13. Oktober 2024

Ein Mai-Gedanke

Alles neu macht der Mai,
macht die Seele frisch und frei …
(Adam von Kamp; 1796–1867) 

Tag und Nacht, Wachsein und Schlaf, Arbeitstag und Wochenende … Ob wir es wollen oder nicht, ob es uns bewusst ist oder nicht – wie alles in der Natur wird auch unser menschliches Leben von Rhythmen bestimmt. 

Sich nach einer Ruhe- und Erholungsphase wieder begeistert in die Aktivitäten stürzen; ein Problem in größerer Besonnenheit neu bewerten, nachdem man es gründlich überschlafen hat; die Arbeit nach der erholsamen Wochenendpause wieder „mit vollem Elan“ angehen … 

Wie selbstverständlich wird unser soziales, kulturelles und auch seelisches Leben von Momenten der Krafterneuerung bestimmt, die aus natürlichen Rhythmen resultieren. Wie ein Pulsschlag begleiten diese aufbauenden Momente unser Leben und ermöglichen Stärkung und Entwicklung.

Auch die Natur widerspiegelt im Jahreslauf den Pulsschlag des Lebens. Wenn im Frühling die Wälder und Felder neu ergrünen, wenn im Mai wieder Margeriten, Löwenzahn, Kornblumen oder Nelken erblühen oder die üppige Blütenpracht von Flieder, Mohn oder Pfingstrosen die Gärten in ein Meer aus Farben verwandelt, dann wird die belebende Kraft der Erneuerung sichtbar, riechbar, fühlbar und im Gesumm der Insekten auch hörbar.

Gerade der „Wonnemonat“, wie der Mai – ursprünglich angeblich von Karl dem Großen – benannt wurde, bietet ununterbrochen Anregungen, sich den Wert natürlicher Rhythmen und der damit verbundenen Krafterneuerung bewusst zu machen, den fördernden Pulsschlag des Lebens zu genießen. 

Und wenn dieser Genuss – im Sinne von bewusster Dankbarkeit anstelle eines selbstverständlichen Hinnehmens – einen spirituellen Anstrich bekommt, ist das aus meiner Sicht durchaus angemessen. 

Zudem findet – ursprünglich wohl nicht ohne tieferen Grund – auch das Pfingstfest im Mai statt. Die Überlieferung spricht von der „Sendung des Heiligen Geistes“, die traditionell 50 Tage nach Ostern gefeiert wird. 

Auf viele Christen wirkt der Begriff des Geistes, der mit die „Dreifaltigkeit Gottes“ bildet, abstrakt, weitgehend theoretisch und schwer fassbar. Und in der Gesellschaft steht das Pfingstfest in einer Reihe mit anderen kirchlichen Feiertagen, die zu ziemlich hohlen Traditionen verkümmert sind.

Spricht etwas dagegen, die alljährlich gefeierte „Sendung des Geistes“ mit dem Pulsschlag des Lebens in Verbindung zu bringen, mit den Rhythmen der Natur, die unser aller Leben bestimmen?

Jedenfalls würde dieser Mai-Gedanke eine Brücke schlagen zwischen christlich oder religiös orientierten Menschen und jenen, die sich einfach den Wundern der Natur öffnen und/oder sich Aspekte des eigenen Seelenlebens bewusster machen möchten.