12. Dezember 2024

Die empörte Echo-Gesellschaft – oder: „Woke“ in sich selbst

Seit einiger Zeit hat sich der aus den USA stammende Begriff „woke“ („aufgewacht“) auch in unser Gesellschaft etabliert – und löst gegensätzliche Befindlichkeiten aus.
Für die einen fasst er bewusstes soziales Engagement zusammen, den aktiven, „wachen“ Kampf gegen jede Form von Diskriminierung, vor allem rassistischer oder sexistischer Art. Die anderen sehen in der „Wokeness“ im Grunde eine von intellektuellen Eliten geförderte Fehlentwicklung, die mit Debatten über den Sprachgebrauch, über geschlechtliche Diversität und Inklusion von den wirklichen Lebensproblemen ablenkt.

Die Auseinandersetzungen haben längst auch die politische Ebene erreicht und zeigen sich in vielfältigsten Schattierungen. Im Wesentlichen aber wird „das Woke“ von der linken und der Kampf gegen „Wokeness“ von der rechten Seite repräsentiert beziehungsweise geführt. 

Auch unabhängig von politischen Überzeugungen haben sich zu dieser Thematik Meinungs-Lager gebildet, die in Medien und sozialen Netzwerken mit großem Engagement gegeneinander antreten.

Aber besteht wirklich ein zwingender Grund, sich einem der beiden Lager anzuschließen?

Mit etwas Abstand betrachtet …

Zweifellos gab und gibt es gute Gründe für soziales Engagement. Nicht von ungefähr fand der bereits Mitte des 20. Jahrhunderts im afroamerikanischen Englisch gebräuchliche Begriff „woke“ durch die „Black-Lives-Matter“-Bewegung in den 2010er Jahren weite Verbreitung.

Der entschlossene Kampf gegen den Rassismus ist ebenso wichtig wie etwa gegen jede Form von geschlechtlicher Diskriminierung, und die Hoffnung, menschenverachtende Verirrungen im 21. Jahrhundert endlich weltweit überwinden zu können, hat jede Berechtigung.

Auch die – vor allem im deutschsprachigen Raum geführten – Diskussionen um eine „gendergerechte Sprache“, also um Formulierungen, die traditionell maskuline Ausdrucksweisen überwinden sollen, erscheinen naheliegend. Denn die Gesellschaft verändert sich, und Sprache ist immer ein Spiegel solcher Veränderungen.

Auf der anderen Seite ist das Argument, dass es gesellschaftlich wichtigere Anliegen gibt als Gendersternchen oder Terf-Themen, nicht von der Hand zu weisen. 

Falls Sie Nachhilfe brauchen: „Terf“ (Trans-Exclusionary Radical Feminism) steht für einen Feminismus, der transgeschlechtliche Personen ausschließt. Eine solche Feministin akzeptiert also nur Frauen, die auch biologisch Frauen sind. Die britische Schriftstellerin J. K. Rowling, die durch ihre Harry-Potter-Romane weltbekannt wurde, hat durch ihre Äußerungen die Diskussionen rund um diesen Begriff befeuert – und sich selbst damit heftiger Kritik ausgesetzt.

„Terf“ ist aber auch ein gutes Beispiel für immer neue Kreise und Lager, die um bestimmte Anliegen kämpfen und von Andersdenkenden abgelehnt oder stigmatisiert werden.

Dieses erbitterte Gegeneinander, das zur Radikalität tendiert, müsste nicht sein. Allein der Fokus auf die – meist gut nachvollziehbaren – Grundanliegen anstatt auf aufgeladene Reiz-Begriffe und die Personen, die sie vertreten, könnte für Entspannung sorgen.

Empörungsgesellschaft und Echo-Kammern

Leider aber stehen einer möglichen Versöhnung zwei mächtige, sich gegenseitig befeuernde Reflexe gegenüber, die unser Miteinander (oder Gegeneinander) dominieren: die Befriedigung durch Empörung und durch Gleichgesinnte.

Dass viele Menschen sich einfach gern über irgend etwas aufregen und ihrer Wut freien Lauf lassen, ist kein großes Geheimnis. Boulevard-Medien befeuern diese zweifelhafte Lust tagtäglich mit neuen Schlagzeilen ebenso wie politische Demagogen es tun. Gleichzeitig wird den glücklich Empörten das Gefühl geschenkt, mit all ihrem Groll nicht allein zu sein.

Darüber hinaus bieten soziale Netzwerke ideale Echo-Kammern: Was immer jemand glaubt, worüber auch immer er sich empört – die Suchmaschinen des Internets lenken seine Gedanken sofort zu Gleichgesinnten, die einander bestärken und bestärken und bestärken.

Im Nu entstehen so neue Interessen- und Empörungsgemeinschaften, ein „Shitstorm“ jagt den nächsten, die Grenzen zwischen berechtigten Anliegen und künstlich generierten – Stichwort: rassistischer Winnetou – sind schwer auszumachen.

Was steckt hinter dieser Entwicklung? 

Die Unfähigkeit, mit sich selbst zurecht zu kommen, vielleicht sogar an sich selbst zu arbeiten? 

Ein innerer Stillstand, der einen äußeren „Feind“ benötigt, gegen den er sich empören kann, damit ein Rest von Lebendigkeit spürbar bleibt?

Eine Entwicklungs-Unfähigkeit, die durch ungerechte gesellschaftliche Rahmenbedingungen, vielleicht auch durch ein nihilistisch-materialistisches Weltbild bestärkt wird?

In sich selbst „aufwachen“

Ich denke, „woke“ zu sein könnte tatsächlich einen Weg aus der Krise weisen. Allerdings müsste es sich um ein Aufwachen in sich selbst handeln: Im Vertrauen auf die eigenen, unabhängigen Gedanken und Fähigkeiten. 

Die Zeit wäre reif dafür.

Der österreichische Nobelpreisträger Anton Zeilinger betonte bei seiner jüngsten Eröffnungsrede zu den Salzburger Festspielen (Juli 2023) unter anderem den Wert der Aufklärung, die eigentlich ja bereits seit mehr als 300 Jahren unsere Gesellschaft prägt … oder prägen sollte. Deren Maxime bestehe darin, „jederzeit selbst zu denken“. 

Aufklärung bedeutet auch, sich mutig des eigenen Verstandes zu bedienen anstatt sich gedankenlos irgend einer (traditionellen) Denkhaltung anzuschließen. Sich nicht über das (vermeintlich) Unmoralische zu empören, sondern einfach selbst moralisch zu leben.

In dieser Art „woke“ zu sein würde zweifellos weit über eine gesellschaftliche Strömung hinaus gehen. 

 

PS in eigener Sache:

Eine Anmerkung zu meinem persönlichen Umgang mit dem „Gendern“ in der Sprache – als Antwort auf diverse Kommentare zu meinen Beiträgen:

Einerseits ist es sicher richtig, dass die deutsche Sprache traditionell durch maskuline Formulierungen geprägt ist und sich auch in diesem Bereich etwas ändern muss, weil sich auch die Gesellschaft ändert und die Sprache immer ein Spiegel solcher Veränderungen ist. 

Andererseits lassen sich diese Änderungen nicht einfach durch die Hinzufügung weiblicher Formen herbei führen, denn in der Sprache gibt es auch ein grammatikalisches Geschlecht, das traditionell unabhängig vom sexuellen Geschlecht (also für beide Geschlechter) verwendet wurde. Dazu gehört zum Beispiel „der Mensch“, ebenso etwa: die Gesellschaft, der Bäcker, die Waise, das Kind usw.

Eine Grundfrage wäre also, in welchen Fällen ein „generisches Maskulinum“ („Ich gehe zum Bäcker; jeder Helfer ist willkommen etc.“) überhaupt ersetzt oder ergänzt werden kann und soll, ohne zu tief in die gewachsene Sprachstruktur einzugreifen.

Sich auf Worte zurückziehen zu wollen, die kein klares grammatikalisches Geschlecht haben (beispielsweise „Zuschauende“ statt „Zuschauerinnen und Zuschauer“), würde meines Erachtens die Sprache verflachen.

Mein persönlicher Weg ist daher – bis sich allgemein gültige Regeln durchgesetzt haben – ein Kompromiss: Bei allem Verständnis für die Notwendigkeit von sprachlichen Veränderungen vermeide ich das Gendern so weit wie möglich, weil mir die damit verbundenen Lösungen zu holprig und „gemacht“ erscheinen. Aber wenn es sich in einer Formulierung zwanglos anbietet, explizit dem weiblichen und dem männlichen Geschlecht die Ehre zu geben, dann tue ich das – hoffentlich zur Freude aller – mit einem Pünktchen in der Zeilenmitte