19. April 2024

Körperorgane zwischen Weihnachts-Kitsch und Weichspül-Musik

Paul Feigs Weihnachts-Romanze „Last Christmas“ 

Zunächst, in den ersten gut 45 Minuten, mag der Zuschauer mit dem Eindruck kämpfen, sich in eine bestenfalls durchschnittliche, vorhersehbare Weihnachts-Romanze verirrt zu haben, die ihm selbst ein hohes Maß an Schmunzel- und Unterhaltungsbereitschaft abverlangt, um den Film nicht als Schlafmittel zu missbrauchen. Und das trotz großartiger Besetzung vor und hinter der Kamera.

Kate (Emilia Clarke) arbeitet in einem Londoner Weihnachtsfachgeschäft, das seine Kunden 12 Monate im Jahr mit kitschig-bunten Christmas-Utensilien beglückt. Ihre Dienstkleidung verwandelt sie in eine pummelige Weihnachtselfe – typisches Santa-Claus-Outfit, nur in grün und mit trocken bimmelnden Glöckchen an den Schuhen.

Ihre Chefin, eine unendlich weihnachtsverliebte Asiatin (Michelle Yeoh), die sich selbst – wie stimmungsvoll! – „Santa“ nennt, und ihre Mutter Petra (Emma Thompson), die nicht damit aufhören kann, ihre erwachsene Tochter in den Schlaf zu singen, bilden den wichtigsten Beziehungsrahmen in Kates Leben. Einem Leben, in dem seit geraumer Zeit alles ziemlich schief läuft. Ihre permanenten Tollpatschigkeiten belasten ihre Freundschaften, und auch mit ihrem Herzenswunsch, Sängerin zu werden, kommt Kate nicht weiter, weil sie beim Vorsingen immer irgendwie Pech hat.

Zunächst eher nebenbei erfährt der geneigte Zuschauer, dass die herzige Kate auch mit ihrer Gesundheit kämpft. Offenbar ist oder war da etwas mit ihrem Herzen. Aber Kate scheint bemüht, dem Thema nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken. 

Irgendwann tritt dann Tom (Henry Golding) in ihr Leben, ein gut aussehender, sympathischer junger Mann mit ausgeprägten Idealen, dessen Gegenwart Kate zunehmend motiviert, die aus Ruder gelaufenen Angelegenheiten ihres Lebens zu klären.

Aber auch die Beziehung zu Tom hat etwas Seltsames, Unbefriedigendes, Ungreifbares. Nach Momenten großer emotionaler Nähe scheint er tagelang wie vom Erdboden verschluckt, und Kate wird hin- und her gerissen zwischen romantischen Glücksgefühlen und einer tief greifenden Verunsicherung. 

Langsam kippt die bis dahin eher oberflächlich dahin lavierende Weihnachts-Romanze des US-amerikanischen Regisseurs und Schauspielers Peter Feig, für die Emma Thompson auch als Drehbuch-Autorin tätig war, in Richtung Drama.

Kate erträgt den unangenehmen Schwebezustand ihrer Vielleicht-Beziehung zu Tom schließlich nicht mehr und versucht zu ergründen, was es mit Tom und ihr selbst wirklich auf sich hat. Das Aha-Erlebnis folgt, als sie von einem Immobilienmakler erfährt, dass der junge Mann, den sie sucht, bereits im vergangenen Jahr verstorben ist. Tom ist also tot. Er hatte sie nur seelisch, gedanklich und in ihren Empfindungen, aber nie wirklich physisch begleitet. 

Und Kate wird auch klar, wie sein Unfalltod mit ihrem eigenen Schicksal zusammenhängt: Sie hatte im Rahmen einer Organtransplantation Toms Herz empfangen.

An dieser Stelle darf sich der Zuschauer entscheiden, Peter Feigs Film entweder als rührselige Weihnachts-Nächstenliebe-Dramedy abzuhaken, oder in ihm den Versuch zu erkennen, aus einer kunterbunten dramaturgischen Fassade zwei Bewusstseinsphänomene hervorlugen zu lassen, die üblicherweise eher nicht thematisiert oder wegdiskutiert werden, weil das naturalistische Weltbild keine Erklärung dafür bieten kann: Zum das Phänomen der „Gedächtnistransplantation“ – es wurden Fälle dokumentiert, in denen Organempfänger eine Verbundenheit zu Eigenarten oder Verhaltensweisen des Organspenders erkennen lassen –; und zum anderen einen sogenannten Nachtodkontakt. Dieser Begriff beschreibt den den unerwarteten, spontanen Eindruck, einen Verstorbenen wahrzunehmen. Die Wahrnehmung muss nicht – wie in Kates Fall – visuell erfolgen, aber sie hat im Regelfall nachhaltige, lebens- und weltbildverändernde Auswirkungen. Nachtodkontakte kommen, wie Studien gezeigt haben, sehr häufig und weitgehend unabhängig von der religiösen Orientierung der Betroffenen vor.

Wie gesagt: Für die meisten nüchternen Wissenschaften sind solche Bewusstseinsphänomene kein Thema. Komische Konstruktionen des Gehirns halt.

Aber zu Weihnachten darf statt des Verstandes ja ruhig einmal das Herz sprechen. Zwischen buntem Kitsch und Weichspül-Musik („I gave you my heart“ – der Refrain in George Michaels „Last Christmas“ – bezieht sich also auf eine Oranspende!) sind ungewöhnliche Phänomene schwer angreifbar – und leicht verdaulich.

(2019, 103 Minuten)