24. April 2024

Achtung, Verschwörung!

Die amerikanische Mondlandung wurde von Stanley Kubrick im Filmstudio inszeniert, Hitler lebt in einer gigantischen Höhle unter der Antarktis, die Welt wird im Hintergrund von den Illuminaten, Zionisten, Rothschilds und Freimaurern regiert, AIDS stammt aus den Geheimlabors der US-Regierung, den Kondensstreifen von Flugzeugen sind geheimnisvolle Substanzen beigemengt, um Wetter und Menschen zu manipulieren, UFO-Kontakte werden unter Verschluss gehalten … und selbstverständlich leben Elvis Presley und Bruce Lee noch heute!

Nein, liebe Leser, in diesem Beitrag geht es nicht darum, alle Verschwörungstheorien pauschal ad absurdum zu führen. Es gibt auch kaum Zweifel dahingehend, dass Menschen und Meinungen heute in großem Stil manipuliert werden. Aber wir wollen im folgenden weit verbreitete Denkschemata in Frage stellen und fragwürdige Motivationen aufdecken, die bei vielen Zeitgenossen zu der Bereitschaft führen, auch die unmöglichsten Pseudotheorien für gut möglich zu halten. Denn die Affinität zum Unglaublichen verhindert bisweilen eine ernsthafte Suche nach der Wahrheit oder nach den wirklich maßgeblichen Hintergründen für unser Leben.

Ich sehe was, was du nicht siehst!

Kennen auch Sie Quellen für „geheimes Wissen“?

Jeder kennt sie, die geheimnisvollen Vermutungen aus den gedanklichen Parallelwelten konspirativer Gemüter, die allesamt im Besitz einer „sensationellen, aber unter Verschluß gehaltenen Wahrheit“ sein wollen und dabei den typischen Akte-X-Charme verbreiten – „die Wahrheit ist irgendwo da draußen!“

Wollte man das Postulat moderner Verschwörungstheorien in einen simplen Satz verpacken, dann lautete er sicherlich: „Ich sehe was, was du nicht siehst!“ Ich weiß etwas, was du nicht weißt … denn ich habe Informationen, die außer mir (fast) niemand hat. Klar, die Behauptung, den „Schatz der Wahrheit“ zu heben, hat schon immer für Aufsehen gesorgt. Sie ist bestens dazu geeignet, sich selbst in Szene zu setzen. Und niemals war es leichter, an „geheime Informationen“ zu gelangen, als heute mit Hilfe des Internets: Hier findet man binnen kürzester Zeit „Beweise“ für alles, was man für wahr halten will.

Bis vor wenigen Jahrzehnten gab es in unserer Gesellschaft zwei wichtige Filter, die Spreu und Weizen, unsinnige Irrtümer und wertvolle Gedanken trennten: die Wissenschaft und den Journalismus. Für den seriösen Wissenschaftler gehört es zum täglichen Brot, im Experiment die Natur zu befragen, auf diese Weise Theorien in ihrer Gültigkeit zu überprüfen und in seinem Fachbereich nur das als Erkenntnis weiterzugeben, was wirklich haltbar ist. Und für den seriösen Journalisten ist es selbstverständlich, im Sinne seiner Leser, Hörer oder Zuschauer die Dinge zu hinterfragen, von möglichst allen Seiten zu beleuchten und nur das zu veröffentlichen, was auch einem kritischen Blick von außen standhält.

Wer jedoch heute im Internet surft und recherchiert, taucht in ein wild wogendes Meer von Informationen ein und muss dabei auf jene klassischen Filter verzichten – was viele kritisch denkende Menschen aber durchaus nicht stört, denn sie sind oft der Überzeugung, die veröffentlichte Wahrheit sei ohnehin „vorgefärbt“, Wissenschaft und Medien würden sich sowieso nur auf den immer gleichen Bahnen des herrschenden Zeitgeists bewegen.

Daran ist sicher viel Wahres. Allerdings ändert das nichts an der Tatsache, dass der einzelne in den meisten Fällen nicht einmal ansatzweise in der Lage dazu ist, Behauptungen und Theorien, die er irgendwo sieht oder liest, auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Es fehlen ihm das Fachwissen, die Kontakte, die Zeit, der Überblick, die finanziellen Mittel, manchmal auch grundlegende Menschenkenntnis – einfach alles, was zu einer wirklichen Wahrheitsfindung nötig ist.

Dennoch – oder gerade deshalb – wurde es in den vergangenen Jahren immer populärer, ganz nach persönlichem Gusto Vermutungen zu Theorien zusammenzusetzen, die vielleicht wenig mit der Wirklichkeit, dafür aber viel mit agitatorischen Wunschbildern zu tun haben.

… und schon entsteht eine Ersatzreligion

Für viele, die an populäre Verschwörungstheorien glauben oder solche (weiter) verbreiten, ist es ausreichend befriedigend, eine etwas andere Meinung als der Durchschnittsbürger oder ein apartes Argumentationspaket für kontroverse Diskussionsabende zu haben. Das „Es-könnte-ja-sein-Spiel“, bei dem geheimen Verschwörern alle möglichen Absichten und Ziele unterstellt werden, wirkt harmlos und eignet sich gut dazu, den persönlichen Frust zu kanalisieren – auf die Reicheren und Einflußreicheren, auf die Medien und Manipulateure, auf die Korrupten und die Kollaborateure.

Wie harmlos der einfältige Glaube an eine weitreichende Verschwörung wirklich ist, bleibt dahingestellt. Denn die bisweilen recht dumpfe Gesinnung, einfach alles für möglich zu halten, kann eine bedenkliche, jeder Wahrheitssuche hinderliche Kehrseite haben – nämlich nichts wirklich ernstzunehmen, gar nicht tiefer forschen zu wollen. Erkenntnis setzt immer Energieeinsatz voraus – prüfen, abwägen, forschen, filtern. Einer Verschwörungstheorie anzuhängen ist indes bequemerweise ohne jeden Aufwand möglich.

Somit sollte auch das Phänomen nicht weiter verwundern, dass es Menschen gibt, die zwei Verschwörungstheorien gleichzeitig vertreten – ohne zu bemerken, dass diese einander eigentlich widersprechen: „Osama bin Laden lebte überhaupt nie“ und „Osama lebt immer noch“.

Für nicht wenige bleibt das emotional aufgeladene „Es-könnte-ja-sein-Spiel“ allerdings nicht auf der Unterhaltungsebene. Wer die Kernthese einer Verschwörungstheorie einmal für wahr befunden und vielleicht auch noch anderen gegenüber massiv vertreten hat, ist damit oft schon auf dem besten Weg, eine Ersatzreligion zu verinnerlichen. Diese duldet in ihrer Dogmatik keine Widerrede und verfrachtet jedes Gegenargument, sei es auch noch so sachlich und gut fundiert, in ein Labyrinth aus neuen, noch dubioseren Theorien – so lange, bis jegliche Zweifel erstickt sind.

Die Dominanz solcher „Wahrheiten“ kann den sich streng an sein inneres Gesetz gebundenen Menschen dann nach und nach in eine Isolation treiben, die in ihrer Abkehr von der Gesellschaft im schlimmsten Fall dem Wahn schizophrener Persönlichkeiten ähnelt – der Mensch wird immun gegen Argumente, die nicht in seine eigene Wirklichkeit passen, damit aber auch immun gegenüber allen Entwicklungsimpulsen von außen.

Oder aber seine persönliche „Wahrheit“ findet eine gläubige Anhängerschaft …

Die Unfähigkeit, komplexe Abläufe zu verstehen

Der US-amerikanische Prediger John McTernan beispielsweise ist sich ganz sicher dahingehend, wer für die Verwüstungen verantwortlich ist, die Hurrikan „Sandy“ angerichtet hat: Präsident Obama – und zwar wegen seiner toleranten Haltung gegenüber homosexuellen Menschen: „Wenn eine Nation Sünde legalisiert […], fällt sie unter das Urteil Gottes. Gott zerstört eine Nation nicht sofort, sondern warnt sie zunächst.“ Und „Sandy“ sei diese Warnung. Doch warum kam der Hurrikan genau zu dem Zeitpunkt? Auch dafür hat der christliche Fundamentalist eine Erklärung: Auf den Tag genau 21 Jahre davor habe es den letzten großen Sturm gegeben, im Oktober 1991. „21 setzt sich zusammen aus 3 mal 7. Und die 3 ist eine besondere Zahl im Zusammenhang mit Gott.“

John McTernans Theorien werden im Internet von Zehntausenden verfolgt und entwickeln eine entsprechend große Wucht. Sie sind zwar kein typisches Beispiel für eine Verschwörungstheorie, wohl aber für ein weiteres Grundprinzip, das darin zum Ausdruck kommt und das der bekannte Autor Robert Anton Wilson („Illuminati“) wie folgt beschrieb:

„Verschwörungstheorien entstehen aus der Unfähigkeit des Menschen, komplexe Abläufe zu verstehen. Vor allem aber kann er den banalen Zufall nicht ertragen. Er benötigt immer eine Kausalbegründung, um dem Ereignis den Schrecken des Unbestimmbaren und somit die vermeintliche Sinnlosigkeit zu nehmen.“

Man könnte sagen, im Verschwörungstheoretiker spiegelt sich die humorige „Geschichte mit dem Hammer“, die Paul Watzlawick in seiner „Anleitung zum Unglücklichsein“ schildert: Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, aber keinen Hammer. Also beschließt er, zum Nachbarn hinüberzugehen und sich dessen Hammer auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig; vielleicht war er ja in Eile. Vielleicht aber hat er die Eile nur vorgeschützt, und er hat was gegen mich. Aber was? Ich habe ihm doch nichts getan; der bildet sich da etwas ein! Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum tut er das nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben! Und dann bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen! Bloß weil er einen Hammer hat! Jetzt reicht’s mir wirklich! Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch bevor er „Guten Tag“ sagen kann, schreit ihn unser Mann an: „Behalten Sie Ihren Hammer!“

Wahrscheinlich kann sich in dieser Geschichte fast jeder Mensch ansatzweise wiederfinden. Es ist für uns ganz normal, unsere eigenen gedanklichen Interpretationen für „die Wirklichkeit“ zu halten. Und wenn uns Ereignisse aus irgendeinem Grund nicht plausibel erscheinen oder wir die Zusammenhänge, die zu einer Begebenheit geführt haben, nicht begreifen, sind wir – oft allzu schnell – bereit dazu, uns einer Theorie anzuschließen, die vermeintlich alles erklärt. Besonders dann, wenn die „Erklärung“ einfach und plausibel gestrickt ist, also mit einer gewissen „inneren Logik“ aufwarten kann.

Doch ist die Tatsache, dass etwas auf Grund bestimmter Fakten schlüssig erscheint, noch lange kein Beweis dafür, dass es auch wahr ist. Vielleicht wurden ja von den 100 Punkten, die zum vollständigen Erfassen des Gesamtbildes nötig wären, erst dreieinhalb erkannt, und man mißversteht diese eingeschränkte Teilwahrnehmung als der „Weisheit letzten Schluss“ – siehe „Sandy“ und die Homosexualität …

Für Kommunikationsforscher ist die Tatsache, das wir Menschen gerade heute nach möglichst einfachen „Wahrheiten“ suchen, eine Reaktion auf die zunehmende Verunsicherung durch eine komplexe Welt, die wir eben nur begrenzt verstehen können. Deshalb bemühen wir uns darum, den unverstandenen Rest möglichst effizient zu verarbeiten: Wir fahnden nach Übereinstimmungen mit Meinungen und Einschätzungen, die wir schon haben, versuchen dabei aber, Widersprüchen und Uneindeutigkeiten auszuweichen. Und in den Graubereich, wo unser Begriffsvermögen oder unser Wissen um Zusammenhänge nicht ausreicht, setzen wir bestimmte Personen oder Personengruppen: An der Finanzkrise sind ein paar Manager schuld, am Klimawandel die Wissenschaftler, die ihn erfunden haben, an der Gleichschaltung der Menschheit die Medien.

Der Glaube, von jemandem oder einer bestimmten Gruppe kontrolliert zu werden, den oder die man selbst nicht kontrollieren kann, ist leichter zu ertragen als die simple Tatsache, Zusammenhänge selbst nicht zu begreifen.

Gesunder Skeptizismus? Der Schein trügt!

Dabei sind bestimmte Persönlichkeitstypen – etwa Menschen, die zur Schwärmerei und zum Fanatismus neigen, aber auch sehr gutgläubige oder naive Charaktere – besonders anfällig für Verschwörungstheorien. Skepsis dagegen – in gemäßigtem Rahmen freilich – ist immer Ausdruck eines gesunden Wahrheitsstrebens.

Das mag zunächst als Widerspruch erscheinen, denn gerade Anhänger abstruser Theorien gelten ja als skeptisch – gegenüber allem, was allgemein als wahr und gesichert gilt. In Wirklichkeit aber gehört die Skepsis für „eingefleischte“ Verschwörungstheoretiker zwar zum Programm, im Grunde aber hinterfragen sie überhaupt nichts wirklich – am wenigsten die eigene Haltung. Im Klartext: Es geht nicht um gesunde Skepsis, sondern vielmehr um die Etablierung eines dogmatischen Privatglaubens.

Tatsächlich weist ausgeprägter Verschwörungsglaube typische Merkmale von religiösem Fanatismus auf: Er ist streng teleologisch, beharrt uneinsichtig auf einem Standpunkt, um die ihn tragende „Stammthese“ zu konservieren, und ordnet die Ereignisse bestimmten Mustern zu, die sich auf einer „Theorie des Glaubens“ gründen, welche niemals hinterfragt wird.

Üblicherweise muss sich alles, was wir glauben, am Leben erweisen. Unsere Ansichten und Meinungen werden im Alltag und durch das Netz unserer sozialen Kontakte in natürlicher Weise reflektiert und korrigiert und sollten dadurch in Einsicht und Vergeistigung münden. Wird dieser Entwicklungsweg jedoch durch dogmatische Verschlossenheit versperrt, bedeutet dies im Grunde auch ein Verharren im Materiellen. Der religiöse Fanatiker begräbt sich, ebenso wie der Verschwörungsfanatiker, in einem hermetisch abgeriegelten Raum unter der Last der eigenen „inneren Logik“.

Man kann in diesem hermetischen Raum alle möglichen Verdächtigungen und Behauptungen aufstellen, ohne Beweise dafür zu benötigen. Das Fehlen der Beweise zeigt ja doch nur, dass die Verschwörer sie beseitigt haben! Und dass sie das so perfekt konnten und kein Journalist, keine Behörde, kein Spitzel etwas wirklich Handfestes gefunden hat, zeigt nur, wie weit der Arm der Verschwörer schon reicht …

Solche sich selbst beweisenden Behauptungen sind typische Denkfiguren für Verschwörungstheoretiker, die sich damit gegenüber Kritik und Zweifel auf die denkbar wirkungsvollste Weise immunisieren: jede Kritik wird zur Bestätigung ihrer Theorie. Je mehr die Verschwörung bezweifelt wird, desto fester ist der Verschwörungstheoretiker von ihrer Existenz überzeugt, um so tiefer verbohrt er sich in sein Dogma.

„Das Dogma will ersessen sein, Skepsis stellt sich beim Gehen ein“, formulierte Johann Wolfgang von Goethe. Ein Dogma entsteht durch Denkmuster; es kann völlig unabhängig von Erlebnissen in einem theoretischen Raum existieren. Wer jedoch „geht“, wer in sich lebendig ist und sich in die „Wildnis des Lebens“ begibt, beginnt die Dinge – und seine eigene Sicht – kritisch zu hinterfragen und weitet damit sein Blickfeld in Richtung Wahrheit.

Die gefährlichste Art der Täuschung …

Der französische Philosoph und Dichter Jean-Marie Guyau formulierte treffend: „Die gefährlichste Art der Täuschung beruht darauf, als anerkannte Gewissheit hinzustellen, was doch keine ist.“

Die „einfachen Wahrheiten“, wie sie im Weltbild von Verschwörungstheoretikern vorherrschen, sind nicht nur für Leichtgläubige oder Menschen, die wenig nachdenken wollen, ein willkommener Köder, sondern oft auch für solche, die dem gesellschaftlichen Leben gegenüber skeptisch geworden und bereit sind, sich auf neue Gedanken und Wege einzulassen. Deshalb haben spirituell oder esoterisch gesinnte Menschen oft eine besondere Affinität zu Theorien, die letztlich einen blinden Glauben erfordern und/oder von dominanten, autoritären Meinungsmachern vertreten werden, und schließen sich solchen Strömungen gerne an.

Das kann tragisch sein. Denn das in vielen Lebensbereichen ja durchaus angebrachte Empfinden, dass etwas falsch läuft, dass die Menschen gleichgeschaltet reagieren oder dass wir macht- und geldorientierten Einflüssen ausgeliefert sind, führt dann nicht zur inneren Befreiung durch einengeistigen Weg, sondern erschöpft sich im Fingerzeig auf Chemtrails und Kornkreise, Freimaurer und Aliens.

Damit soll nun nicht zum Ausdruck kommen, dass es grundsätzlich falsch oder fragwürdig ist, sich mit solchen Themen zu befassen. Nein, gerade Forschungen in umstrittenen Grenzbereichen können alte Denkmuster erfolgreich überwinden helfen. Aber sie sollten nach unserer Meinung keinen übermäßigen Stellenwert erhalten, der den Blick auf das Wesentliche im Leben verstellt – auf das, was uns im Alltag sicht-, hör- und fühlbar zur persönlichen Entwicklung und Vervollkommnung anregt.

Bequemer als im steten Wandel neuer Entschlüsse und Erkenntnisse den Halt in sich selbst zu finden, ist es freilich, den Halt innerhalb einer Gruppe Gleichgesinnter zu suchen. Deshalb ist für jede Theorie auch eine gewisse Verschwörungsgemeinschaft maßgeblich. Jeder Mensch sucht Bestätigung für seine Sicht der Dinge. Bliebe er darin der einzige, würde er schnell seine Ansichten ändern.

Aber Gemeinschaften sind in Zeiten von Facebook und anderen Internetforen längst nicht mehr auf persönliche Bekanntschaften in einem überschaubaren regionalen Umfeld angewiesen. Sie sind weltweit sehr schnell zu finden, und auch die abstrusesten Theorien können dann, wie es der Kommunikationswissenschaftler Joachim Westerbarkey einmal formulierte, „überspringen wie ein Floh von einem Menschen auf den anderen“.

Auf diese Weise entwickeln sich um die verschiedensten Themen neue „geozentrische Weltbilder“, bei denen beschränkte, selbstbezogene Sichtweisen unbeweglich ins Zentrum rücken, während das „heliozentrische“ Bild des Gesamtgeschehens ausgeklammert oder in Frage gestellt wird.

Übrigens würde man falsch liegen, wenn man bei dem Wort Verschwörungstheorie nur an die skurrilen Exponate aus der Asservatenkammer des Internets denkt. Denn jeder Mensch ist gefährdet, seinen eigenen Glauben, der meist doch nur aus Vermutungen, übernommenen Meinungen und verallgemeinernden Theorien besteht, zu einem „gültigen“ Weltbild zu überhöhen – womit er sich bereits im Vorzimmer der Verschwörungstheorie befindet. Die Grenzen sind fließend, sie unterscheiden sich im Grunde nur im Grad der Abgrenzung gegenüber dem gängigen Weltbild und eventuell durch die Anzahl der Anhänger!

Sündenbock, Weltkomplott, Mythos und Konfession

Vom geheimnisvollen Bermuda-Dreieck bis zu den 9/11-Theorien, von der Überzeugung, durch Fernseh-Werbebilder unterhalb der Wahrnehmungsschwelle beeinflusst zu werden, bis hin zum „Klimaschwindel“ – alle die heute verbreiteten Verschwörungstheorien weisen bestimmte Muster auf. Und sie sind längst kein Randgruppenphänomen mehr, sondern ein Zeitzeichen, das die gesamte Gesellschaft betrifft – wobei Untersuchungen zeigen, dass Männer im allgemeinen mehr Verschwörungstheorien kennen als Frauen, sie aber weniger ernst nehmen. Frauen stimmen den Theorien dafür häufiger zu.

• Die Sündenbock-Theorien gehören zu den verbreitetsten Mustern: Wenn für ein bewegendes Ereignis befriedigende Erklärungen ausbleiben oder es einfach keine simplen Erklärungen gibt, neigen für Verschwörungstheorien „anfällige“ Menschen dazu, sich auf der Grundlage verfügbarer Informationsfragmente ihre eigene „Gewißheit“ zu zimmern.

Zu den verantwortlichen „Sündenböcken“ werden dabei vorzugsweise fremde Personengruppen, Minderheiten oder unüberblickbare Machtstrukturen gemacht, denen man von vornherein nicht über den Weg traut: die amerikanische Regierung, die CIA, die Weltbank … Was bei allen Sündenbock-Theorien psychologisch geschieht, ist einfach erklärt: eigene Unzufriedenheiten oder Aggressionen werden auf andere Personen oder Gruppen projiziert.

• Weltkomplott-Theorien sind ebenfalls besonders verbreitet, ihr Motto: Wir werden von dunklen Mächten gelenkt, wir werden im Tiefschlaf gehalten und manipuliert! Mit diesen Theorien geht oft ein depressiv-nihilistisches Weltbild einher: Die Welt ist schlecht, die Lage aussichtslos; geheime, unkontrollierbare Beschlüsse bestimmen über unser Leben, so dass wir nur Marionetten höherer Mächte sind. Mit dieser Sicht der Dinge wird natürlich auch ein großes Maß an Verantwortung für das eigene Leben abgegeben: Wenn es nicht so läuft, wie ich es mir wünsche … ich bin jedenfalls nicht daran schuld!

Die „bösen Verschwörer“ werden dagegen regelrecht allmächtig dargestellt – etwa dadurch, dass man ihnen absolute Perfektion unterstellt. Selbst wenn es um fingierte Terroranschläge oder länderweite Kooperationen geht, an denen Dutzende oder gar Hunderte „Geheimnisträger“ beteiligt sein müßten, klappt in der Weltkomplott-Theorie alles wie am Schnürchen. Das allein zeigt allerdings schon ihre Realitätsferne, denn menschliches Handeln ist nicht perfekt. In allen Projekten passieren Fehler, kommt es zu Pannen, und bisweilen geht es sogar stümperhaft und chaotisch zu. Wer nicht nur in einer theoretischen Welt lebt, weiß das.

• Mythos-Theorien kommen zustande, wenn aus Halbwahrheiten, Mißverständnissen oder problematischen Überlieferungen neue „Wahrheiten“ gebastelt werden. Ein klassisches Beispiel dafür ist eine Verschwörungstheorie zum Untergang der „Titanic“. Es seien damals, so heißt es, „gezielt“ nur Passagiere der 1. Klasse gerettet worden. Tatsächlich fuhren auf dem Unglücksschiff viele Auswanderer mit, welche die 3. Klasse belegten. Diese Menschen sprachen kein Englisch und hatten es schwer, die Anweisungen der Besatzung zu verstehen. Dass sie gezielt nicht gerettet wurden, ist nicht zu belegen.

Einfache Erklärungen dieser Art werden jedoch einen „Kenner der Materie“, der von seiner Verschwörungstheorie überzeugt ist, üblicherweise nicht befriedigen. Im Gegenteil: Sie sind ihm wahrscheinlich höchst verdächtig – als „durchschaubares Verteidigungsargument der Verschwörer“ … absolut unglaubwürdig!

• Konfessionelle Theorien sind solche Verschwörungstheorien, die religiösen Charakter haben. Wobei hier – und das gilt für den ganzen Kommentar zu diesem Thema – mit „religiös“ nicht der natürliche Bezug des Menschen zum Geistigen gemeint ist, nicht seine „re-ligio“ im Sinne der Rück-Verbindung zu seinem Ursprung, sondern eine falsche Verbindung zu dogmatischen Vorstellungen.

„Fanatismus ist nichts anderes als überkompensierter Zweifel“, formulierte Carl Gustav Jung. Und wie bei diversen Konfessionen hinter dem Glaubensfanatismus eigentlich ein abgründiger Zweifel steckt, der (möglichst viele) andere Menschen zur Bestätigung des eigenen Glaubens benötigt, so gibt es auch Verschwörungstheorien, die genau die gleichen Merkmale aufweisen: Irgend etwas wird „blind“ geglaubt, das Vorurteil gilt als Wahrheit, eine Prüfung der Inhalte wird nicht angestrebt oder wäre auch gar nicht möglich.

Wer jedoch nichts wissen, also nachempfinden und sachlich überprüfen will, für den kann letztlich jede noch so obskure These zum „Gesetz“ werden und zur Abhängigkeit von einem autoritären Meinungsmacher führen. Erich Fromm mahnt diesbezüglich nicht umsonst, zwischen rationaler und irrationaler Autorität zu unterscheiden: Rationale Autorität beruht auf Kompetenz, irrationale dagegen auf Druck, Angst und emotionaler Unterwerfung. Auf dieses Spiel des Herrschens und Beherrscht-sein-Wollens lassen sich Verschwörungstheoretiker ein, wenn sie eine vage Theorie, einen Privatglauben auf den Thron der Allmacht setzen!

Bis zu einem gewissen Grad sind alle Verschwörungstheorien solche Glaubenssysteme. Das englische „HarperCollins Dictionary of Sociology“ sieht es als für sie typisch an, dass „schädliche oder ungewollte soziale Konsequenzen den Aktivitäten bestimmter Gruppen zugeschrieben werden. Von diesen Gruppen wird angenommen, dass sie in der Lage seien, die Abfolge von Macht und ökonomischen Entscheidungsabläufen heimlich zu beeinflussen.“

Aber werden wir nicht wirklich manipuliert?

Bleibt natürlich die Frage: Aber werden wir nicht wirklich manipuliert? Gibt es nicht tatsächlich böse Machenschaften? Die altbekannte, dumme menschliche Gier nach Geld und Macht, die rücksichtslos auch über Leichen geht?

Selbstverständlich. Auch wenn das persönliche Weltbild stets ein Spiegel und Ausweis der Innenwelt ist und gute Menschen grundsätzlich eher an das Gute glauben denn an eine verkommene, von Verschwörern durch und durch manipulierte Welt, wäre es allzu naiv, nichtmit Machtgier, Arroganz und menschlichem Dünkel zu rechnen.

Zweifellos versuchen Politiker oder Wirtschaftskonzerne, die Medien und die Öffentlichkeit zu manipulieren und schrecken dabei auch vor unlauteren Mitteln nicht zurück. Wer selbst einmal in einer Redaktion gearbeitet hat, weiß, wie die Informationsflüsse funktionieren, welche internationalen Nachrichtenagenturen seriös und welche tendenziös sind, welche Texte brauchbare Information bieten und wo sich doch nur einseitige Werbebotschaften verstecken, welche Internet-Kommentare ernst zu nehmen und welche gezielt von Organisationen oder Interessengruppen gesteuert sind. Man kennt die manipulativen Tricks der Pressesprecher und PR-Agenturen, die gekonnt mit menschlichen Schwächen, Hoffnungen und Erwartungen spielen – aber man weiß als Journalist auch um seine Freiheiten in der Recherche. Und dass die große Verschwörung im Hintergrund, die die öffentliche Meinung per Knopfdruck gleichschaltet, in dieser Realität nicht existieren kann.

Ebenso zweifellos gibt es auch Wissenschaftler, die ihre eigene Arbeit und Meinung überschätzen oder vielleicht gar nicht bemerken, in welcher Dogmatik sie selbst gefangen sind; Gutachter, die im Dienst wirtschaftlicher Ziele stehen; Regierungen und Geheimdienste, die skrupellos gegen andere Länder vorgehen oder gezielt mit Fehlinformationen agieren, um ihre Interessen zu wahren.

Und doch haben wir als individuelle Geistwesen keinen Grund dafür, unsere ureigene Befindlichkeit von solchen Gegebenheiten abhängig zu machen.

Die wirklich gefährlichen „Verschwörungen“ liegen in den „kollektiven Gedankenformen“, in einer Gleichschaltung des Denkens bestimmter Gesellschaftsgruppen, die aber nicht von außen gesteuert, sondern von innen gewollt, also angestrebt wird – auf Grund der eigenen  Bedürfnisse und Begierden. Und wer den – vielleicht tief verborgenen – Wunsch hat, einzigartig zu sein, über ein geheimnisvolles Wissen zu verfügen, das ihn aus dem „Mainstream“ heraushebt, gerät besonders leicht in die Verschwörungsfalle.

Die Suche nach den dunklen Mächten im tiefsten Hintergrund der Außenwelt dient dem Drang nach Freiheit und Erkenntnis nicht wirklich.

Die Wahrheit ist doch nicht irgendwo da draußen. Sie liegt ganz nah … irgendwo in der höchstpersönlichen Gedankenwelt.

Hinweis: Dieser Text entstand in redaktioneller Zusammenarbeit mit meinem geschätzten Kollegen Mehmet Yesilgöz, Heilbronn