Sarah Polleys Religions-Drama „Women Talking“
• Ona (Rooney Mara), Salome (Claire Foy), Mariche (Jessie Buckle), Scarface Jance (Frances McDormand) und weitere Frauen gehören einer mennonitischen Gemeinschaft in Bolivien an. Die auf den niederländischen Theologen Menno Simons (1496–1561) zurückgehende evangelische Freikirche ist streng patriarchal organisiert. Die Männer wissen, was gut, richtig und im Sinne des Schöpfers ist. Die Frauen ordnen sich unter, weil sie überzeugt sind, so dem Willen ihres geliebten Gottes entsprechend zu leben. Schulbildung wird ihnen keine zuteil, sie können nicht einmal lesen und schreiben.
Aber sie haben begriffen, dass sie von den Männern ihrer Gemeinschaft missbraucht worden sind, regelmäßig und rücksichtslos. Mit einem Betäubungsmittel, das eigentlich für das Vieh bestimmt ist, hat man ihnen das Bewusstsein geraubt, um sie brutal zu vergewaltigen, immer und immer wieder.
Man hatte ihnen über lange Zeit Märchen erzählt, von bösen Geistern, die sie während der Nacht heimsuchen, weil sie nicht gottgefällig gelebt hätten. Sogar Kinder der Gemeinschaft sollen Opfer dieser „Geister“ geworden sein. Oder man hatte ihre Klagen als wilde Fantasien verurteilt.
Doch die Frauen haben diese Geschichten als Lügen durchschaut.
Nun sind fast alle Männer ihrer Glaubensgemeinschaft auf Reisen, und acht Frauen haben sich, stellvertretend für alle anderen, in einer Scheune zusammengefunden, um zu besprechen und darüber abzustimmen, wie es weitergehen soll.
Diese „Aussprache“ – so der deutsche Titel des Films „Women Talking“ – trägt das Drama der kanadischen Regisseurin und Drehbuchautorin Sarah Polley.
In den Diskussionen um die Frage, ob die Frauen die Gemeinschaft verlassen oder doch lieber bleiben und gegen das Unrecht ankämpfen sollten, zeigen die Defizite ihrer streng religiösen Lebensführung. Würden Sie draußen in der Welt zurecht kommen, wenn sie ja nicht einmal eine Landkarte lesen können? Wären sie in der Lage, ihre Kinder zu schützen? Würden sie ohne ihre Männer überhaupt leben können?
Vor allem aber werden in der Aussprache die unsichtbaren Fesseln deutlich, die den Frauen durch ihren Glauben angelegt sind: Wäre es nicht gegen den Willen Gottes, wenn sie die Gemeinschaft verlassen? Würden sie sich durch eine „Flucht“ nicht selbst versündigen und ihre Aufnahme in den Himmel gefährden?
Ohne dass das Thema „Religionsgefängnis“ jemals direkt angesprochen wird, lassen die hervorragend geschriebenen Dialoge – basierend auf einem Roman-Bestseller der kanadischen Schriftstellerin und Journalistin Miriam Toews – erkennen, wie Glaubensdogmen wirken. Wie eng begrenzt und angstbesetzt das Denken eines Menschen werden kann, dem von Kindheit an konfessionelle „Wahrheiten“ übergestülpt worden sind. Dass es schwer, vielleicht sogar unmöglich ist, eine so üble Indoktrination zu überwinden, selbst wenn schlimmste Lebenserfahrungen schon vehement nach einer Neuorientierung drängen.
Die Frauen suchen nach einer Lösung, die es ihnen gestattet, sich die Werte ihres Glaubens zu bewahren. Sie suchen nach einem Weg, der ihnen nicht den inneren Halt raubt, den sie ja alle brauchen.
Sarah Polleys Drehbuch gewann einen Oscar. Insgesamt wurde ihr Film für 150 Auszeichnungen nominiert. 30 hat „Women Talking“ erhalten.
Und obwohl die mit viel Empathie, aber auch mit Wut und Galgenhumor geführte „Aussprache“ einen Selbstfindungsprozess unter Frauen zeigt, ist in der Scheune, in der fast die ganze Handlung spielt, auch ein Mann mit dabei. August (Ben Whishaw), ein Lehrer der Glaubensgemeinschaft, hilft Ona, Salome & Co als Schriftführer. Er notiert beispielsweise alle Für und Wider der Optionen „Fliehen“ und „Kämpfen“ – aber ohne jede Absicht, den Frauen vorzugeben, was das Richtige für sie wäre.
Sie müssen diese Entscheidung nun wirklich eigenständig für sich treffen. Sie müssen als Frauen zusammenhalten – und dabei den Werten Raum gehen, die ihnen wichtig sind: Dem Glauben, der Trauer, der Offenheit, der Heiterkeit …
„Women Talking“ ist – trotz oder wegen des grandiosen Schauspielerinnenensembles – keine leichte Kost. Auch, weil Sarah Polleys Religionsdrama von wahren Ereignissen inspiriert ist, die sich aber nicht etwa vor langer Zeit zugetragen haben, sondern 2010, im 21. Jahrhundert.
(2022, 104 Minuten)