Die traditionellen Vorstellungen über Gott und göttliches Wirken sind tief verankert – und lassen sich nur schwer ändern
• Wenn Naturwissenschaftler heute ausnahmsweise einmal zum Begriff „Gott“ etwas sagen, dann sind sie üblicherweise sehr vorsichtig in ihrer Wortwahl und bringen letztlich zum Ausdruck, dass dieser Begriff in der Forschung letztlich keine Rolle spielt. Es gebe keine mathematische Formel, in der an irgend einer Stelle auf ein Wunder gehofft wird, und die Natur jedes Experiments liege darin, den bloßen Glauben an etwas zu überwinden, die Welt also derart gezielt zu „befragen“, dass am Ende des Tages das Wissen über sie größer geworden ist.
In der Naturwissenschaft seien Gott und Religion demnach schlicht und einfach keine Faktoren. Ob ein Forscher an etwas Höheres glaubt oder nicht, das sei eine persönliche Angelegenheit, die nichts mit seiner wissenschaftlichen Arbeit zu tun habe.
So vernünftig solche zeitgemäßen Positionen erscheinen, sie bringen durchweg zum Ausdruck, dass das Wissen und der Glaube in zwei unterschiedlichen, unvereinbaren Gedankenwelten beheimatet sind. Wissen basiert auf Fakten, der Glaube auf Annahmen. Die Naturgesetze stehen für das Unveränderliche, das Wirken Gottes wird dagegen vornehmlich mit Wundertaten assoziiert, die – jenseits aller Gesetzmäßigkeiten – das menschliche Schicksal mit gestalten können.
Wirklich befriedigend ist diese Trennung von Wissen und Glauben aber nicht.
Sie müsste meines Erachtens auch nicht zwangsläufig sein, sondern ist im Grunde nur eine Folge bestimmter Welt- und Gottesvorstellungen.
Die faktenorientierten, reduktionistisch arbeitenden Naturwissenschaften fanden bis heute keinen Weg, die bewusste menschliche Innenwelt befriedigend zu beschreiben, also jene Quelle, aus der Sehnsucht, Inspiration oder Wissensdurst überhaupt stammen. Das Wesen des Lebens erwies sich als ein Rätsel, das durch die Erfassung seiner Einzelbestandteile nicht gelöst werden konnte. Religiöse Bedürfnisse bleiben in den Naturwissenschaften außen vor.
Die traditionellen Vorstellungen über Gott gehen indes durchweg von einem wunderkräftigen Übermenschen aus, der willkürlich ins Weltgeschehen eingreifen kann, so er mit ausreichender Inbrunst darum gebeten wird. Ein solcher Glaube verzichtet auf Fakten und nüchterne Erklärungen. Hier bleibt Bedürfnis, die Welt gesetzmäßig zu beschreiben, außen vor.
Aber was würde geschehen, wenn es gelänge, die so tief in allen Hinterköpfen etablierten Welt- und Gottesvorstellungen gründlich zu hinterfragen? Eine neue Basis für die Zusammenführung von Glauben und Wissen zu finden?
Als Grundlage könnten beispielsweise die Begriffe „Naturgesetz“ und „Gotteswille“ gleichgesetzt werden. Wenn Gott die Welt, in der wir leben, geschaffen hat (die Tatsache, dass überhaupt etwas besteht, ist ja immer noch der unmittelbarste „Gottesbeweis“), dann müssten die Gesetze, denen das Weltgeschehen folgt, ja Ausdruck seines Willens sein. Das Wirken Gottes zeigte sich demnach nicht im Überwinden der Naturgesetze, sondern in diesen selbst.
Dieser Gedanke, den Willen und das Wirken des Schöpfers in den Naturgesetzen zu suchen – und nicht außerhalb –, ist nicht neu. Er stand für zahlreiche große Forscher und Denker im Zentrum, die sich ab dem 17. Jahrhundert von traditionellen Glaubenslehren emanzipierten, also nach gesichertem, nachprüfbarem Wissen strebten, aber dennoch tief gläubige Menschen waren.
Galileo Galilei (1564–1642) beispielsweise war der Überzeugung, Gott habe das „Buch der Natur“ auf der Grundlage mathematischer Gesetzmäßigkeiten verfasst.
Johannes Kepler (1571–1630) sah in der „Weltharmonik“, die er durch seine astronomischen Beobachtungen erkannte, und in den Gesetzen der Planetenbewegungen klare Hinweise auf Gott.
Isaak Newton (1642–1727), ebenfalls ein tief gläubiger Mensch, legte mit seiner Mechanik die Grundlage dafür, die Welt als „Uhrwerk“ oder „Räderwerk“ zu betrachten. Er nahm an, dass Gott die in den mechanischen Gesetzen erkennbare Ordnung der Welt aus dem Urchaos erschaffen habe.
Michael Faraday (1791–1867) formulierte: „Es hat Gott gefallen, seine materielle Schöpfung mit Hilfe von Gesetzen zustande zu bringen. Der Schöpfer beherrscht seine materiellen Hervorbringungen durch definitive Gesetze.“
Das Wirken Gottes zeigt sich in den Naturgesetzen: Für religiöse Menschen hat dieser einfache Gedanke freilich weit reichende Folgen. Er drängt dazu, traditionelle Glaubensroutinen in frage zu stellen. Denn wenn von Gott keine Naturwunder zu erwarten sind, worin liegt dann der Sinn des Gebets? Wenn es in himmlischen Höhen keinen alten Mann mit Rauschebart und Priesterkleid gibt, der argusäugig jede seelische und physische Regung verfolgt und beurteilt, welchem inneren Gegenüber soll sich der Mensch dann in seinem Glauben öffnen? Einer unpersönlichen, neutralen Kraft? Die aber wohl auch nicht nur eine Art „Energie“ sein kann, sondern – ähnlich dem menschlichen Wesenskern – durch „Qualia“ definiert ist. Für die „Qualitäten des Wesenlosen“ mag es zwar keine treffenden Worte geben, weil sie sich jedem persönlichen Erfahrungshorizont entziehen, aber wahrscheinlich gehören traditionelle Begriffe wie Licht, Liebe, Bewusstheit oder Reinheit untrennbar zu den „Qualia Gottes“. Oder?
Kurz und gut: Jede tief greifende Änderung des traditionellen Gottesbildes würde eine gründliche Neuorientierung im Glauben nach sich ziehen. –
Vielleicht stünde Ähnliches auch für das naturwissenschaftliche Denken an.
Wenn der Reduktionismus nicht der Weisheit letzter Schluss ist – wo liegt dann der Weg zu einer neuen, ganzheitlichen Weltsicht? In der interdisziplinären Zusammenarbeit? In der gezielten Förderung von Erkenntnissen, die nicht Detailfragen sondern das „große Bild“ betreffen?
Aber wie groß ist dieses Bild, das die Welt vollständig beschreibt, wirklich? Sollte das Bewusstsein, müssten die „Qualia“ darin nicht die zentrale Rolle spielen?
Andererseits scheint die Innenwelt keinen faktischen Wert zu haben, sie ist nicht beweiskräftig, kann fast beliebig manipuliert werden. Eindrücke, Erinnerungen, Absichten – nichts vom menschlichen Bewusstsein ist in Stein gemeißelt. Die fortwährende, unberechenbare Änderung scheint zum Leben zu gehören. Aber warum ist das so? Gibt es am Ende doch grundlegende, übergeordnete „geistige“ Prinzipien, die noch nicht erkannt wurden? –
Am Rande eines Interviews mit dem Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer, das sich um das Thema „Religion und Naturwissenschaft“ drehte, stellte ich einmal zaghaft die Vermutung in den Raum, dass das Verhältnis zwischen diesen beiden Welten durch ein neues Gottesbild doch sicher verbessert werden könnte.
„Ein Gottesbild verändern?“, kommentierte Fischer sinngemäß, „das wird schwer möglich sein!“
Wahrscheinlich ist ein solcher Gedanke tatsächlich weltfremd. Denn die Geschichte zeigt, wie beschrieben, dass schon viele bedeutende Forscher und Denker zu einem neuen Verständnis des Wirkens Gottes angeregt haben. Ihre Gedanken erreichten nie die breite Allgemeinheit und erscheinen heute als nicht mehr zeitgemäß.
Die alten Vorstellungen über Gott und göttliches Wirken sind tief verankert. Sie wurzeln in den Traditionen unserer Kultur und gestalten die persönliche Wohlfühlzone der Gläubigen – während sie andere in den Atheismus treiben.
Unwahrscheinlich ist auch, dass die Naturwissenschaften in nächster Zeit einen Paradigmenwechsel durchmachen; sowohl was den Erkenntnisfortschritt, als auch was technische oder medizinische Entwicklungen anlangt, sind sie dafür einfach zu erfolgreich.
Also werden Glaube und Wissen wohl bis auf weiteres zwei getrennte „Erlebnis-Galaxien“ bilden. Aber natürlich steht es jedem frei, sich seine persönlichen „Wurmlöcher“ zu bauen und die beiden Welten – dem Zeitgeist des 21. Jahrhunderts zum Trotz – sinnvoll miteinander zu verbinden.
Max Planck (1858–1947) könnte dabei als Wegweiser dienen. In einer Rede zum Thema „Religion und Naturwissenschaft“ formulierte er (als einer, der den Glauben an Wunder ebenfalls ablehnte): „Es ist der fortgesetzte, nie erlahmende Kampf gegen Skeptizismus und gegen Dogmatismus, gegen Unglaube und gegen Aberglaube, den Religion und Naturwissenschaft gemeinsam führen, und das richtungsweisende Losungswort in diesem Kampf lautet von jeher: Hin zu Gott.“
Literaturhinweis: Ernst Peter Fischer: „Noch wichtiger als das Wissen ist die Phantasie – Die 50 besten Erkenntnisse der Wissenschaft von Galilei bis Einstein“, Penguin, München 2016