28. November 2024

Der Tag, an dem ich jünger wurde

Mein Freund Jens #5

Neulich, am frühen Abend, überraschte mich mein Freund Jens mit seinem Anruf. „Kannst Du Dir heute noch Zeit nehmen?“ fragte er, und während ich überlegte, fügte er launig hinzu: „Vorausgesetzt, dass sich Zeit grundsätzlich nehmen lässt!“

Ich ahnte, welches Thema anstand.

Bald darauf saßen wir gemütlich bei einem Glas Bier und philosophierten über das Phänomen verstreichender Sekunden, Minuten und Menschenleben.

„Ich habe heute ein nettes Zitat von Albert Einstein gelesen“, sagte Jens. „Er behauptete, das Vergehen der Zeit sei reine Illusion. Ich denke, er hat Recht.“

„Auch wenn es heute vielleicht spät werden wird?“

Jens ließ sich nicht ablenken. „Die Frage ist nur, ob das Vergehen der Zeit oder die Zeit selbst eine Illusion ist.“

„Du hast sicher eine Theorie“, vermutete ich.

„Ich habe zwei“, sagte Jens. „Nummer 1 lautet: Es gibt keine absolute Zeit im Sinn von feststehenden Spannen und Einheiten, sondern es gibt nur eine Abfolge von Zuständen, die wir wahrnehmen und aus der wir in unserem Bewusstsein eine Linie konstruieren, die aus der Vergangenheit in die Zukunft führt. Zeit wäre demnach nur eine Illusion, ein Behelf unseres Gehirns zur Orientierung in der Welt.“

„Und Theorie Nummer 2?“

„Nummer 2 besagt, dass es eine absolute Zeit gibt, die aber eben nicht vergeht, sondern gemeinsam mit dem Raum eine Grundgegebenheit ist, aus und in der sich Wirklichkeit ereignet. Ohne Raum gibt es keine Zeit und ohne Zeit keinen Raum. Beides ist veränderlich, dynamisch, aber es vergeht nicht. Was meinst Du?“

Ich überlegte. Eigentlich waren Gesprächsgespinste ohne Nützlichkeit fürs Leben nicht mein Lieblingsthema. Aber ich wollte Jens nicht enttäuschen und grub mich in seine Gedanken. „Ich würde Einstein einfach so verstehen“, antwortete ich dann, „dass nicht die Zeit sich bewegt, sondern wir uns in der Zeit – mit jeder Bewegung und jedem Willensentschluss. Insofern kann ich mich eher mit Deiner zweiten Theorie anfreunden.“

„Gut!“ Jens schmunzelte. „Wir teilen ausnahmsweise die gleiche Vorliebe. Das führt uns jetzt aber zu einer entscheidenden Frage: Wenn die Zeit stillsteht und wir uns in ihr bewegen – wer könnte mit Sicherheit sagen, dass diese Bewegung immer nur in eine Richtung führt?“

Waren wir dabei, in die Untiefen der Science-Fiction abzugleiten. Aber warum auch nicht. Die Sommernacht war jung und lind und Jens offensichtlich einmal nicht in Stimmung für einen weltanschaulichen Disput. Ich fragte vorsichtig nach: „Du meinst, weshalb wir mit dem, was wir tun, immer nur die Zukunft, nicht aber die Vergangenheit beeinflussen?“

„Genau“, sagte Jens. „Rein mathematisch gibt es nämlich meines Wissens keine einzige Formel zu den Naturgesetzen, deren Zeitpfeil unbedingt ausschließlich nur in Richtung Zukunft führt!“

Ich überlegte, ob ich diesen gedanklichen Exkurs doch zurück ins Leben leiten sollte. „Das allgemeine Erfahrungswissen lautet aber: ,Was der Mensch sät, das wird er ernten’“, wandte ich dann ein. „Das bedeutet doch, sofern meine Gedanken nicht allzu schräg gelagert sind, dass zuerst die Saat erfolgen muss und nicht die Ernte!“

Jens hatte kein Problem mit diesem Argument: „Der Zusammenhang von Saat und Ernte bleibt natürlich bestehen“, sagte er, „aber das Gesetz der Kausalität gilt auch, wenn man formuliert: ,Was der Mensch erntet, das wird er säen!’“

Ich starrte meinen Freund etwas unbeholfen an. Meinte Jens das wirklich ernst?

„Pass mal auf!“ sagte er und zog die Abschrift einer wissenschaftlichen Arbeit hervor. „Kennst du den Physiker Helmut Schmidt?“

Ich schüttelte den Kopf. Man muss nicht jeden kennen und nicht alles wissen.

„Ein bemerkenswerter Wissenschaftler“, sagte Jens und überflog die Daten und Fakten, während er zusammenfasste, worum es ging. „Vor ein paar Jahren hat er folgendes Experiment gemacht: Er schloss an ein Stereo-Tonbandgerät einen Zufallsgenerator an, der Klicklaute produzierte, die auf das Band aufgezeichnet wurden – zufällig verteilt auf dem linken und dem rechten Kanal und – wichtig! – ohne dass jemand dabei zuhörte. Dieses Band, also das Originalband, wurde kopiert und weggesperrt. Die Kopien bekamen daraufhin Versuchspersonen zu hören, und diese sollten während des Hörens ihre Absicht einbringen, mehr Klicks am linken Ohr zu hören. Bei etwa 20.000 Versuchen dieser Art ergab die darauf folgende technische Auswertung, dass in den meisten Fällen tatsächlich mehr Klicks auf dem linken Kanal produziert worden waren – und zwar schon auf dem Originalband! Frage also: Können sich Willensentschlüsse aus der Gegenwart auf die Vergangenheit auswirken? Vorausgesetzt, man beobachtet diese Auswirkung nicht vor dem Willensentschluss?“

Jens meinte es ernst.

„Ein solches Untersuchungsergebnis würde man gemeinhin als Zufall bezeichnen“, sagte ich zögerlich. Ich hatte Mühe zu begreifen, dass ausgerechnet Jens, den ich als Skeptiker und nüchternen Naturalisten eingeschätzt hatte, den Einfluss von Willenskraft auf Materie für möglich hielt und sich nun mit Begeisterung in die Details seiner Recherchen verstieg. 

„Nein, der Effekt war eindeutig“, widersprach er. „Und es gibt, wie ich recherchiert habe, eine Menge ähnlicher Experimente, die die Möglichkeit einer rückwirkenden Beeinflussung beweisen, dass also unsere Absichten hinein in die Vergangenheit wirken können. Eine Saat von heute kann schon gestern zu einer Ernte geführt haben!“

Jens wusste wohl, dass er mich durch seine Überlegungen verblüffte. In seinem Blick schmunzelte der Triumph. „Ich bin durch die Quantenphilosophie auf diese Dinge gestoßen“, erklärte er dann. „Ein faszinierendes Terrain!“

Ich gab mir keine Mühe, meine gesteigerte Skepsis zu verbergen. „Aber Dir ist schon klar, dass ,Quanten‘ vor allem in der Esoterik höchst beliebt sind. Dort quantelt es momentan an allen Ecken und Enden. Quanten klingen verheißungsvoll nach Zukunft, erklären alles und nichts – und kaum jemand weiß genau, worum es dabei geht!“

Irgendwie hatten wir unsere Rollen getauscht. Üblicherweise war Jens der ungläubige Zyniker, den ich davon zu überzeugen suchte, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt, als die Wissenschaft sich träumen lässt. Heute hatte er mich rechts überholt.

„Soweit ich es bisher beurteilen kann“, sagte er, „anerkennt die Quantenphilosophie das Bewusstsein als ausschlaggebend für jegliches Geschehen. Bewusstsein formt aus einem Meer der Wahrscheinlichkeiten die konkrete Wirklichkeit. Diese Erkenntnis müsste Deinen mythologisch-religiös verbrämten Ansichten doch sehr gelegen kommen!“

Ich ließ die Neckerei ruhig an mir abgleiten. Meiner Erinnerung war gerade ein munterer Gedanke entstiegen: „Hast Du schon mal von Urd, Werdanda und Skuld gehört, von den drei Nornen am Fuß des Weltenbaums?“

Jens schüttelte, wie erhofft, verdutzt den Kopf.

„Die Nornen verknüpfen für alle Menschen die Schicksalsfäden aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Naja, und ich könnte mir schon vorstellen, dass in den himmlischen Webstühlen diese Fäden tatsächlich in- und durcheinanderschießen. Vielleicht ließe sich ohne das Hinterfließen der Vergangenheit durch die Zukunft gar kein Schicksalsknoten knüpfen!“

Nun signalisierte der Blick meines Freundes eine gewisse Entgeisterung.

„Keine Sorge, mir geht es gut!“ sagte ich. „Aber es ist doch legitim, neue Ideen an alten Überlieferungen zu messen.“

„Du glaubst an Nornen?“ Jens schnaufte hörbar.

„Wie könnte ich anders?“ antwortete ich schmunzelnd. „Meine Gedanken sind nun mal mythologisch-religiös verbrämt! Und wenn du als Naturalist – wer weiß, was in dich gefahren ist – plötzlich den Einfluss von Willenskraft auf Materie für diskussionswürdig hältst, dann muss ich ja andere Töne anschlagen!“

Der spätere Abend führte uns noch tiefer in die unermesslichen Weiten der Quantenphilosophie, in denen alles möglich, aber nichts konkret erscheint – es sei denn, man entscheidet sich für eine bestimmte Sicht der Dinge.

Also mutmaßten wir und lachten und ließen uns von kühnen Gedankengespinsten hinein in die Nacht tragen. Und mit dem letzten Glas Bier beschloss ich, der skurrilen Idee, wir könnten uns bisweilen auch in Richtung Vergangenheit bewegen, eine Chance zu geben.

Denn irgendwie fühlte ich mich gerade tatsächlich verjüngt … und bereit für eine ganz andere Geschichte.

Grafik: Roger Gut