27. April 2024

Nahtoderfahrung – ein irreführender Begriff

Der Begriff Nahtoderfahrung ist heute allgemein bekannt – für tiefe spirituelle Erlebnisse, die Menschen nachhaltig verändern. Allerdings handelt es sich bei näherer Betrachtung um einen irreführenden Begriff.

Als der US-amerikanische Psychiater und Philosoph Raymond Moody in den 1970-er Jahren den Begriff „Nahtoderfahrung“ (NTE) prägte und durch seine Bücher (vor allem „Life After Life“, 1975) weltweit bekannt machte, war das für viele – vermutlich für Zigtausende – Menschen ein wahrer Segen. Endlich gab es ein Wort für das, was sie erlebt hatten! Endlich zeigte die Forschung, wie weit verbreitet und inhaltlich ähnlich solche Erfahrungen sind! Und endlich gab es die Aussicht, darüber offen sprechen zu können, ohne als psychisch auffällig zu gelten!

Moodys Interesse an Todesnähe-Erlebnissen war während seines Studiums entstanden. Er dokumentierte bereits vor etwa 50 Jahren im englischsprachigen Raum mehr als 150 Fälle und beschrieb anhand der Erlebnisberichte wichtige „Elemente“ oder „Stationen“ solcher Erfahrungen, die fortan in der Sterbeforschung (Thanatologie) immer wieder zitiert und durch weitere Studien bestätigt wurden. Einzelne Elemente – vor allem das Tunnelerlebnis, aber auch außerkörperliche Erfahrungen – werden heute allgemein mit dem Begriff Nahtoderfahrung assoziiert.

In der Suche nach möglichen Erklärungen für dieses weit verbreitete Phänomen nehmen Mediziner, Neurologen und andere naturwissenschaftlich orientierte Forscher den Begriff Nahtoderfahrung  meist wörtlich. Sie untersuchen, was im Körper in Todesnähe vor sich geht. Liegt eventuell eine Sauerstoff-Unterversorgung des Gehirns vor? Werden körpereigene Drogen ausgeschüttet? Sind ungewöhnliche Wellen im Gehirn nachweisbar? Weisen die Hirnströme Besonderheiten auf? Und so weiter.

In diesem Fokus auf körperliche Prozesse finden die qualitativen Aspekte des Erlebens meist kaum Beachtung – obwohl gerade sie für die Betroffenen oft entscheidend sind. Nahtoderfahrene berichten von einer Intensität des Erlebens, also einer Lebensnähe, die alles überstrahlt, was sie bis dahin kannten. Sie erfahren bedingungslose, unbeschreibliche Liebe, das Verbundensein mit allem, Geborgenheit, Empfindungen von Heimat und Gottesnähe, ein Bewusstsein jenseits von Raum und Zeit. Und alle hier genannten Begriffe sind für Nahtoderfahrene nur Krücken. Denn das Erlebte, darin sind sie sich einig, lässt sich nicht in Worte fassen.

Eine solche Erfahrung verändert die meisten Menschen für immer. Sie kehren aus diesem Erleben mit anderen Wertigkeiten zurück in den Alltag, mit der Überzeugung, dass ihr Sein einem tieferen Sinn und einer höheren Führung folgt. Sie haben die Angst vor dem Tod verloren. Empathie oder oder andere spirituelle Fähigkeiten treten in den Vordergrund und drängen zu beruflichen oder privaten Veränderungen …

Diese inneren Impulse, die zu einer so nachhaltigen Neuausrichtung des Lebens führen, sind jedoch offenbar nicht an Körperprozesse gebunden. 

Die Sterbeforschung hat gezeigt, dass Nahtoderfahrungen auch Menschen haben können, die sich gar nicht in Todesnähe befinden. Beispielsweise kann die Annahme des unmittelbar bevorstehenden Todes – etwa ein drohender Autounfall, der dann doch noch verhindert werden konnte – zu den gleichen Erlebnissen führen wie tatsächliche körperliche Todesnähe. Auch eine Beeinflussung durch Drogen kann manchmal vergleichbare Erfahrungen bewirken. 

Und nicht zuletzt werden auch spontane „Erleuchtungserfahrungen“ beschrieben, die ähnliche Qualitäten und Inhalte aufweisen wie „klassische“ Nahtoderfahrungen.

Die Versuche, das weit verbreitete Phänomen der NTE wissenschaftlich zu erklären, indem körperliche Veränderungen in Todesnähe untersucht werden, geht also eigentlich am Wesentlichen vorbei. Insofern ist „Nahtoderfahrung“ ein irreführender Begriff. Denn die Todesnähe ist für solche Erfahrungen, die das Leben eines Menschen nachhaltig verändern, nicht das entscheidende Kriterium.

Allerdings ist es kaum möglich, einen besseren Ausdruck zu finden. Der Psychologe und Sterbeforscher Joachim Nicolay könnte sich, um das Wesentliche auf den Punkt zu bringen, den alternativen Begriff „spirituelle Grenzerfahrung“ vorstellen. Aber natürlich wäre zu befürchten, dass diese Verallgemeinerung auf die wissenschaftliche Erforschung solcher Erlebnisse eher wie ein Filter wirkt und Berührungsängste verstärkt. Denn Spiritualität und Naturwissenschaft gelten heute ja als streng getrennte Welten.

Vielleicht ist es also ganz gut, wenn der Begriff „Nahtod“ einen Ankerpunkt für die wissenschaftliche Forschung bietet. Denn immerhin sind NTE seit Jahrzehnten ein Thema für die Forschung – und das ist für Nahtoderfahrene im Sinne der gesellschaftlichen Akzeptanz ihrer Erlebnisse von Vorteil.

Joachim Nicolay weist darauf hin, dass zwei Pioniere der Sterbeforschung im deutschsprachigen Raum, der Psychiater Prof. Eckart Wiesenhütter (1919–1995) und der evangelische Theologie Johann Christoph Hampe (1913–1990), ihren Fokus stärker als Moody auf charakteristische spirituelle Merkmale richteten: „In den Büchern von Hampe und Wiesenhütter sieht man, dass den beiden bewusst ist, dass ähnliche Erlebnisse auch in Situationen auftreten, die nicht in Todesnähe stattfinden.“

Die Schriften dieser Pioniere der Sterbeforschung, die noch vor denen von Moody veröffentlicht wurden, sind heute kaum noch bekannt. Aber sie können dazu beitragen, den Kern dessen, was hinter dem irreführenden Begriff „Nahtoderfahrung“ steckt, besser zu verstehen. Es handelt sich um tiefe spirituelle Erlebnisse, die den Betroffenen unzweifelhaft eine allumfassende Dimension des Lebens und der Liebe offenbart, die hinter, über und in allem wirkt, und für die es keinen Begriff gibt, den ein körperliches Gehirn zu erfassen vermag.