Situation, schildern dann aber detailliert, wie er sich immer mehr zum Tyrannen entwickelte und begann, Sie rücksichtslos zu missbrauchen. Sie lassen allerdings offen, wie ihr heutiges Verhältnis zu ihm ist. Lebt er noch?

MÜLLER: Ja, er lebt noch, meine Mutter ist vor zehn Jahren gestorben. Nach ihrem Tod hat er mitbekommen, dass ich gefragt wurde, meine eigene Lebensgeschichte niederzuschreiben, und er wollte, dass ich diese Sachen herauslasse. Aber ich habe ihm gesagt, ich kann sie nicht weglassen, denn das waren neun Jahre meines Lebens, diese Erlebnisse haben mich mit zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Seit dem Erscheinen des Buches hat er den Kontakt zu mir abgebrochen. Vorher hat er, als ich alles noch einmal zur Sprache brachte, zunächst versucht zu leugnen und gesagt: „Na, was hab‘ ich Dir schon angetan?“ Da war ich kurz davor, ihn hinauszuwerfen. Dann habe ich ihn gebeten, er soll wenigstens zu seinen Taten stehen, als Mann, sonst hätte er hier nichts mehr verloren. Schließlich brach er in Tränen aus und bat mich um Verzeihung. Und ich habe gesagt: „Das brauchst du nicht tun, denn verziehen habe ich dir schon lange.“ Aber das hat er nicht begriffen, ich glaube, er hadert noch mit der Sache. Ich habe ihm verziehen und musste das auch tun. Als ich mein eigenes Leben habe Revue passieren lassen, war ich dabei wie eine Zuschauerin in einem Kinosaal, und ein solcher Abstand ist sehr wichtig, denn dadurch tut es nicht mehr weh. Es ist ein Abstand, der mich davor schützt, darunter noch zu leiden.

An vielen Stellen in Ihrem Buch sprechen Sie die Spiritualität an. Sie beschreiben, dass Sie einmal nachts aus ihrem Körper „herausgeschlüpft“ sind, Sie beschreiben zum Beispiel auch die Auffassung Ihrer Mutter, was die richtige Art des Betens anlangt: „Beten heißt einfach, mit dem Herzen rufen, egal, wo du dich befindest!“ An einer anderen Stelle zitieren Sie einen Geistlichen, der zu Ihnen sagte: „Sie armes Schaf brauchen dringen geistige Nahrung“, weil sie nicht regelmäßig an Gottesdiensten teilnehmen wollten. Welches Verhältnis haben Sie, zusammenfassend gesagt, zu Religion und Spiritualität?

MÜLLER: Freigeist! Meine Mutter hat immer gesagt: „Du hast eine Zunge bekommen, um Fragen zu stellen, und du hast einen Geist bekommen, um darüber nachzudenken. Bilde Dir selbst Dein Bild von der Welt. Versuche zu empfinden, was richtig ist und was falsch ist, was gut ist und böse ist. Und versuche, alles, was uns umgibt, zu respektieren, denn alles ist lebendig. Wenn man mit diesem Bewusstsein aufwächst, dann geht man mit all dem, was man hat, anders um, auch zum Beispiel mit Worten. Deshalb rede ich auch von der „Macht des Herbeirufens“. Diese Macht des Wortes – es gibt sie wirklich. All das, was wir denken, spüren und sagen, hat eine Kraft, es sind Signale, die wir senden, es ist Energie, die wir senden. Deswegen haben die Gebete, von denen meine Mutter gesprochen hat, Wirkung. Wenn man aus der Tiefe des Herzens betet, in der Haltung grundehrlich und „nackt“, ohne Berechnung, dann wird das erhört, und irgendwann findet es uns, erreicht es uns. Es kommt darauf an, was man aus tiefstem Herzen empfindet.

Sie beschreiben im Ihrem Buch – etwa im Zusammenhang mit ihren verzweifelten Selbstmordversuchen oder als Sie knapp einer Entführung entkamen: „Mein Glück, davongekommen zu sein, hatte ich einzig meinen himmlischen Beschützern zu danken. Sie passten auf mich auf.“ An einer anderen Stelle formulieren Sie, daß ein „recht unsanfter göttlicher Tritt mich endlich aus der Lethargie erwachen ließ“. Rückblickend betrachtet, im Hinblick auf die vielen Hürden in Ihrem Leben: Haben Sie den Eindruck, dass das, was Sie erlebt haben, einen tieferen Sinn hat?

MÜLLER: Es gibt immer wieder Situationen, die zum Nachdenken über den Sinn des Lebens anregen. Man stellt sich die Frage „Warum gerade ich?“, „Warum gerade jetzt?“ – und so weiter. Im Moment selbst begreift man den Schicksalsschlag nicht, im Nachhinein aber schon. Und ich kann behaupten, dass ich genügend erlebt habe, um zu sagen: Ja, wir werden geführt, wir haben eine Bestimmung. Und wenn wir nicht wissen, welche Bestimmung wir haben, findet irgendwann einmal die Bestimmung uns. Sie kommt auf uns zu.

Wie schätzen Sie denn im Hinblick auf eine Führung das Schicksal Ihres Vaters ein? Er hatte ja eine unheilbare Krebserkrankung, gesundete auf geheimnisvolle Weise und versteigerte sich später offenbar, wie Sie andeuten, in die Phantasie, eine besondere Berufung zu haben, auserwählt zu sein. Mann gewinnt dabei den Eindruck, hier wären sozusagen „dunkle Kräfte“ im Spiel.

MÜLLER: Dunkle und helle Kräfte gibt es gewiss im Leben, klar. Aber der Mensch ist seines Schicksals Schmied. Jeder bekommt Chancen, etwas zu ändern. Ich glaube, mein Vater hat durch diese wundersame Heilung die Chance bekommen, ein neuer Mensch zu werden. Was er daraus gemacht hat, erfährt man im Buch. Aber ich bin nicht der Richter, ich verurteile nicht – er muss mit seinem Leben klarkommen. Am Ende, davon bin ich überzeugt, werden alle Menschen sowieso alles verantworten müssen. Manche werden gut schlafen können, manche nicht. Ich glaube wirklich, dass man an sich arbeiten kann. Man kann sein Leben verbessern. Indem man versucht, selbst ein guter Mensch zu sein, schafft man gleichzeitig eine bessere Welt. Es ist ganz wichtig für unsere Nachkommen, wenn man diesen Gedanken weitergeben kann: Ich lebe nicht egoistisch nur für mich, sondern ich lebe so, dass es das Gefühl der Liebe und der Dankbarkeit für das, was ich habe, ausdrückt. Zum Beispiel Frieden. Wir haben in Deutschland Frieden! Ist das selbstverständlich? Fragen Sie sich, was wirklich selbstverständlich ist. Leben ist nicht selbstverständlich, gesund leben ist nicht selbstverständlich, und in Frieden leben ist auch nicht selbstverständlich. Das ist der Punkt, den so viele Menschen vergessen. Deshalb ist es wichtig, darauf aufmerksam zu machen.

Haben Sie das Gefühl, dass es in unserer Gesellschaft so eine Art Wohlstandslethargie gibt, weil man das, was man hat, nicht ausreichend schätzt?

MÜLLER: Lethargie? Nein, dieser Ausdruck ist nicht schlimm genug. Es geht um Wohlstandswahnsinn. Es wäre schön, wenn es nur lethargisch wäre, dann würde es aufhören zu wachsen.

Aber die allgemeine Einstellung wirkt zunehmend zerstörerisch …

MÜLLER: Ja!

Wie schätzen Sie die Entwicklung unserer Gesellschaft insgesamt ein? Geht es überall in die falsche Richtung oder gibt es Hoffnung?

MÜLLER: Das was mich am Leben hält, ist die Liebe. Und das was mich am Leben hält, ist die Geradlinigkeit des Herzens. Ich glaube immer noch an das Gute im Menschen. Das ist das, was mich eigentlich ermutigt, zu Menschen zu gehen und mit ihnen zu sprechen. Auch wenn es nur 0,000001 Prozent sind, die gut sind – es lohnt sich immer. Die Entwicklung insgesamt ist überhaupt nicht nach meinem Geschmack. Die Menschen sind in einer Spirale der Schnelllebigkeit gefangen, sie wollen immer mehr, sind unersättlich, anstatt dass sie dankbar für das sind, was sie haben. Diese Einstellung macht die Menschen kaputt ohne dass sie es merken. Oder sie bemerken es, wenn es zu spät ist. Aber Hoffnung besteht immer.

Was ist denn die wichtigste Botschaft, die Sie vermitteln wollen? In Ihrem Buch findet man ja einige gute Wegweisungen. Zum Beispiel den Satz „Eine Zukunft bietet sich erst an, wenn man sie selbst in die Hand nimmt.“ Oder: „Aus jedem Stein, den sie uns vor die Füße werfen, werden wir unseren Weg bauen.“ Oder auch ihre offene Schilderung, wie schwer, aber wichtig es sein kann, Hilfe annehmen zu lernen. Was ist Ihr Kernanliegen?

MÜLLER: Ich würde sagen: Auch wenn das Leben risikoreich ist, lohnt es sich, das Risiko einzugehen. Man kann auf die Schnauze fallen, und es gibt immer wieder böse Menschen, aber das Leben lohnt sich, gelebt zu werden. Und man sollte vor allem versuchen, es mit Liebe zu füllen. Ich denke, wenn die Menschen dieses Gefühl hätten und keine Machtansprüche stellen würden, wäre alles anders. Sehen Sie sich einmal die Weltsituation an: über 120 Kriege werden weltweit tagtäglich geführt – seit ich Baby bin, ist das so. Warum? Weil es immer den einen gibt, der sagt: „Ich bin mächtiger als du – und du machst das, was ich will!“ Das sollte aufhören. Den anderen bevormunden zu wollen, zeigt immer einen Mangel an Liebe.

Was kann der Einzelne tun, um etwas daran zu ändern und nicht nur resiginierend zuzusehen?

MÜLLER: Man kann als erstes versuchen, ein Vorbild zu sein, zum Beispiel als Eltern eine gute Einstellung an die nächste Generation vermitteln. Und man kann bewusst sein Umfeld aussuchen und in diesem wirken. Was mich persönlich betrifft: Ich habe keine Scheu, vor Menschenmassen zu reden, ich möchte mit meinen Themen an die Öffentlichkeit gehen und Impulse geben. Aber dabei spielt natürlich die Presse eine Rolle. Wenn die Presse nicht zu Ihnen steht, kann sie Sie kaputtmachen, wenn die Presse Sie liebt, macht sie Sie zum Helden …

Was hat sich denn durch die Veröffentlichung Ihres Buches „Phönixtochter“ in Ihrem Leben geändert? Haben Sie im Rückblick auf die Lesungen und Reaktionen den Eindruck, dass Sie alles richtig gemacht haben? Oder würden Sie heute manches vielleicht doch nicht oder in anderer Art sagen?

MÜLLER: Nein, ich würde es wieder so machen. Ich würde mich, was Textkürzungen und -bearbeitungen anbelangt, vielleicht nicht mehr so von einem Verlag malträtieren lassen, sondern einfach schreiben was ich denke. Aber inhaltlich bedauere ich nichts, ich stehe dazu, und ich habe ein gutes Gefühl dabei, weil ich die Dankbarkeit in den Augen der Menschen gelesen habe. Ich habe so viele Mails, so viele Zuschriften bekommen – ich kann nicht alle beantworten –, und das, was mir die Menschen schreiben, ist wunderbar. Es gibt mir selbst Hoffnung. Ein Beispiel: Während einer geschäftlichen Veranstaltung am Hockenheimring, etwa ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung des Buches, kommt ein Mann auf mich zu, ganz adrett gekleidet, ein Businessman, und spricht mich an: „Sind Sie die Frau Müller?“ – „Ja.“ – „Ich habe Ihr Buch gelesen“, sagt er mir. „Ach, wirklich?“ Und als Spaß sage ich noch: „Das hat Ihre Frau gekauft, und Sie haben es auf dem Klo gelesen!“ – „Nein“, sagt er ernst, „ich interessiere mich für die Materie. Dürfte ich mit Ihnen sprechen?“. Uppsala, hm, denke ich, Fauxpas! Kann passieren … Dann sind wir um die Ecke gegangen, und dieser Mann hat mir sein Leben erzählt: Er und seine Frau hatten eine zweijährige Tochter, die vom elfjährigen Cousin vergewaltigt worden war. Es war eine einmalige Sache, aber schlimm genug. Das Kind hat mehrere Therapeuten bekommen und alles einigermaßen überstanden, überwunden – im Unterbewusstsein gewiss noch nicht –, die Mutter hat es auch besser verarbeitet, aber er als Vater hatte ein Riesenproblem damit. Und dann hat er mir gesagt: „Frau Müller, ich habe Ihr Buch gelesen. Bei Ihnen waren es neun schlimme Jahre, und heute treffe ich Sie zufällig, und ich sehe eine schöne, glückliche Frau vor mir stehen. Und wissen Sie was? Ich weiß jetzt, dass meine Tochter es schaffen wird!“ Was wollte ich mehr? Ich habe diesen Mann, diesen Vater glücklich gemacht – einfach so! Dieses Erlebnis hat mich getragen, und ich habe gedacht: Siehst du, es ist nicht umsonst, dass du dieses Buch geschrieben hast. Du gibst den Menschen die Hoffnung in einem Bereich, wo sie sie dringend brauchen!

Das ist schön! Was sind jetzt Ihre weiteren Pläne? Als nächstes Buch wird die Biographie Ihrer Mutter veröffentlicht, nehme ich an.

MÜLLER: Ja, genau, ich hoffe, noch in diesem Jahr! Ich suche einen Verlag, weil ich den S.-Fischer-Verlag verlassen werde. Wir kommen nicht zusammen …

Trotz des Erfolgs? Immerhin wurde 2011 die zweite Auflage des Buches veröffentlicht.

MÜLLER: Sagen wir so: Eine zweite Auflage im Hardcover-Bereich ist ja wunderbar, keine Frage! Das Problem ist, dass die Marketingleute es nicht beachten. Für sie zählt Erfolg ab 100.000 verkaufte Bücher. Das sind klare Worte … Es geht nicht um den Wert des Buches, es geht um Geld. Deswegen suche ich einen anderen Verlag. Es ist für mich ein ganz besonderes Buch, und ich möchte damit gern bekannter werden. Darin geht es um das Schicksal eines Kindes in einer fremden, exotischen und harten Welt. Der Weg, den dieser Mensch gegangen ist, sollte heute durchaus als Beispiel dienen. Das Buch enthält eine frohe Botschaft, die ich weitertragen möchte, wie der Weg meiner Mutter mich getragen hat …

Viel Erfolg damit und alles Gute!

(Das Interview in PDF-Form mit Bildern und viele weitere Informationen finden Sie auf der Homepage von Isabelle Müller)

Sexueller Missbrauch: „Die Hoffnung war mein Weg“ | Isabelle Müller im Gespräch

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