26. April 2024

„Verwandt sind uns’re Seelen beide!“

Werther

• Eine Oper in vier Akten von Jules Massenet 

Libretto: Édouard Blau (1836–1906), Paul Millet (1855–1924) & Georges Hartmann (1843–1900) 
Musik: Jules Massenet (1842–1912) 
Uraufführung: 16. Februar 1892, Wien (Hofoper) 
Dauer: ca. 2,5 Stunden, eine Pause

Akte:
1. Das Haus des Amtmanns bei Wetzlar
2. Der Hauptplatz in Wahlheim
3. Alberts Haus
4. Werthers Arbeitszimmer

Hauptpersonen:
Werther: Tenor
Albert: Bariton
Charlotte (Lotte): Mezzo
Sophie, Charlottes Schwester: Sopran
Der Amtmann, Charlottes Vater: Bass
Schmidt, Freund des Amtmanns: Tenor
Johann, Freund des Amtmanns: Bariton
Brühlmann, ein junger Mann: Tenor
Käthchen, ein junges Mädchen: Sopran

Kurze Werkeinführung

Die Werke Johann Wolfgang von Goethes (1749–1832) spielten für die französische Oper in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle. Neben Hector Berlioz’ „La damnation de Faust“ (Fausts Verdammnis) und Charles Gounods „Faust“ ist die Vertonung der „Leiden des jungen Werthers“ durch Jules Massenet (1842–1912) eine weitere bedeutende Oper, die auf einem Roman Goethes beruht.

Als Massenet mit der Komposition des „Werther“ begann (1885), hatte er sich als Opernkomponist – vor allem durch sein Werk 1884 in Paris uraufgeführtes Werk „Manon“ – bereits einen Namen gemacht. Dennoch stand man dort dem düster-schwermütigen Stoff skeptisch gegenüber, und nachdem die Opéra-Comique im Mai 1887 gebrannt hatte, kam dort eine Uraufführung nicht mehr in Betracht. Also fand die Premiere von „Werther“ 1892 an der Wiener Hofoper – in einer deutschen Textfassung – statt.

Heute gilt „Werther“ als Massenets bedeutendste Oper. Sie steht regelmäßig auf den Spielplänen großer Häuser, wobei die Titelpartie gelegentlich auch von einem Bariton gesungen wird. Mit dieser  Bariton-Fassung entsprach Massenet seinerzeit der Bitte eines Sängers (Mattia Battistini); sie wurde 1902 erstmals aufgeführt.

Johann Wolfgang von Goethe hatte in seinem Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ einen jungen Rechtspraktikanten – Werther – in den Mittelpunkt gestellt, der emotional in seiner unglücklichen Liebe zu Lotte feststeckt. Das Mädchen ist mit einem anderen Mann verlobt; Werther berichtet über seine Leiden – bis er sich schließlich das Leben nimmt. Demgegenüber rückten Massenets Librettisten die Figur der Charlotte stärker ins Zentrum. In der Oper leidet auch sie und empfindet Werther gegenüber echte Liebe.

Die Handlung

Kurz und gut

Gute Wünsche bedeuten für die Tochter nicht zwangsläufig Lebensglück, selbst wenn die Mutter sie am Sterbebett äußert. Die Oper „Werther“ lehrt uns, erstens mit Vernunftehen und zweitens mit romantischen Wallungen vorsichtig zu sein. Vor allem aber überrascht sie damit, dass im Schlussakt ausnahmsweise nicht die Frau, sondern der Mann sein Leben lässt.

1. Akt: Das Haus des Amtmanns bei Wetzlar

Seit dem Tod seiner Frau lebt Amtmann mit seinen neun Kindern allein in seinem Haus. Charlotte, die älteste Tochter, und Sophie, die zweitälteste, haben Haushaltsführung und Kindererziehung übernommen.

Es ist Juli, mitten im Sommer, aber die Kinder üben mit ihrem Vater bereits Weihnachtslieder. Schmidt und Johann, zwei Freunde von Amtmann und Paten der Kinder, kommen kurz auf einen Besuch vorbei, scherzen über diese „zeitige Vorsorge“ und plaudern über das anstehende Tanzfest, auf dem sich Charlotte an diesem Abend sicher gut amüsieren werde.

„Sogar Herr Werther freut sich auf den Ball“, bemerkt Schmidt. Der stille Einzelgänger, der Charlotte zu dem Fest begleiten soll, ist ihm nicht ganz geheuer. Gelehrt und fleißig scheint Werther ja zu sein, aber „gar so melancholisch …“

Schließlich drängen Schmidt und Johann ihren Freund Amtmann, abends auf ein Gläschen Wein mit in den „Goldenen Stern“ zu kommen. Er sagt vage zu – ahnend, dass die gute Sophie sich wohl allein um die Kinder kümmern werde, wenn Charlotte auf dem Fest ist –, und die Freunde machen sich zufrieden wieder auf den Weg. Kurz erkundigt sich Schmidt im Gehen noch nach Albert, der Charlottes Ehemann werden soll und seit einem halben Jahren auf Reisen ist. Er müsse jetzt doch eigentlich schon zurück sein …

Amtmann beruhigt, frühestens morgen könne man Albert erwarten. „Um seinetwillen keine Sorgen“, meint er – und macht es sich im Lehnstuhl bequem.

Indes trifft Werther in Amtmanns Haus ein; ein junger Bauernbursch hat ihm den Weg gezeigt. Er ist gekommen, um Charlotte abzuholen und beobachtet fasziniert und ungewöhnlich tief bewegt die häusliche Idylle: Kinder, die Weihnachtslieder singen, zwei glücklich verliebte junge Menschen – Brühlmann und Käthchen – und vor allem Charlotte, die sich so überaus liebevoll um ihre Geschwister kümmert.

Amtmann stellt Werther seine älteste Tochter vor, und bald folgen die beiden den anderen, die ebenfalls zum Ball unterwegs sind.

Sophie hat natürlich mitbekommen, dass Schmidt und Johann ihren Vater im „Goldenen Stern“ treffen wollen. Sie verspricht ihm, sich um die Kinder zu kümmern, reicht ihm Stock und Hut, und „drängt“ ihn fürsorglich („Du musst ja gehen! Die Freunde sehen dich so gern!“) aus dem Haus.

Amtmann macht sich „in komischer Ergebung“ („Auf einen Schluck, nun gut … Dein Wille soll geschehen“) zufrieden auf den Weg. –

Als die Nacht hereinbricht, erreicht Albert, Charlottes Verlobter, Amtmanns Haus. Dort findet er zu seiner Überraschung nur Sophie vor. Diese beteuert, es habe ja niemand gewusst, dass er schon heute kommen würde. Lotte sei bei einem Tanzfest. Und ja, natürlich habe ihre Schwester während der langen Zeit seiner Abwesenheit an ihn gedacht – „denkt man den Fernen denn nicht immer?“

Zufrieden und entschlossen, Charlotte nun bald zu heiraten, verabschiedet sich Albert. –

Später in der Nacht begleitet Werther Charlotte zurück zum Haus. Die beiden gehen Arm in Arm, und Werther gesteht ihr nun seine Liebe („Rêve ! Extase ! Bonheur !“). „Verwandt sind uns’re Seelen beide“, ist er überzeugt. Gleich als er sie das erste Mal bei den Kindern gesehen habe, da habe er gewusst, dass sie „ein Engel“ sei, „das edelste Geschöpf, ganz ohne Fehl und Mängel!“ Er liebe sie, wolle für den „Glanz ihres Blickes“ sein Leben hingeben …

Und just in diesem Moment ruft Charlottes Vater, der gerade aus dem „Goldenen Stern“ zurückgekehrt ist, seine „frohe Botschaft“ in die Nacht: „Lotte, Lotte, denk’ Lotte, Albert ist schon da!“

„Wer? Albert?“ In düsterer Ahnung fragt es Werther. Und Charlotte erzählt ihm leise, dass ihre Mutter am Totenbett den Wunsch geäußert habe, sie solle Albert heiraten. Und sie habe es ihr versprochen.

Werther knickt innerlich zusammen und „verbirgt schluchzend das Gesicht in den Händen“, während Amtmann seine Tochter ins Haus führt:

Und diesen Eid sollst Du erfüllen! …
Ich sterbe gern! … O Lotte!

Sie wendet sich noch einmal traurig zu ihm um. Werther bleibt allein, verzweifelt zurück.

2. Akt: Der Hauptplatz in Wahlheim

Es ist Herbst geworden. Charlotte hat, dem Wunsch ihrer Mutter folgend, Albert geheiratet. Im Ort wird ein Fest zu Ehren des Pastors vorbereitet. Johann und Schmidt preisen vergnügt die Segnungen des Schöpfers, vor allem in Form des Weines. Werther indes ist tief in seinem Kummer versunken und kann seine Liebe zu Charlotte nicht überwinden. Vergeblich hatte er sich darum bemüht, ihr, der verheirateten Frau, nur der gute Freund zu sein, mit dem sie musizieren und sich über die Künste austauschen kann.

Albert ahnt, was Werther bewegt und spricht ihn offen darauf an. Er könne es „frei gestehen“, wenn er von Lotte geträumt habe, früher, als er sie vielleicht „noch frei geglaubt“. Doch Werther verleugnet seine Gefühle. Er habe der Leidenschaft Widerstand geboten, sein Los sei es nun, „entsagend sich zu freu’n“.

Vorsichtig versucht Albert noch, Werthers Interesse auf Charlottes Schwestern Sophie zu lenken, die mit ihm den Ball eröffnen soll. Doch ohne Erfolg. Werther hat nur Empfindungen für Lotte, die Ausgelassenheit der anderen schmerzt ihn.

Gerade hat er sich entschlossen, der Veranstaltung nicht beizuwohnen, als er Charlotte aus der Kirche kommen sieht. Er nähert sich ihr, spricht sie an, erinnert sie an jenen Abend, als sie einander näher gekommen waren … doch Charlotte will sich auf solche Erinnerungen nicht einlassen. Sie rät Werther, sich von ihr fernzuhalten („Der Trennung Zeit wird Ihnen Frieden schenken“) … wenigstens bis Weihnachten.

Werther folgt diesem „Befehl“, aber er kämpft mit sich, weiß, dass er Lotte niemals wird vergessen können und denkt schon an den Tod als einzig möglichen Ausweg. („Lorsque l’enfant revient d’un voyage“):

Ich will mich männlich fassen,
Was sie befahl, das werd ich tun! …
Doch … wenn die Kräfte mich verlassen?
Dann, armes Herz, sollst Du für immer ruh’n!

Schließlich, als der Festzug naht und Sophie ihn zur Eröffnung des Balls ruft, fasst Werther den Entschluss zu gehen. Er verabschiedet sich hastig („Ich muss fort von hier … sogleich!“) und stürzt davon. Sophie sieht ihm fassungslos nach und beginnt dann zu weinen: „Ach Gott! Ich konnte mich so glücklich wähnen!“

Als Charlotte und Albert erfahren, was geschehen ist, ahnen Sie sogleich, was Werther zur Flucht bewegt hat. Lotte bestürzt fürchtet, ihn niemals mehr wieder zu sehen – und für Albert ist es nun Gewissheit geworden, das Werther seine Frau liebt.

3. Akt: Alberts Haus

Es ist Dezember geworden. Charlotte sitzt allein an ihrem Arbeitstisch im Empfangszimmer von Alberts Haus. Ihr Mann ist verreist, sie muss unablässig an Werther denken. Denn dieser hat ihr in den vergangenen Monaten Briefe geschrieben, ihr erneut seine Liebe beteuert, und Charlotte ist klar geworden, dass ihr „das Beste zu fehlen scheint“, seit er überstürzt abgereist ist.

Besonders in Kummer versetzt hat sie eine Andeutung Werthers, die sie nun nochmals liest:

Wird sich auf diese Zeilen senken
Dereinst das schöne Auge Dein,
Wie wir der Toten mild gedenken,
So, süße Lotte, denke mein!

Sie erahnt die tiefe Verzweiflung Werthers und bangt um ihn. Die gute Laune Sophies, die mit Spielzeug für den Weihnachtsabend bepackt eintritt, kann Charlotte nicht aufmuntern. Aber sie verspricht ihrer Schwester, sie und die Kinder zu besuchen. –

Wieder mit sich allein, sucht Charlotte Stärkung im Gebet. Sie fürchtet sich davor, schwach zu werden und Ihrer heimlichen Liebe nachzugeben. Da tritt – völlig überraschend – Werther ein. Er hatte nicht die Kraft gehabt, seinem Vorsatz treu zu bleiben, die Geliebte nicht mehr wiederzusehen. Nun erinnern sich die beiden an die Stunden, in denen sie in diesem Raum gemeinsam musiziert und die Werke großer Dichter gelesen hatten.

Werther aber kommt auch das Pistolenkästchen in den Sinn, das immer noch auf dem Schreibtisch steht. „Ein leiser Druck des Fingers nur, und alle Leiden müssten enden …“, murmelt er, nur für sich, während Lotte ihn an die Lieder seines Lieblingsdichters Ossian erinnert, deren Übersetzung er begonnen habe.

Damit allerdings nimmt das Verhängnis seinen Lauf: Werther steigert sich dermaßen in die Schwermut der Verse hinein („Pourquoi me réveiller“), dass nicht nur er, sondern auch Charlotte von ihren Gefühlen überwältigt wird.

Was bin ich aufgewacht, du schöne Frühlingszeit?
Was bin ich aufgewacht?
Dein Hauch will mir die Stirn umkosen,
Doch, ach, der Tag des Welkens ist nicht weit!
Zu bald nur wird der Sturmwind tosen!
Was bin ich aufgewacht, du schöne Frühlingszeit?
Und kommt der Wandr’er dann herab zu mir ins Tal,
In meiner Schönheit Fülle mich zu schauen,
Sein Blick sucht mich umsonst, erloschen ist der Strahl,
Die Stätte, da ich stand, deckt Nacht und bleiches Grauen.
Was bin ich aufgewacht, du schöne Frühlingszeit?

Charlotte lässt Werther ihre Zuneigung erkennen („Sie seh’n, ich leide!“), dieser drängt sie, außer sich, ihm „den letzten Wunsch des Lebens“ – einen Kuss – nicht zu versagen. Lotte wehrt sich, zunehmend verzweifelt („Schone mein!“), sinkt dann in seine Arme, um sich sofort wieder aufzurichten („Nein, nein, es ist vorbei!“) – und schließlich zu fliehen.

Werther eilt ihr nach, doch Charlotte antwortet endgültig nicht mehr auf seine Rufe.

Kurz nachdem er, völlig niedergeschmettert, Alberts Haus wieder verlassen hat, kommt dieser zurück und findet seine Frau verstört vor. Als er sie fragt, wer denn hier gewesen sein, erscheint ein Bote mit einem Schreiben Werthers: „Ich geh auf eine weite Reise, bitte, leihen Sie mir Ihre Pistolen!“, liest Albert vor – und weist seine Frau an, dem Boten das Kästchen auszuhändigen.

Er ahnt wohl, was in Werther vorgeht, zerknittert den Brief, „wirft ihn mit zorniger Gebärde weit von sich“ und verlässt das Zimmer.

Charlotte ist indes angst und bange geworden. Sie greift nach ihrem Mantel, um Werther nachzueilen: „Bald werd ich bei ihm sein, und, will’s Gott, nicht zu spät!“

4. Akt: Werthers Arbeitszimmer

Charlotte eilt durch das verschneite Wetzlar, aber sie kommt zu spät: Als sie bei Werther eintrifft, findet sie ihn schwer verletzt auf dem Boden seines Arbeitszimmers. Verzweifelt will sie Hilfe holen, doch er lehnt das ab („Qui parle ?“), möchte in ihren Armen, ohne dass noch jemand dabei ist, sterben:

Einst wollt ich glücklich werden, und ich bin es nun.
Noch einmal loht durchs Herz das alte Feuer!

Nun gesteht auch Charlotte Werther ihre Liebe („Et Werther moi je t’aime !“) und schenkt ihm einen Kuss.

Während Werther seinen Tod in Freude annimmt („Du glaubst, mein Leben endet? Kann es wohl enden, da es erst begann?“), ertönen in der Ferne die Weihnachtslieder der Kinder. Ein Zeichen himmlischer Vergebung?

Werther vermutet, dass ihm „ein ehrlich Grab in heil’ger Erde“ auf dem Friedhof verwehrt sein würde und äußert als letzten Wunsch, man möge ihn „am Wege durch das Waldtal“ bestatten, dort, wo er oft allein unter zwei Linden gesessen war. Und er wünsche sich, dass Charlotte diesen Ort bisweilen besuche:

Ein Weib wohl kommt gegangen
Zum stillen Hain herab,
Besucht den toten Freund,
Und eine heisse Träne
Schleicht über ihre Wangen …
Geweihte Tropfen fallen
Auf des Verfemten Grab …

Werthers Stimme stockt, „er ringt nach Luft, dann fallen seine ausgebreiteten Arme zurück, er neigt das Haupt und stirbt“.

Lotte „kann das Furchtbare nicht fassen und hält den Kopf Werthers mit den Händen“. Mit den Worten „Es ist vollbracht!“ sinkt sie zuletzt ohnmächtig nieder.

(Libretto-Übersetzung ins Deutsche: opera-guide.ch)