12. Dezember 2024

COVID-19-Pandemie, Phase 6 (23. März 2020)

Wenn die bange Frage, wie es weiter geht, auf banale Verschwörungstheorien trifft.

Phase 1: Ende Dezember 2019 wird in der chinesischen Millionenstadt Wuhan der Ausbruch einer neuen Atemwegserkrankung entdeckt. Ein Arzt des Zentralkrankenhauses der Stadt, Li Wenliang, warnt seine Kollegen vor einer neuen Virus-Variante (SARS-CoV-2), die potentiell tödliche Lungenentzündungen (COVID-19) verursacht.

Phase 2: Nach anfänglichem Zögern wird die Krankheit in China als große Gefahr erkannt. Sie breitet sich rasch aus; am 7. Februar 2020 stirbt Li Wenliang selbst an den Folgen der Infektion.

Phase 3: Durch drastische Quarantänemaßnahmen versucht China, die Ausbreitung der Krankheit einzudämmen. Doch die Krankheit hat bereits auch Nachbarländer und über den Flugverkehr auch andere Kontinente erreicht.

Phase 4: COVID-19 wird zum großen Thema für die internationale Presse. Am 15. Februar meldet Frankreich den ersten COVID-19-Todesfall außerhalb Asiens. Am 11. März 2020 erklärt die Weltgesundheitsorganisation WHO die bisherige Epidemie offiziell zu einer Pandemie.

Phase 5: COVID-19 wird für nationale Presse und Politik aller Länder zum Hauptthema. Es kommt zu Hamsterkäufen. Um zu verhindern, dass ihre Gesundheitssysteme überlastet werden, ergreifen die meisten Länder rigorose Maßnahmen zur Vermeidung sozialer Kontakte. Um einem wirtschaftlichen Kollaps vorzubeugen, werden in den Ländern Milliardenbeträge locker gemacht.

Phase 6, heute: COVID-19 hat das öffentliche Leben in den meisten Ländern lahm gelegt. Am Vormittag des 23. März 2020 sind weltweit rund 350.000 Infektionsfälle dokumentiert (davon mehr als 80.000 in China) und etwa 15.000 Todesfälle in insgesamt 191 Ländern bekannt geworden. Die Infektions-Dunkelziffer wird als sehr, sehr hoch eingeschätzt.

Wie wird „Phase 7“ aussehen? Wie wird es weitergehen? Aktuell erscheinen die Aussichten düster, denn es gibt im Fall von COVID-19 keine Grundimmunisierung („Herdenimmunisierung“ oder „Durchseuchung“) in der Bevölkerung. Damit sich die Krankheit so „geordnet“ ausbreiten kann, wie wir es von den jährlichen Grippewellen gewohnt sind, müssten zwei Drittel der Bevölkerung Immunität erworben haben.

Aber wie ist diese Immunisierung erreichbar? 

Ein wirksamer Impfstoff steht derzeit nicht zur Verfügung. Eine Hoffnung der politisch Verantwortlichen besteht darin, durch die Vermeidung sozialer Kontakte so viel Zeit zu gewinnen, dass er entwickelt, getestet und angewendet werden kann.

Wenn es nicht gelingt, die COVID-19-Verbreitung durch Quarantäne-Maßnahmen, Ausgangsbeschränkungen, -sperren und „social distancing“ einzudämmen, könnte es in kurzer Zeit weltweit Millionen Tote geben – bis eben die Grundimmunisierung erreicht ist. 

Wenn die Eindämmung der COVID-19-Verbreitung kurzfristig durch mehrmonatige Restriktions-Maßnahmen gelingt (darauf hofft man in den meisten Ländern weltweit), dann ist damit nur die erste Welle von Infektionen bewältigt, die allerdings nur relativ wenige Menschen aus der Gesamtbevölkerung betroffen hat. Eine Grundimmunisierung ist so nicht erreichbar. Es muss demnach gelingen, alle „Infektion-Hotspots“ ausfindig zu machen und eine mögliche Wiederausbreitung des Virus sofort zu unterbinden – bis Medikamente zur Verfügung stehen. Andernfalls würde es schnell zu weiteren Infektionswellen kommen.

Aber egal, welches Szenario für „Phase 7“ Wirklichkeit wird, die Folgen für das soziale Zusammenleben und für die Wirtschaft sind unabsehbar. Werden Reisen und große Kulturveranstaltungen bald nur noch für getestete oder immunisierte Menschen möglich sein? Wie geht es in der Lebensmittelproduktion weiter, für die Börsen, in der Gesundheitsversorgung … Schon jetzt zeichnet sich ab, dass es in vielen Bereichen überhaupt nicht mehr möglich sein dürfte, zu dem zurückzukehren, was wir noch im Februar 2020 als „Normalzustand“ erlebt haben. 

Das hat durchaus sein Gutes. Denn dieser „Normalzustand“ hinterließ in seiner Alltagshektik, Rastlosigkeit und Naturferne einen katastrophalen ökologischen Fußabdruck. Er machte viele Menschen physisch und psychisch krank und förderte oft eher das mechanische Nebeneinander statt das menschliche Miteinander.

Die COVID-19-Pandemie bietet die Chance für eine Neuorientierung. Wenn das regionale Miteinander wichtiger wird, die allgemeine Wertschätzung für lebenswichtige Arbeiten wächst oder sich ungewohnte Hilfsbereitschaft entfaltet, so sind das erste erfreuliche Anzeichen für einen Umbruch. Weitere werden folgen, denn in der Krise entfaltet der Mensch bekanntlich erhöhte Kreativität und findet die Nähe zu den stillen, tiefen Seiten des Lebens wieder, die von der bisherigen „Normalität“ regelmäßig überdröhnt worden waren.

Mit ihrem Zwang, das unmittelbar wirklich Wichtige zu achten und manche Nichtigkeit als solche zu erkennen, ist die COVID-19-Krise zu einem Wegweiser ins Hier und Jetzt geworden. Illusionen wie die, dass wir Menschen eh alles fest in der Hand haben und jede Entwicklung letztlich nur von Geld und Macht abhängig sei, treten in den Hintergrund.

COVID-19 in der „Parallel-Betrachtung“

Interessanterweise scheint es vertrauensseliger veranlagten Menschen unmittelbar leichter zu fallen, in der Wirklichkeit des Hier und Jetzt anzukommen, in der Krise das Richtige zu tun und hilfreiche Ideen zu entwickeln, als solchen, die gesellschaftlichen Fehlentwicklungen schon bisher kritisch gegenüber gestanden sind.

Wer auf Grund persönlicher Frustrationen (oder weshalb auch immer) eine grundlegende Skepsis gegenüber Wissenschaft, Medien, Politik oder Finanzwelt entwickelt hat daran gewöhnt ist, nach „verschwiegenen Wahrheiten“ abseits des Mainstreams zu suchen, findet derzeit im Internet (wo ja jeder fast alles loswerden darf) bei Verschwörungstheoretikern, Besser- und Alleswissern ein breites „Corona-Aufklärungs-Angebot“.   

Womit ich auf die eingangs beschriebenen „sechs Phasen“ zurückkomme, in denen ich die bekannten Fakten zur COVID-19-Pandemie chronologisch zusammengefasst habe. Die Anregung für diese „Phasen-Darstellung“ lieferte mir eine E-Mail, die ich Anfang März erhielt – just zu der Zeit übrigens, als gerade die ersten erschütternden Bilder von völlig überforderten Intensivstationen in Italien durch die Medien gingen.

In dieser Nachricht, die mit der Schlagzeile „Wir befinden uns derzeit in Phase 6“ versehen war, wurde allerdings eine (nachsichtig formuliert:) „Parallel-Betrachtung“ der Ereignisse vorgestellt, die inzwischen weit verbreitet ist. Sie unterstellt, dass die COVID-19-Krise geplante „Phasen“ durchlaufe und in Wirklichkeit auf Panikmache ausgerichtet sei, um einen neuen Impfstoff zu verkaufen, der schließlich vernichtet würde, weil die Krankheit sowieso von selbst wieder abflauen würde.

Der Originaltext lautete: 

Phase 1: In einem Biolabor mutiert ein Virenstamm und wird freigesetzt.
Phase 2: Die Erkrankung breitet sich lokal aus.
Phase 3: In ersten Nachbarländern bricht die Krankheit aus, ganze Regionen werden unter Quarantäne gestellt.
Phase 4: Die Presse kennt nur noch dieses Thema, gibt Prognosen und Tipps und schürt die Panik.
Phase 5: Die hiesige Presse berichtet über erste Einheimische, die bereits in Behandlung sind.
Phase 6: Die Panikmache wirkt, viele haben Angst.
Phase 7: Politiker der westlichen Welt fordern Maßnahmen und einen Impfstoff.
Phase 8: Obwohl die Entwicklung eines Impfstoffs normalerweise Jahre dauert, finden Forscher wie durch ein Wunder schnell ein Mittel.
Phase 9: Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt den massenweisen Kauf des neuen Impfstoffs zum Schutz der Bevölkerung.
Phase 10: Insbesondere die westlichen Staaten lagern für Milliardenbeträge den Impfstoff ein, die Industrie macht astronomische Gewinne, jeder bekommt sein Scherflein.
Phase 11: Die Erkrankung flaut von selbst ab, die eingelagerten Impfdosen werden nach Ablaufdatum vernichtet.
Phase 12: Die nächste Pandemie ist in den Biolabors bereits in Vorbereitung.

Dazu eben die Schlagzeile: „Wir befinden uns derzeit in Phase 6“.

Ein paar Tage später bekräftigte der Absender dieses E-Mails in einem Web-Beitrag seine Meinung, dass es sich bei „COVID-19“ um den dritten Versuch handle, „letztlich wirkungslose Pharma-Produkte“ zu verkaufen, denn, so meint er: „Wir wissen seit langem, dass die ,Vogelgrippe‘ wie auch die ,Schweinegrippe‘ eine politische Betrugspropaganda waren …“

Sachlich betrachtet, widerspiegeln die in diesem Text beschriebenen ersten sechs Phasen nichts weiter als bekannte Entwicklungen, kombiniert mit der einleitenden Unterstellung, das Virus würde aus einem Biolabor stammen (was möglich, aber nicht bewiesen ist). Dass die weitere Entwicklung (Erkrankung flaut von selbst ab, Impfdosen werden vernichtet) dramatisch anders verläuft, ist bei nüchterner Betrachtung längst klar. 

Normalerweise hätte ich mich über eine so offensichtlich konstruierte Nachricht aus der Parallel-Welt der Verschwörungstheorien nur geärgert. Vor allem deshalb, weil derlei Meinungen (und es gibt ja viele ähnliche im Netz) auf die einfache Interpretation „Alles nur ein großer Pharma-Schwindel“ hinaus laufen, keinerlei Lösungsansätze bieten, die dramatische Situation Zehntausender, die an Beatmungsgeräten um ihr Leben kämpfen, geradezu zynisch kommentieren und einzelne Menschen vielleicht sogar davon abhalten, Quarantänemaßnahmen oder andere Verordnungen ernst zu nehmen.

Aber in diesem Fall kannte ich den Absender und Verfasser dieser Texte als durchaus kritischen, eigenständigen Denker, dessen idealistische Ansichten ich in anderen Bereichen oft als bemerkenswert und anregend empfunden hatte. 

Diese und ähnliche Erfahrungen aus anderen Gesprächen und Korrespondenzen legen nahe, dass es für kritische Menschen, die philosophischen oder spirituellen Idealen zugeneigt sind, besonders schwer sein kann, sich in die neue gesellschaftliche Wirklichkeit einzufinden, in die die COVID-19-Krise uns alle – hier und jetzt – stellt.

Altvertraute Positionen neu in Frage zu stellen, auch die Gewohnheit, die Welt von der Position des „wissenden Beobachters“ aus wie eine Bühne zu betrachten, das ist gewiss keine Kleinigkeit.

Von „sechs Phasen“ zu sprechen ist letztlich natürlich eine völlig willkürliche und unnötige Einteilung. Aber eben typisch für „Parallel-Betrachtungen“, die skeptischen und/oder frustrierten Menschen erklärende Strukturen vermitteln wollen, dabei aber keinen Unterschied zwischen Meinung und Tatsache machen und auch noch nicht wirklich im Hier und Jetzt angekommen sind.

Es gibt keine geplante Phase 7. Aber es wird eine Zeit nach COVID-19 geben. Und wenn wir die sich jetzt öffnenden Chancen auf eine Neuorientierung nutzen, dann könnte sich das Leben vieler Menschen künftig wesentlich erfüllter und entspannter gestalten als in der alten „Normalität“.

Darin liegt eine Hoffnung.