29. April 2024

Eine Stimme vereint die Welten

Claude Zidis Musik-Drama „Tenor“ 

Der vielseitig talentierte junge Antoine (Mohammed Belkhir) lebt mit seiner Freundesclique in Paris. Er tritt mit einigem Erfolg in Hip-Hop-Clubs bei Rap-Battles an, unterstützt seinen Bruder Didier (Guil­laume Duhesme) bei illegalen Boxkämpfen in einer Banlieue und studiert ohne allzu großes Engagement Buchhaltung. Zwischendurch jobbt er als Liefer-Bursche für einen Sushi-Laden. In seinem Umfeld nimmt sich niemand ein Blatt vor den Mund, der Ton ist rau und direkt, aber auf Vertrauen und Zusammenhalt fokussiert.

Als Antoine eines Tages für einen Freund einspringt, um eine Sushi-Lieferung in die Pariser Oper zu bringen, ändert sich sein Leben. Er stolpert dort in eine Gruppe von Gesangs-Studenten, die gerade Unterricht bekommen. Und als er, fasziniert vom Ambiente der Oper, der Darbietung einer jungen Sängerin lauscht, wird Antoine prompt von einem der angehenden Sänger angemotzt. Er habe seine Sushi abgeliefert und solle sich wieder aus dem Staub machen.

Antoine revanchiert sich mit einer gerappten Verbal-Lawine, die den Studenten verdutzt zurück lässt, und äfft im Hinausgehen herablassend die Arie nach, die er soeben gehört hatte. Damit aber zieht er die Aufmerksamkeit von Madame Loyseau (Michèle Laroque), der Gesangslehrerin, auf sich. Denn sie erkennt sofort das Potential in Antoines Stimme.

Wenig später überzeugt sie den jungen Rapper, seine Stimme ausbilden zu lassen. Antoine ist dazu bereit – aber trotzdem unsicher. Denn die Welt der Oper scheint allzu weit entfernt von der Lebenswirklichkeit in der Pariser Vorstadt. Weder seinem Bruder, der inzwischen bei einem Kampf aufgeflogen ist und im Knast sitzt, noch seinen Freunden wagt er von seinen Gesangstunden zu erzählen.

So wächst einerseits Antoines Faszination für die Opernwelt, wo er bereits den Startenor Roberto Alagna kennengelernt hat, und andererseits auch die Entfremdung von seinem bisherigen Leben. Er kommt nicht mehr zum Buchhaltungs-Unterricht und wirkt abwesend, desinteressiert. Und auch, wenn seine Freunde nicht wissen, was mit ihm los ist – fest steht für sie, dass Antoine etwas verheimlicht, dass er ihnen nicht mehr so vertraut wie früher …

Schließlich, ausgerechnet vor einem wichtigen Vorsingen, das ihm endgültig eine Karriere als Opernsänger eröffnen könnte, fliegt Antoines Doppelleben durch einen Zufall auf …

Der französische Regisseur Claude Zidi jr. hat mit „Tenor“ ein berührendes Drama geschaffen, das sowohl stilistisch als auch schauspielerisch überzeugt. Als Antoine ist Mohammed Belkhir zu sehen. Er wurde als Beatbox-Champion MB14 bekannt und gab mit dieser Rolle sein Schauspiel-Debüt – eine Idealbesetzung, ebenso wie Michèle Laroque als Gesangslehrerin.

Klar: Die Vorstadt-Charaktere – allesamt vom Typus „harte Schale, weicher Kern“ – erscheinen ein wenig realitätsfern, und ebenso die Annahme, ein Sänger könne nach ein paar Wochen Unterricht ein überzeugendes „Nessun dorma“ in den Saal schleudern. Aber für die Grundaussage des Films spielt das keine Rolle – und die lautet: Oper erzeugt Emotionen, mächtige Gefühle und Empfindungen, die unmittelbar und tief berühren können, auch wenn jemand mit diesem Genre zuvor noch nie zu tun hatte. 

Vielleicht sogar gerade dann. Denn oft haftet der Welt der Oper das Etikett des Elitären, schwer Zugänglichen, Abgehobenen an – und das kann zu mancherlei Vorurteilen führen. 

Doch auch in dieser Welt arbeiten vor und hinter den Kulissen einfach begeisterungsfähige und -hungrige Menschen. Gut möglich, dass manche sich gelegentlich – wie Madame Loyseau – eine Rap-CD gönnen. Oder einen Download.

(2022, 141 Minuten)