12. Dezember 2024

Entscheidung gegen das Ende der Oper

Capriccio

• Oper in einem Akt von Richard Strauss

Libretto: Clemens Krauss (1893–1954) und Richard Strauss (1864–1949)
Musik: Richard Strauss (1864–1949)
Uraufführung: 28. Oktober 1942, München (Staatsoper)
Dauer: ca. 2,5 Stunden

Ort der Handlung: Ein Schloss nahe Paris

Hauptpersonen:
Die Gräfin Madeleine: Sopran
Der Graf, Madeleines Bruder: Bariton
Flamand, ein Musiker: Tenor
Olivier, ein Dichter: Bariton
La Roche, Theaterdirektor: Bass
Clairon, Schauspielerin: Alt
Monsieur Taupe, Souffleur: Tenor
Eine italienische Sängerin: Sopran
Ein italienischer Sänger: Tenor
Haushofmeister: Bass

Kurze Werkeinführung

„Capriccio“, uraufgeführt am 28. Oktober 1942 in der Staatsoper München, ist die letzte Oper, die Richard Strauss komponierte. Das „Konversationsstück für Musik“, wie der deutsche Komponist sein Werk bezeichnete, hat das Thema „Oper“ zum Inhalt. Es befasst sich mit der häufig diskutierten Frage, ob in einem solchen Werk letztlich die Musik oder der Text Vorrang habe.

Die Idee, ein philosophisch-theoretisches Thema zum Inhalt einer Oper zu machen, stammte in den 1930-er Jahren vom österreichischen Dichter Stefan Zweig (1881–1942), der bei seinen literarischen Forschungen auf diesen Stoff gestoßen war. Strauss fing sofort Feuer und wünschte sich Zweig als Textdichter. Doch an eine künstlerische Zusammenarbeit war auf Grund der politischen Entwicklungen bald nicht mehr zu denken – Zweig war als Jude gebrandmarkt worden und wanderte schließlich nach Brasilien aus –, und Strauss war auch mit Text-Entwürfen, die der mit Zweig befreundete österreichische Librettist Joseph Gregor (1888–1960) geschrieben hatte, nicht zufrieden.

Schließlich arbeitete der Dirigent und Theaterleiter Clemens Krauss (1883–1954) gemeinsam mit Strauss am endgültigen Text. Er war es auch, der die Premiere dirigierte – etwa ein Jahr bevor das Nationaltheater bei einem Luftangriff auf München durch Fliegerbomben zerstört wurde.

Der Operntitel „Capriccio“ ist ein Begriff aus der Kunsttheorie, der darauf anspielt, dass das Werk traditionelle (musikalische) Formen und Regeln launig und eigenwillig überwindet.

Die Oper spielt um 1775 im Gartensaal eines Rokokoschlosses in der Nähe von Paris. Damals war der deutsche Opernkomponist Christoph Willibald Gluck (1714–1787) an der Pariser Oper tätig.

Richard Strauss betrachtete „Capriccio“ als sein Opern-Vermächtnis. Die Schönheit der Musik wurde und wird immer gelobt. Und obwohl dieses Konversationsstück, bei dem es um Ideen geht, das breite Publikum vielleicht nicht genau so (schnell) zu begeistern vermag wie andere Werke des deutschen Meisterkomponisten, wird „Capriccio“ bis heute auf den großen Bühnen der Welt erfolgreich aufgeführt.

Die Handlung

Kurz und gut …

Es ist eigentlich müßig, vor dem Souper darüber zu streiten, ob in der Oper die Musik oder der Text wichtiger sei. Aber zum Glück findet diese Auseinandersetzung doch statt – sonst gäbe es „Capriccio“ nicht.

Ein Schloss nahe Paris

Zur Feier ihres Geburtstages hat die junge, verwitwete Gräfin Madeleine den Musiker Flamand und den Dichter Olivier in ihr Schloss geladen. Es ist früher Nachmittag, und die beiden beobachten in einem Salon die Gastgeberin, wie sie mit geschlossenen Augen einem von Flamand komponierten Streichsextett lauscht.

In einem Armlehnstuhl schlummert indessen La Roche, ein Regisseur und Theaterdirektor, an dem die Schönheit der Musik vorbeigeht. Sein Revier ist die Inszenierung; später am Abend soll unter seiner Regie ein Schauspiel Oliviers aufgeführt werden. Bis dahin gilt für La Roche das Motto: „Bei sanfter Musik schläft sich’s am besten.“

Sowohl Flamand als auch Olivier lieben die Gräfin und wollen sie mit ihren Werken für sich einnehmen. Die beiden Künstler sind sich aber einig, dass letztlich Madelaine in ihrem alten Streit, ob „Wort oder Ton“ künstlerisch bedeutender sei, entscheiden soll. Flamand und seine Musik oder Olivier und sein Text? Die Entscheidung wird auch eine sehr persönliche sein …

Doch die Gräfin hat zunächst, wie sie ihrem Bruder anvertraut, gar nicht vor, einem der beiden grundsätzlich den Vorzug zu geben, „denn hier zu wählen, hieße verlieren.“ Und La Roche ist sowieso davon überzeugt, dass letztlich weder der Text noch die Musik darüber entscheiden, ob eine Oper Anklang finde. Prunkvolle Kostüme, hohe Töne, schöne Frauen und die Kunst der Inszenierung – darauf komme es in Wirklichkeit an.

Apropos schöne Frauen: Der Graf freut sich auf die Ankunft Clairons, einer von ihm bewunderten und umworbenen Schauspielerin, die zur Probe erwartet wird, weil sie gemeinsam mit ihm in Oliviers Schauspiel mitwirken soll. Das wird ihm Gelegenheit bieten, ihre Zuneigung zu gewinnen … für ein schnelles Abenteuer, ganz so, wie er es liebt. Die Gräfin hingegen, seine Schwester, sehnt sich nicht nach dem „Glück des Augenblicks“; sie sucht das „Glück des Lebens“, die wirkliche Liebe, die Bestand hat.

Nachdem Clairon eingetroffen ist, beginnen die Proben, und bald richtet sich der Graf – wodurch er eindrucksvoll seine Begabung als Schauspieler demonstriert – mit einigen besonders leidenschaftlich formulierten Verszeilen an die Frau seines Begehrens:

Kein Andres, das mir so im Herzen loht,
Nein, Schöne, nichts auf dieser ganzen Erde,
Kein andres, das ich so wie dich begehrte,
Und käm’ von Venus mir ein Angebot.
Dein Auge beut mir himmlisch-süße Not,
Und wenn ein Aufschlag alle Qual vermehrte,
Ein andrer Wonne mir und Lust gewährte, –
Zwei Schläge sind dann Leben oder Tod.
Und trüg’ ich’s fünfmal Hunderttausend Jahre,
Erhielte außer dir, du Wunderbare,
Kein and’res Wesen über mich Gewalt.

Clairon ist über den „in Feuer geratenen“ Grafen begeistert: „Bravo, Bravo! Sie sind wirklich kein Laie. Ich bin fest entschlossen, zu Ihrem theatralischen Talent in nähere Beziehung zu treten.“

Olivier, der Dichter des Stückes, hatte seinen Liebeswerbetext allerdings nicht für Clairon geschrieben, sondern für die Gräfin. Also umschwärmt er mit den gleichen Zeilen jetzt Madeleine  – und inspiriert damit Flamand, der ins Nebenzimmer eilt, um das Sonett zu vertonen.

Olivier sieht ihm skeptisch nach („Ich fürchte, er komponiert mich“). Er ist in Sorge, der Komponist könnte seine Verse durch Musik „zerstören“.

Die Gräfin ist aber zuversichtlich: „Vielleicht schenkt er ihnen höheres Leben …“ – und lädt Olivier dazu ein, den Augenblick des Alleinseins zu nützen: „Habt Ihr mir nichts in Prosa zu sagen?“

Natürlich gesteht der Dichter Madelaine nun sofort in Liebe zu ihr zu „glühen“ … Er wolle mit all seinem Fühlen und Dichten ihr Herz erobern.

Doch die Gräfin bekennt, dass ihr Herz nicht nur für die Worte des Dichters, sondern auch für die Sprache der Töne schlage.

Als Flamand bald danach das fertig komponierte Lied vorträgt und mit Olivier sofort ein Streit darüber entbrennt, ob dessen Wirkung nun auf den Text oder auf die Musik zurückzuführen sei, „entscheidet“ die Gräfin, dass beides und beide – Text und Musik, Olivier und Flamand – in „ihrem“ Sonett „unzertrennlich vereint“ sei(en).

Nachdem La Roche Olivier zu den Theaterproben gebeten hat und die Gräfin nun mit Flamand allein ist, erklärt ihr dieser seine Liebe – und drängt sie, sich zu entscheiden: Er oder Olivier, Musik oder Textdichtung …

Doch Madelaine vertröstet Flamand auf den nächsten Tag. Um elf Uhr solle er in die Bibliothek kommen. Dort, so hofft sie, werde sie ihm die Antwort geben können.

Bald danach versammelt sich die ganze Geburtstagsgesellschaft im Salon des Schlosses. Es wird getanzt (wobei zwischen Olivier und Clairon unerfreuliche Erinnerungen an ihre gescheiterte Beziehung neu aufleben), gesungen (La Roche präsentiert ein italienisches Gesangspaar), gespottet (über die Oper an sich) und natürlich darüber gestritten, ob der Text oder die Musik die führende Rolle spielt.

La Roche ist bei der Geburtstagsgesellschaft mit seinen Vorstellungen, ein klassisches Stück zur Aufführung zu bringen, bei dem das Bühnenbild, die Regie und geschichtsträchtige Handlungsstränge dominieren, gründlich gescheitert … wie langweilig! Er fordert nun Olivier und Flamand dazu auf, nicht nur Kritik zu üben, sondern gemeinsam wirklich ansprechende neue Werke zu schaffen – und zur Freude aller gelingt die Versöhnung der beiden. Sie folgen schließlich der originellen Idee des Grafen, anstatt über irgend welche Helden eine heitere Oper über die Ereignisse an eben diesem Tag in eben diesem Schloss zu schreiben: „Wir sind die Personen eurer Oper. Wir alle spielen mit in eurem Stück!“

Zwar äußert La Roche Bedenken zunächst gegenüber diesem Plan – er hat Sorge, dass damit allzu viel von dem Geschehen hinter den Kulissen einer Opernproduktion publik werden könnte, er fürchtet „Indiskretionen“ – aber andererseits: Haben nicht gerade indiskrete Theaterstücke Aussicht auf Erfolg?

Schließlich geht die Geburtstagsgesellschaft auseinander, während Monsieur Taupe, der Souffleur – er war während der Theaterproben eingeschlafen –, gegenüber dem Haushofmeister bemerkt, dass ja eigentlich er im Theater die wichtigste Rolle spiele. Selbst Taupe ist also vom eitlen Gedanken gestreift, der einzig Unverzichtbare zu sein, „der unsichtbare Herrscher in einer magischen Welt“, ohne den sich „das Weltenrad der Bühne“ gar nicht drehen würde.

Text oder Musik? Die Gräfin wird an ihr Versprechen erinnert, sich bis morgen um elf Uhr zu entscheiden. Aber – welch Verhängnis! Hat nicht gerade das neu komponierte Sonett gezeigt, wie unzertrennlich die beiden Elemente sind? Noch einmal singt sie die Zeilen …

„Ihre Liebe schlägt mir entgegen, zart gewoben aus Versen und Klängen. Soll ich dieses Gewebe zerreissen?“

Nein – Madelaine wird keine Entscheidung treffen. Aber wie soll die Oper enden, die Olivier und Flamand gemeinsam schaffen werden? Zu wessen Gusten soll die Frage, die im Zentrum des Werkes steht – Text oder Musik, Olivier oder Flamand – entschieden werden?

Wäre es nicht am besten, sich nicht zu entscheiden? Und somit ein Statement gegen das sonst unvermeidliche Ende der Oper zu setzen? Aber welchen Schluss sollte das neue Werk dann finden? „Gibt es einen, der nicht trivial ist?“, fragt Madelaine sich selbst, während sie ihr Spiegelbild betrachtet.

Der Haushofmeister unterbricht das sinnierende Geburtstagskind:

„Frau Gräfin, das Souper ist serviert!“