19. April 2024

Es war einmal … bis in das Einst

Oktober | Früchte einer langen Reifezeit

1. Die Mutter

Es war einmal ein junges Mädchen, das hieß Sarah. Es lebte mit seiner Mutter in einem kleinen, sauberen Dorf hoch in den Bergen. Und jedes Jahr im Oktober, zur Erntezeit, trafen sich auf dem großen Marktplatz vor dem geschmückten Rathaus alle Einwohner des Dorfes, um zu feiern. Sie sangen dann und tanzten voller Freude um eine mannshohe, steinerne Hand, die dort als Denkmal stand …

An dieser Stelle hatte sie stets vom Blatt aufgesehen und Julia gefragt: „Möchtest Du das Geheimnis dieser Hand wissen?“

Und immer hatte ihr Töchterchen wortlos, mit glänzenden Augen genickt, obwohl sie ihre Lieblingsgeschichte wahrscheinlich längst auswendig kannte. Dann hatte sie weiter gelesen und sich ganz den still verzaubernden Banden des Mutterglücks ergeben. –

In Sarahs kleinem Bergdorf bemühten sich die Menschen sehr darum, alles richtig zu machen und gut zu leben. Aber das taten sie nicht nur, weil sie so brav waren. In Wirklichkeit hatte jeder Angst vor dem schwarz gekleideten Bürgermeister, der im Ruf stand, ein mächtiger Zauberer zu sein. Und vor allem fürchteten sich die Dorfbewohner, in den Turm hinter dem Rathaus gebracht zu werden. Denn man erzählte sich, dass dieser prächtige, hohe Bau in der Mitte des Dorfes Menschen verschlinge und dass noch niemand, der ihn betreten habe, wieder lebendig heraus gekommen sei.

Erst vor kurzem war ein Kind aus dem Dorf verschwunden, das in der Nähe des Zauberturms gespielt hatte. Sarahs Mutter wurde deshalb nicht müde, ihr Töchterchen vor diesem verwunschenen Ort zu warnen. Aber Sarah hatte keine Angst. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie man diesem Turm zu nahe kommen könnte, denn er war von einer Mauer umgeben, die ihr bis zum Kinn reichte, und diese Mauer war der Sockel für eine schmiedeeiserne Umzäunung, die man sicher nur mit Mühe überklettern konnte. Das einzige schmale Tor, das in den Vorgarten des Turms führte, war mit einer dicken Kette verschlossen. Vor allem aber arbeitete Sarahs riesenhafter, starker Freund ganz in der Nähe. Er hieß Sepp. Die Erwachsenen mochten ihn nicht recht, weil sie nicht wussten, was er dachte. Sepp kehrte mit seinem Besen den Hof vor dem Rathaus. Er kehrte dort tagaus, tagein. Niemand hatte ihn jemals etwas anderes tun sehen, und kein Mensch achtete wirklich auf ihn – mit Ausnahme von Sarah. Sie kannte ihren Sepp sehr gut: Wenn die Sonne vom wolkenlosen Himmel stach, verengten seine Augen sich zu schmalen Schlitzen, und wenn es regnete, konnte man sie gar nicht sehen. Er stützte sich dann mit tief gesenktem Kopf auf seinen Besen und wartete bewegungslos, bis es wieder trocken und Staub zu kehren war.

Wahrscheinlich weil er hier arbeitete, glaubten die Erwachsenen, dass Sepp böse wäre. Und weil er so riesengroße, kräftige Hände hatte, fürchteten sie, dass er irgendwann jemandem Gewalt antun oder ihn sogar in den Zauberturm verschleppten könnte. Aber Sarah wusste genau, dass ihr Freund das niemals täte. Und immer wenn sich die Gelegenheit ergab, schlich sie heimlich zu ihm hin und lächelte ihn an. Sepp lächelte dann noch mehr und brummte ihr ein freundschaftliches „Hmmm!“ als Gruß entgegen.

Natürlich erzählte Sarah ihrer Mutter nichts von solchen Abenteuern, denn die hätte sich ja doch nur gesorgt und ihr vielleicht sogar verboten, Sepp noch weiter zu besuchen …

An dieser Stelle hatte sie ihre Geschichte stets noch einmal unterbrochen und ihr Töchterchen gefragt: „Glaubst du denn auch, dass Sepp ein Guter war?“ Und wieder hatte Julia genickt, als ob sie das zum allerersten Mal entscheiden sollte, während sie sich mit aufgeregt strampelnden Beinchen noch tiefer in ihr Bett gekuschelt hatte. –

Sarah hatte noch einen anderen Freund, ihren großen braunen Bären mit den schwarzen, kugeligen Augen, den sie einfach „Teddy“ nannte. Sie nahm ihn überallhin mit, beschützte und umsorgte ihn, und natürlich durfte er auch immer neben ihr schlafen.

Aber an einem nebeligen Tag im Oktober geschah etwas Schreckliches: Teddy war nämlich fürchterlich neugierig und hatte Sarah dazu überredet, auf die Mauer klettern zu dürfen, die den kleinen Garten um den Zauberturm begrenzte. Sie wollte natürlich nicht allzu streng mit ihm sein, also hob sie ihn hinauf, steckte ihn durch die schmiedeeisernen Stäbe und setzte ihn auf den Stein. Natürlich trug sie ihm energisch auf, hier, in solcher Nähe zu dem Zauberturm, ganz leise zu sein und sich nicht von der Stelle zu rühren. Aber dann – entweder hatte ihr Teddy nicht gefolgt oder ein Windstoß hatte ihn gepackt – verlor er seinen Halt und fiel auf der anderen Seite der Mauer kopfüber hinab …

Sarah war furchtbar zumute. Auf keinen Fall konnte sie ihren Bärenfreund in dem verbotenen Garten so einfach liegen lassen! Sie dachte und grübelte; es musste rasch etwas geschehen. Schließlich dämmerte bereits der Abend und sicher wartete die Mutter zu Hause schon auf sie. Da kam ihr ein Gedanke: Sepp! Ja, er kannte Teddy und musste ihr jetzt helfen! So schnell sie nur konnte, lief Sarah zu ihm, und als der Riese seine Freundin sah, erhellte sich sogleich seine Miene und er hörte sofort auf den Staub zu kehren. Sarah aber packte kurz entschlossen seine tellergroße Hand und zerrte an ihr so fest sie konnte. Sepp lächelte vergnügt, ließ auch ein besonders tiefes „Hmmm!“ ertönten, aber er begriff anscheinend nicht. Wie ein Monument stand er unbeweglich da und umklammerte nur eisern seinen Besen.

Sarah konnte ihm nicht böse sein, aber sie ärgerte sich über ihre eigenen Erwartungen. Denn schließlich hatte ja noch niemand Sepp jemals etwas anderes unternehmen sehen als gemütlich Staub zu kehren. So ließ sie kurz entschlossen von ihm ab und lief zurück zum Unglücksort. Dort aber sah sie zu ihrer großen Überraschung, dass die schmale, schmiedeeiserne Tür, die in den Vorgarten des geheimnisvollen Turmes führte, nun plötzlich wie von Zauberhand geöffnet war.

Sollte sie hinein gehen, Teddy einfach schnappen und dann mit ihm nach Hause laufen? Sarah erinnerte sich an die Mahnungen und Warnungen der Mutter, und sie beobachtete, wie sich nicht weit von ihr die Dorfbewohner versammelten. Wahrscheinlich waren sie alle neugierig, weshalb die Kette von dem Tor genommen und der schmale Weg zum Turm an diesem Tag wieder geöffnet war. Aber niemand getraute sich näher zu kommen.

Feige Erwachsene!, dachte Sarah, und ohne weiterhin zu grübeln, lief sie durch das Tor. Aber wo war Teddy? Er lag nicht mehr dort, wo er hingefallen war. Hatte er etwa nicht auf sie gewartet? Sarah blickte angestrengt nach links, nach rechts, lief weiter in den Garten hinein und wieder zurück, suchte und suchte – bis mit einemmal eine große, schwarz gekleidete Gestalt dicht vor ihr stand. Es war der Bürgermeister! Mit seinen Klauenfingern deutete er auf den Zauberturm, während er Sarah mit stechendem Blick fixierte und eine schmeichelnde Stimme sein kaltes Lachen durchbrach. „Da drin wirst du ihn finden“, sagte er und drängte Sarah schon zur Pforte des Turms, die wie ein dunkler Schlund hinter ihr geöffnet stand.

Weiter und weiter wich sie zurück, ihr wurde immer schwindeliger. Hilfe suchend blickte sie hinüber zu der großen Menschenmenge, die inzwischen vor dem Garten schon versammelt war. Aber alle starrten nur gebannt auf sie, keiner unternahm etwas, niemand half.

Da ging ein Raunen durch die Menge. Ein Riese drängte sich gemächlich heran und stapfte, mit seinem Besen in der Hand, stumm in Richtung Garten, bis er vor dem Bürgermeister stand. „Ha!“, lachte der mit blechern tönender Stimme. „Sepp ist also auch schon neugierig geworden!“

Der Riese antwortete mit einem mächtigen „Hmmm!“, dem keinerlei Gefühl verbunden schien und begann nun hier, vor dem Portal des Turms, den Staub zu kehren. Nur seine Augen suchten Sarahs Blick, fanden ihr stummes Flehen und schwenkten wieder zurück zum Bürgermeister, der diesem dummen Straßenkehrer keine weitere Beachtung schenkte. Er hatte das Kind schon bis zum Schlund des Turms gedrängt, sein Mund hatte sich zu schrecklicher Häme verzogen, nun hob er seine Arme und spreizte die knochigen, gekrümmten Finger, um ihm den letzten Stoß zu geben …

„Aber …“ An dieser Stelle hatte sie nicht weiterlesen dürfen. Julia kannte den entscheidenden nächsten Satz in der Geschichte und bestand darauf, ihn selbst zu sprechen. „… aber dann geschah etwas, das der böse Zauberer niemals erwartet hätte!“

„Genau“, hatte sie darauf geantwortet, und die liebenden Blicke von Mutter und Tochter hatten in ihrem sanften Aufeinandertreffen Momente der Vollkommenheit geboren, die ihr immer noch gegenwärtig waren. –

Der mächtige Bürgermeister konnte sich plötzlich nicht mehr rühren. Er wusste gar nicht, was geschehen war und ortete erst nach einiger Zeit, dass der gewaltige Druck von seinem Hals den Ausgang nahm und ihn körperabwärts lähmte. Eine steinerne Hand hielt ihn umfasst und hob ihn nun wie eine Spielzeugpuppe in die Luft. Sepp lächelte seiner Freundin zu, während er den Zauberer lustig schüttelte, und als Sarah aus ihrer Schreckensstarre zurück ins Leben gefunden hatte, lief sie weg vom Turm und aus dem Garten so schnell sie ihre Füße trugen.

Der Riese brummte noch ein besonders lautes „Hmmm!“ und setzte sein schwarz gekleidetes Püppchen behutsam am Portal des Turmes ab. Doch der Bürgermeister fand dort keinen Halt und fiel unter dem Applaus der Dorfbewohner mit lautem Schrei die Stufen hinab. Niemand hat ihn seitdem wieder gesehen.

Das Gemäuer des Zauberturms durchzogen bald tiefe Risse, und kurze Zeit später brach es in sich selbst zusammen. Nur ein großer Haufen Schutt blieb in dem Rathausgarten übrig, und manchmal, wenn immer Sarah Zeit hatte, half sie den Dorfbewohnern beim Aufräumen, denn sie war ganz sicher, dass sie hier irgendwo doch noch ihren Teddy finden würde.

Für Sepp aber wurde auf dem Marktplatz ein besonderes Denkmal errichtet, eine riesige, steinerne Hand. Er wurde zum Ehrenbürger des Bergdorfes ernannt, und jedes Jahr im Oktober feierte man fortan zum Tag der Befreiung ein großes Fest.

Inzwischen ist Sepp schon uralt. Aber an sonnigen Tagen kann man ihn immer noch mit seinem Besen beobachten, wie er gemütlich den Staub von den Wegen kehrt. –

Es war die einzige Geschichte, die sie damals, als Julia noch das Töchterchen war, geschrieben hatte.

Die Mutter legte die Blätter zurück in die Lade der Erinnerungen und griff nach einem schmalen weißen Fotoalbum, das ebenfalls an diesem Ort der Zeiten Platz gefunden hatte.

2. Die Frau

Julia, die junge, erblühende Frau, begann der Welt ihre Schönheit darzubieten. Aber besaß auch die alte, verblühende noch Attraktivität? Wie lebte, wirkte und bestand die entkleidete Frau ohne den schützenden Mantel der Mutterschaft? Fast zwei Jahrzehnte lang war sie liebende Freundin gewesen, verständnisvolles Vorbild, die Mutter eben – aber lebte noch die Frau in ihr? Julias Vater hatte bald nach der Geburt seines Töchterchens einen verlockenderen, kinderzimmerfreien Haushalt vorgezogen. Sie war auf sich allein gestellt gewesen, selbstlos konzentriert auf Julia, während der Sommerwind des Lebens an ihr vorbei geweht war. Hatte sie noch eine Zukunft als Frau? –

Sie musste schmunzeln, wenn sie sich nun daran erinnerte, wie tief diese Zweifel in jenen Jahren keimten.

Die kostbaren Seiten des schmalen, weißen Fotoalbums, das sie nachdenklich durchblätterte, bargen die Antwort des Lebens auf ihre damals so bange Frage. Die schönsten Bilder ihrer ausgedehnten Hochzeitsreise waren darin gesammelt, die teuren Momente einer späten, jugendlichen Wendezeit.

Sie hatte Karim über einen alten Schulfreund gefunden, und ihre Begegnung war von Beginn an spektakulär gewesen, seelisch, intellektuell und sexuell.

Er war attraktiv und liebte die reife Schönheit in ihr, er war in angenehmer Weise dominant, ohne rücksichtslos zu sein, er war eloquent, ein brillanter Freidenker und pflegte in stiller Genialität auch seine musische Begabung. Ein Ausnahme-Mann, den auch Julia ohne Vorbehalte akzeptierte.

Die Jahre, die der Hochzeit mit Karim folgten, ließen den Strom erfüllender Erinnerungen nie versiegen. Und doch bewährte sich diese unbeschwerte Zeit nicht als die gesuchte Heimat, sondern blieb letztlich nur eine Oase auf ihrem Schicksalsweg.

Der Bruch im Ehegemäuer bildete sich langsam, doch an tief gelegener, zentraler Stelle. Denn Karim folgte zwar spontan dem Fluss des Daseins und konnte mit Genuss von Erleben zu Erleben hin und her, vor und zurück mäandern, aber sein Freigeist verharrte im Gehabe eines Skeptikers, der seine scharfen Sinne wieder und wieder an endlosen Irrfahrten erproben möchte, ohne den Zielhafen wirklich zu suchen. Er ergründete mit größter Lust und in begnadeten Gedanken­sprüngen das spiegelgleiche Gegenbild für alles Leben, alles Streben, aber es fehlte ihm der Sinn und auch der Impuls, oberflächlich wurzelnde Pflänzchen, die ihrer schicksalhaften Erosion sowieso nicht widerstehen können, von tief verankerter Wahrheit zu unterscheiden, die unveränderlich dem Wandel aller Formen trotzt.

Sie indes entwickelte eine ausgeprägte Sehnsucht nach dem Ewigen und suchte seine lichten Spuren in der Transzendenz.

Nicht das Infragestellen in gedanklicher Brillanz bereitete ihr Freude, aber der Ausblick, verborgene Zusammenhänge zu ergründen, das still und erhaben wirkende Gefüge aller Schöpfung zu erahnen, vielleicht sogar den Schöpfer selbst in seiner Wahrheit zu erkennen.

So verpflichtete sie sich einem geistigen Pfad, einer ernsten kleinen Gesinnungsgemeinschaft, die ihr Gewissheit im Glauben bot und die Hürden auf dem Weg zur Paradiesesheimat kannte, während Karim seine Frau in deren neu erwachten Vorbehalten nur noch als Fremde sehen musste, als die Gefangene eines sektiererischen Dogmas, die er durch gute Argumente liebevoll befreien wollte, aber doch nicht mehr für sich erreichen konnte.

Sie schloss das schmale, weiße Fotoalbum und legte es behutsam zurück in die Lade der Erinnerungen. Ja, ihre Tochter hatte damals klar gesehen. Sie war wirklich selbst, wie die kleine Sarah, hart am Schlund des Zauberturms gestanden, der sie zu verschlingen drohte. Julia hatte ihr dieses Bild der Angst entgegen geschleudert, als die Scheidung von Karim unvermeidlich geworden war. Die weise Tochter hatte sich mit der rohen Kraft bitterster Enttäuschung gegen das gestemmt, was ihre kleine, fremdbestimmte Mutter noch näher an den Abgrund drängen könnte. Die Wunde kalter Wahrheit, die Julias Klage damals schlug, war in ihre Seele eingeritzt, noch immer spürte sie in der Erinnerung den Schmerz.

Langsam glitt der Frau das Symbol ihrer Wahrheitssuche, das konfliktbeladene Erkennungszeichen ihrer Gesinnungsgemeinschaft, durch die Finger.

Sollte sie es überhaupt noch weiterhin in dieser Lade mit verwahren, neben den Dokumenten größten Glückes?

3. Die Suchende

Auf dem Adventkranz ihres Lebens waren einige Lichter zu früh entzündet worden. Ihre unbeherrschte Sehnsucht nach geistiger Ankunft hatte die Welt rücksichtslos geblendet und sie selbst erblinden lassen. Wie von Sinnen war sie dem Zauber einer Offenbarung erlegen, die über den Himmel hinaus wies. Doch sie hatte nur die gewaltige Höhe des Turms gesehen, der um diesen Strahl des Lichts errichtet worden war, nicht aber dessen Enge und vor allem nicht den Abgrund, der im Inneren der Gemeinschaft aufgerissen war, um alles zu verstoßen, was dem hehren Dogma sich nicht fügte.

Belastete Beziehungsbande, missachtete Gelegenheiten, gedankliche Fixierungen – wohin hatte ihr steiniger Befreiungsweg geführt? Weshalb hatte sie die dickhäutige Blase des Zeitgeists durchstochen, wenn sie sich letztlich nur in einer weiteren gefangen fand?

Noch einmal ließ sie das Sinnbild ihrer fernen Wüstenjahre durch die Finger gleiten.

Nein, nichts von dem, was sie in jener öden Zeit der Weltflucht mitgenommen hatte, würde sie heute missen wollen. Denn wie anders als durch das Fegefeuer der Erfahrung könnte sich die Überzeugung offenbaren, dass es den sauber abgepflockten Weg nicht gibt, auf dem das stetig neue Schöpfungsweben ungekünstelt einzusehen ist? Lag in dem hart erkämpften Wissen, dass jeder Starrheit Mühe letztlich ohne Wert verbleibt, nicht auch Größe? Konnte nicht auf diesem Boden erst die Menschenliebe wachsen, ein mildes, mütterliches Lächeln, das die Schrulligkeiten dieser Welt verständnisvoll begleitet? –

Julia hatte ihre tiefen Vorbehalte gegenüber dieser Reise in die Seitenreiche des Erkenntnisstrebens irgendwann mit freundschaftlicher Tochterliebe übertüncht.

Karim hatte das Trauma, der Verwandlung seiner Frau in eine Fremde hilflos beizuwohnen, durch eine neue Liebe überwinden können, der es später, in trauter Eintracht mit dem Altersphlegma, tatsächlich noch gelungen war, den Skeptiker zu bändigen, die Unrast seines Wesens in Sanftmut zu verwandeln.

Und sie selbst hatte sich von dem allzu vehementen Einklang gleich gestimmter Wahrheitssucher wieder los gerungen. Zwar hatten sich einige Akkorde aus der gut geübten Gemeinschaftsmelodie noch lange tonangebend aufgedrängt, aber die bunte Vielfalt alltagsnaher Harmonien griff letztlich doch wieder als Leitmotiv.

Veredelte das Leben sich also selbst am besten? Und war das Streben nach Tiefe und Entwicklung doch nur ein Synonym für Scheitern? Blieb dem Menschen lediglich Beschaulichkeit als Beitrag, um den simplen Königsweg durchs Dasein vom Staub des Alltags freizukehren und daran selbst zu wachsen?

Sie dachte an den guten, riesenhaften Sepp und schmunzelte entschlossen. Es war Oktober geworden, die Früchte einer langen Reifezeit konnten geerntet werden. So griff die Suchende zu ihrer alten Feder und begann, was sie an diesem Tag bewogen hatte, die Lade der Erinnerungen aufzuschließen; mit der Tinte ihres Seelenblutes beschrieb sie abermals ein Blatt Papier, um ihr Symbol des Wahrheitsstrebens von allen Resten dumpfer Gläubigkeit zu reinigen und es einer freien, selbstbestimmten Zukunft zu verbinden.

4. Die Weise

In einer Zeit, als die Menschen die höchsten Türme bauten und von noch höheren träumten, lebte eine Weise. Sie wusste wenig von den flüchtigen Erkenntnissen aus Experiment, Mathematik und Theorie, aber sie konnte aus dem Quell des Alltags schöpfen.

So sah sie traurig, dass die Menschen nicht mehr aus dem Herzen lebten, dass ihre eindrucksvollen Türme sie letztlich nur in Dunkelheit erblinden ließen. Und sie begann zu erzählen, wo der Weg zur Freiheit lag.

Begeistert folgten viele ihrer Lehre, doch sie verliefen sich dabei wie unbedachte Kinder auf gefährlich schmalem Grat.

Als die Weise vom Segen einer Überzeugung sprach, waren ihre Schüler sogleich überzeugt. Als sie ihnen deutete, dass Liebe keine Schwäche brauche, formulierten sie als Ideal liebelose Strenge.

Als sie den Ernst des Lebens lehrte, verstanden sie ein Lachverbot.

Sie taten artig, was sie zu müssen glaubten, um gesund zu bleiben, und sie wussten jede Krankheit als Schicksal zu ertragen. Sie fanden Regeln für die Sprache, die Gedanken und die Willenskräfte, formulierten umfangreiche Sammelwerke für die rechte Kleidung, für die Kunst und für den Gottesdienst. Ahnungen gerannen zu Vorschriften, Eindrücke versteinerten zu Urteilssprüchen. Und sie waren von dem Pfad der Freiheit überzeugt, auf dem sie in anspruchslosem Glück verharrten.

Verbittert sah die Weise, dass ihre Lehren kaum gefruchtet hatten. So hinterließ sie eines späten Tages als Vermächtnis dieses Gleichnis:

Als der Mensch zum Kind geboren wurde, fand er sich klein und schwach. Doch entschlossen fasste er nach Mutters Hand, zog sich daran auf und ging behütet seines Weges.

Als der Mensch erwachsen wurde, fand er sich groß und stark. Er befreite sich aus aller Obhut und ließ sein eignes Feuer lodern.

Bald fand der Mensch am Marktplatz eine bunte Vielfalt an Kostümen, bald schlüpfte er vergnügt in die Rollen seines Lebens, bald wurden sie ihm doch zu schwer, und er fand sich wieder klein und schwach.

Als der Mensch noch älter wurde, sah er das lichte Schloss am Horizont und begann zu träumen. Er träumte, die Kostüme abzustreifen und an Mutters Hand dorthin zu fliegen. 

So suchte er und fand die zarte Hand und packte sie mit aller Kraft, so fest er konnte, um sie nie mehr loszulassen.

Doch der Flug zum Silberschloss blieb Traum und der Mensch verstarb, noch ehe er erwachte. –

Was hatte die Weise mit diesem Gleichnis gesagt? Trotz aller Mühe wussten ihre Schüler die Worte nicht zu deuten. Sie grübelten und rätselten, doch fanden keinen Sinn darin. Gewiss war ja doch ihre Mutter keine Geringere als die Weise selbst, und die Führungshand ihrer Gebote hielt man dem Widerstand der Welt zum Trotz in unbeugsamer Treue. Wie konnte dieser strenge, ernste, dornenvolle Pfad den Tod bedeuten?

Nachdem die Weise einsam abgeschieden war, verblieben die gefährlich fremden Worte in einem fernen Turm, den niemand mehr besteigen wollte. Man folgte lieber pflichtbewusst den alt vertrauten Regeln und Geboten.

So vergingen Jahre und Jahre. Und bald erinnerte sich niemand mehr an das Vermächtnis. Nur im Herzen einer greisen Frau, die schon den Abend in sich fühlte, drängte das Rätsel nach der Lösung. Denn die alte Sarah ahnte, dass die weise Lehre, der sie schon ein Leben lang getreulich folgte, ohne dass sie frei geworden wäre, erst durch jenes letzte Gleichnis ihren wahren Stellenwert erhielt. Aber wie, ja, wie war es zu deuten?

Sie entschloss sich, den Gedankenspuren noch einmal folgen und bestieg den fernen Turm. Aber jeder Schritt kostete sie Mühe. In den Türmen der Gemeinschaft waren alle Wege eben, sicher und bequem, nirgendwo gab es Stufen, überall fand man Halt und Führung. Hier jedoch bot jeder Schritt ein Abenteuer, und jeder weitere verlangte nur noch mehr Lebendigkeit und Kraft. Die Treppe endete an einer Leiterwand, die Sprossen mündeten in einen Klettersteig. Sarahs müde Glieder suchten Halt, bald klammerte sie sich nur noch fest, konnte keinen Schritt mehr tun und spürte nun die ganze Schwere ihres Lebens, von der sie sich an diesem Ort nirgendwo entlasten konnte.

Da sprang ein blond gelocktes Mädchen neben ihr den Steig hinan. Sarah wollte dieses unbekümmerte Geschöpf vor den Gefahren warnen, denn weiter oben würde es womöglich keinen Halt mehr finden. Aber die Kleine fand die Hürden ihres Spielturms lustig und fragte nur: „Willst du auch hinauf, um das Schloss am Horizont zu sehen?“

„Das möchte ich wohl“, antwortete Sarah und ihre Hände zitterten vor Anstrengung, „aber sieh nur, ich bin alt, mir fehlt die Kraft!“

Der blonde Engel lachte herzlich. „Dann lass doch einfach los!“

„Aber ich brauche den Halt!“, rief die Alte, und ihr Protest schlug eine breite Kerbe in die Zeit. Die Worte fluteten von ihr weg, die Hülle der Sprache zerbarst, und der nackte Sinn wogte schwer auf sie zurück. Im Echo ihres eignen Rufes erinnerte sich Sarah nun an das Vermächtnis, dem sie folgte: „Der Mensch packte die Hand mit aller Kraft, um sie nie mehr loszulassen, doch der Flug zum Silberschloss blieb Traum …“

Woran klammerte sie sich? An welche starre Haltung verlor sie ihre Kraft?

Langsam entspannte die Erkenntnis ihre harten Glieder. Die Regeln und Gebote, die Türme der Gemeinschaft, die Lehren jeder Konfession waren nur dann von Wert, wenn sie den Pfad der Freiheit säumten! Tatsächlich konnten sie ja nur im Schritt, im Lauf, im Sturm zum Nutzen werden; diente er nicht ohne Selbstzweck der Bewegung, so gefror der beste Halt zum Stopp, und das Bunt des Lebens verkümmerte in dunklem Dogmagrau. Ja, dies war der Schlüssel zum Vermächtnis, die glückliche Entlastung von der Bürde selbst geschneiderter Kostüme.

Die Kleine erkannte, dass Sarahs Freude wiederkehrte, lachte hell und sagte: „Du wirst sehen, weiter oben wird es richtig schön. Es ist wie Fliegen!“

Und schon wehte das blonde Engelchen hinan. –

Damit sollte die Geschichte der Weisen enden. Sie schmunzelte, zufrieden mit sich selbst, faltete das Blatt Papier, steckte es gemeinsam mit dem Sinnbild ihrer Wahrheitssuche in ein Briefkuvert und verschloss es in der Lade der Erinnerungen.

Irgendwann würde Julia die Zeilen lesen und verstehen. Und vielleicht würde dieses Blatt auch Karim einst in Händen halten, seine Augenbrauen über so viel Einfalt weit nach oben ziehen und im verklärten Lächeln des Gedenkens Nachsicht mit ihr üben. –

Ein Mädchen war der festen Hand gefolgt, aus der Märchenwelt der Kindlichkeit, durch den Marktplatz der Irrungen, hinan in die Räume der Weisheit, durch flüchtige Gedankentürme hinaus in das offene Leben und wieder durch die Fenster der Sinne hinein in die Feder der Dichterin, quer durch die Zeit, aus dem Einst … bis in das Einst.

Grafik: Hans Beletz