20. April 2024

Der erste Augenblick

Unser Wissen über die Dimensionen des Alls und über Entstehung der Welt hat sich in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch erweitert. Die Vorstellungen, die man darüber im Altertum oder Mittelalter, ja selbst noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte, wirken heute wie Bilder aus dem Kindergarten. Denn was sich den Blicken durch moderne Teleskope offenbart, sprengt jegliches Vorstellungsvermögen – und stellt religiöse Konzepte, die von einer besonderen Bedeutung des Planeten Erde ausgehen, mehr denn je in Frage. Selbst zum „ersten Augenblick“ in der Geschichte des Universums gibt es bereits naturwissenschaftliche Konzepte. Hat der Glaube von einem „Schöpfungsakt Gottes“ endgültig ausgedient – oder gibt es eine Brücke vom Wissen zum Glauben?

Immer wieder regte der Blick in die Weiten des Alls dazu an, das Bild vom Universum und von unserer Stellung darin neu zu überdenken. Auch heute noch. Wenn die Sonne am Horizont und der Himmel im Dunkel der Nacht versinkt, wenn ferne Gestirne am Firmament funkeln und das Blickfeld sich ins Unermessliche geweitet hat, dann berührt und fordert das große Geheimnis der Schöpfung unser beschränktes Bewusstsein. Seit jeher hat der nächtliche Blick in das Unfassbare, Ewig-Unerreichbare den Menschen, vielleicht mehr als jeder andere Eindruck, dazu angeregt, sein Bild von der Welt und von sich selbst neu und immer wieder neu zu zeichnen.

Wie groß ist die „Welt“?

Bis tief in das Mittelalter hinein betrachtete man die Erde als den Mittelpunkt jeglichen Weltgeschehens. Die Schwerkraft schien untrüglich zu beweisen, dass alles diesem natürlichen Zentrum zustrebt; die Sonne schien ihre Bahn um die Erde zu ziehen, desgleichen die Planeten. Die Sterne erschienen festgeheftet an der Himmelsglocke, und es gab keinen Zweifel, dass alles so entstanden war, wie es die Bibel überliefert – durch einen mehrtägigen Schöpfungsakt Gottes, der vor langer Zeit die Erde, die Sonne, den Mond und alle anderen „Lichter“ an der „Himmelsfeste“ fertig geschaffen hatte.

Doch eben diese Lichter stellten das vermeintlich so schlüssige Weltbild bald in Frage.

Im Jahr 1610 entdeckt der italienische Astronom Galileo Galilei (1564–1642) mit seinem Fernrohr vier große Monde, die um den Planeten Jupiter kreisen. Spätestens damit ist klar, dass doch nicht die Erde das Zentrum aller Bewegungen im All sein kann.

In der Folge setzte sich das heliozentrische Weltbild durch, die schon im antiken Griechenland diskutierte Vorstellung, dass die Sonne der Mittelpunkt der Welt sein könnte.

Aber war sie das wirklich? Bot der nächtliche Himmel nicht noch zahlreiche weitere Phänomene, die einer Erklärung bedurften? Worum beispielsweise handelte es sich bei dem geheimnisvollen, milchig erscheinenden Lichtband am Nachthimmel, das man mit bloßem Auge erkennen kann?

Den in Hannover geborenen und in England lebenden Astronomen Wilhelm Herschel (1738–1822) lässt diese Frage nicht los. Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert baut er als Autodidakt die weltweit leistungsfähigsten Teleskope und findet bestätigt, was vor ihm schon Galilei vermutet hatte: dass die sogenannte Milchstraße ein riesiges System von Sternen ist. Herschel untersucht insgesamt etwa 2.500 „Nebel“ am Nachthimmel, also nicht-punktförmige Lichtflecken, von denen bis dahin unklar war, ob es sich um leuchtende Wolken, Flüssigkeiten oder um Ansammlungen von Sternen handelte. Durch sein überlegenes Teleskop erkennt er, dass zahlreiche der zu beobachtenden Nebel tatsächlich aus Zigtausenden einzelnen Sonnen bestehen. Andere verschwommene Lichtflecken, die von den Astronomen ebenfalls im Bereich der Milchstraße beobachtet werden, bleiben vorerst mysteriös, sie lassen sich nicht als einzelne Sterne erkennen. Aber der Begriff „Welt“ wird bereits im 19. Jahrhundert wissenschaftlich neu definiert: Es geht längst nicht mehr um die Frage, ob die Erde oder die Sonne im Zentrum aller Bewegung steht. Denn offenbar ist alles in Bewegung, ist unsere Sonne nur eine von unzählig vielen und die Welt – die „Galaxie“ – die unfassbare Gesamtheit dieser Sterne.

Die alten religiösen Konzepte von der Erdenwelt als dem Zentrum göttlicher Fürsorge oder eines himmlischen Heilsplans schienen mehr denn je in Frage gestellt, denn die unbedeutende Winzigkeit unseres Heimatplaneten im Universum war im Blick durch die Teleskope erkennbar geworden. Die einfachen Gesamtbilder der Schöpfung, die Vorstellungen von Himmelssphären, wie sie in religiösen Traditionen vermittelt worden waren, schienen nun naiv und obsolet. Aber unergründlich fern lag weiterhin die Antwort auf die große Frage nach dem „ersten Augenblick“, also wie und weshalb das Universum einst entstanden war.

Es sollte Jahrzehnte und Generationen dauern, bis die Erkenntnisse über die Größe der Welt, wie sie sich im 19. Jahrhundert darbot, vertieft waren und in das allgemeine Bewusstsein drangen. Im Grunde ist dieser Prozess bis heute nicht abgeschlossen. Denn wem wäre ohne weiteres gegenwärtig, dass die Milchstraße aus mindestens 100 Milliarden Sonnen besteht und so groß ist, dass das Licht 100.000 Jahre benötigt, um den gesamten Raum zu durchmessen?

Es sind unfassbare Dimensionen, kaum noch mit geographischen Vorstellungen von Weltteilen, -quadranten oder -sektoren zu vereinbaren. Dabei war alles, was die Astronomen des 19. Jahrhunderts entdeckten, errechneten und katalogisierten, im Grunde völlig unbedeutend gegenüber der wirklichen Größe des Universums. Der Deckel war damals sozusagen noch auf dem Topf, und zunächst blieb die – vor 100 Jahren wohl provokativ wirkende – Frage, ob es außerhalb der Milchstraße noch weitere Galaxien geben könnte, unbeantwortet. Auch die leistungsfähigsten Teleskope konnten sie nicht zuverlässig klären.

Dann aber, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sprengten die wissenschaftlichen Erkenntnisse endgültig alle Grenzen des Vorstellbaren: Der amerikanische Astronom Edwin Hubble (1889–1953) konnte Anfang der 1920er Jahre durch die Beobachtung eines Cepheiden (das sind veränderliche Sterne, deren Helligkeit rhythmisch schwankt) nachweisen, dass der sogenannte Andromedanebel außerhalb der Milchstraße liegen muss und dass dieser Nebel – wie viele andere bis dahin mysteriös erscheinende Lichtflecken – eine eigene Galaxie mit wahrscheinlich Abermillionen von Sonnen ist.

Und heute, nachdem zur Erforschung des Alls seit den 1970er Jahren auch Weltraumteleskope eingesetzt werden, gehen die Astronomen davon aus, dass das sichtbare Universum aus 100 Milliarden Galaxien besteht – unsere Milchstraße erscheint darin wie ein winziges Körnchen –, und dass es eine Ausdehnung von 78 Milliarden Lichtjahren hat. Das sind Dimensionen, die sich dem menschlichen Begriffsvermögen entziehen, die auch mit religiösen Überlieferungen nichts mehr gemein haben. Die alte Vorstellung von einem Schöpfer, der in sieben Tagen „Himmel und Erde“ erschaffen habe, erscheint vielen Menschen keinen Gedanken mehr wert. Gefördert durch die naturwissenschaftlichen Ergebnisse, greift in unserer „aufgeklärten“ Gesellschaft der Atheismus um sich, und nur eine Minderheit sieht gerade in der unfassbaren Größe des Alls einen beeindruckenden Hinweis auf Gott.

Wann entstand die Welt?

Unsere Schwierigkeiten, die Dimensionen des Universums auch nur im Ansatz zu begreifen, betreffen indes nicht mehr nur die räumliche Ausdehnung, sondern seit dem 20. Jahrhundert auch das grundlegende Verständnis des Begriffes „Raum“. Davor hatte man über die sich immer deutlicher offenbarende Größe des Alls mehr und mehr staunen können; dennoch erschien das Universum insgesamt als fest gefügt. Die Bahnen der Gestirne galten als unveränderlich, als der sichtbare Ausdruck sich ewig wiederholender Zyklen. Aber auch dieses Bild erwies sich bei genauerer Betrachtung des nächtlichen Himmels als falsch.

In den späten 1920-er Jahren macht sich Edwin Hubble daran, die Bewegung ferner Galaxien zu vermessen. Er benutzt dazu eine seit langem bekannte Methode: Wenn man die Lichtstrahlen eines Himmelskörpers mit Hilfe des Spektroskops in ihre farblichen Bestandteile zerlegt, kann man daraus die Geschwindigkeit dieses Körpers in Bezug auf die Erde ersehen. Denn seine Eigenbewegung beeinflusst die akustischen oder optischen Wellen, die ein Körper aussendet. Wenn sich ein Rettungswagen auf uns zubewegt, wird der Sirenenton höher, weil die Schallwellen zusammengedrückt werden; wenn er sich von uns wegbewegt, werden die Wellen hingegen gedehnt, und der Ton klingt tiefer. 

Ebenso verändern sich Lichtwellen: Entfernt sich eine Lichtquelle von uns, nimmt die Wellenlänge zum Rot hin zu, denn rotes Licht hat eine größere Wellenlänge als blaues. Man spricht in diesem Fall von „Rotverschiebung“. Und Hubble erkennt, als er die Geschwindigkeiten ferner Galaxien misst, eine aufsehenerregende Beziehung: Je weiter eine Galaxie von der Erde weg ist, desto schneller entfernt sie sich von uns. Seine Faustregel lautet: Wenn eine Sterneninsel von der Erde doppelt so weit entfernt ist wie eine andere, dann bewegt sie sich auch doppelt so schnell von uns weg; ist sie viermal so weit entfernt, „flieht“ sie viermal so schnell.

Hubble kann diese Beobachtung zunächst nicht erklären, und er selbst zieht daraus keine weitreichenden Schlüsse. Doch seine Resultate bestätigen eine kühne Theorie, mit der kurz zuvor Georges Lemaître (1894–1966), ein belgischer Theologe und Astrophysiker, an die Öffentlichkeit getreten war: Demnach expandiert das Weltall, es ist dynamisch, der Raum ist veränderlich, wird immer größer.

Zögerlich zuerst, doch letztlich überzeugt, schließt sich die Fachwelt Lemaîtres Gedanken an. 

Aber was bedeutet diese durch die Rotverschiebung belegte Ausdehnung des Alls im Umkehrschluss? Doch eindeutig, dass die Galaxien früher dichter beieinander gelegen haben mussten, und noch früher noch dichter … 

Und was war ganz zu Beginn?

Erstmals in der Geschichte der Astronomie lag der Gedanke greifbar nahe, dass es für das Universum mit seinen Milliarden Galaxien einen Anfang gegeben hat, einen „ersten Augenblick“, eine Initialzündung. Und dass es möglich sein konnte, sein Alter zu errechnen und zu verstehen, was im Ursprung geschah.

Etwa Mitte des 20. Jahrhunderts etablierte sich der Begriff des Urknalls, des „Big Bang“, wie der britische Astronom Fred Hoyle (1915–2001) diese Theorie bezeichnete, die er selbst allerdings nicht akzeptieren konnte. Hoyle hatte zwar nichts gegen die von Hubble entdeckte Expansion des Universums einzuwenden, aber er glaubte, dass diese Beobachtung auch anders interpretiert werden könne, dass das Weltall sich nämlich infolge der kontinuierlichen Erzeugung von Materie weit und weiter ausdehne.

Doch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte sich die Urknall-Theorie allgemein durch – vor allem deshalb, weil sie durch eine weitere aufsehenerregende Entdeckung Bestätigung fand: 1963 entdecken die beiden jungen amerikanischen Physiker Arno Penzias (geb. 1933) und Robert Woodrow Wilson (geb. 1936) ein allgegenwärtiges Rauschen im Mikrowellenbereich, das aus allen Richtungen des Universums empfangen werden kann. Und eben eine solche „kosmische Hintergrundstrahlung“ hatte Georg Gamow (1904–1968), ein russischer Physiker und namhafter Mitbegründer der Urknall-Theorie, vorausgesagt. Nun war das „Echo des Urknalls“ tatsächlich nachgewiesen worden!

Heute ist daher die „Big Bang“-Theorie kaum noch umstritten, und nach allem, was wir derzeit wissen, ist das All vor rund 13,81 Milliarden Jahren mit der Explosion eines winzig kleinen Punktes entstanden, eines Pünktchens, das alles enthielt, was heute durch einen gigantischen Raum mit einem Durchmesser von etwa 900 Trilliarden Kilometern schwebt.

Doch diese Ur-Zündung lässt sich mit nichts vergleichen, was wir aus dem Alltag kennen. Jede Explosion ereignet sich ja stets innerhalb eines Raums, jede Bombe explodiert in eine Umgebung, in den Raum hinein. 

Mit dem Urknall aber schuf der Raum sich selbst; es gibt davor kein Umfeld außerhalb. 

Und wenn das Weltall sich ausdehnt, so nicht etwa in einen bestehenden Raum hinein, sondern es entsteht mit der Expansion der Raum selbst.

Dass der Raum entstehen, sich verformen, wachsen oder auch schrumpfen kann, ließ sich bereits aus der von Albert Einstein (1879–1955) im Jahr 1915 veröffentlichten „Allgemeinen Relativitätstheorie“ folgern. Dennoch überfordert diese Gegebenheit bis heute unser Vorstellungsvermögen. Wir können uns das Nichts, für das es keinen Raum und keine Zeit gibt, grundsätzlich nicht vorstellen, weil unser eigenes Denkvermögen fest an eine Raum-Zeit-Struktur gebunden ist. Für jeden unserer Gedanken gibt es ein Vorher und ein Nachher, und jeder Gedanke bildet in unserem Inneren – akustisch und/oder optisch – eine Form. Das Nichts – etwas ohne Raum und Zeit – bleibt uns unbegreiflich.

Nichtsdestotrotz näherte sich die Astronomie in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter dem „ersten Augenblick“, in welchem aus dem Nichts die Schöpfung entstand.

Das Geheimnis der Dunklen Materie

Doch in der Frage, was zu Beginn geschah, sind wir – wie in so vielen astronomischen Belangen – auf Theorien angewiesen. Das liegt auch daran, dass sich die Annahme, wir würden das Universum in seinen Grundprinzipien bereits verstehen, in den letzten Jahren als großer Irrtum erwiesen hat. Wir haben in Wirklichkeit noch so gut wie nichts verstanden. Denn auch in jüngster Zeit erschütterte, wie schon oft in der Geschichte, ein genauerer Blick auf den nächtlichen Sternenhimmel unser Weltbild.

Schon im Jahr 1933 hatte der Schweizer Physiker und Astronom Fritz Zwicky (1898–1974) entdeckt, dass sich die Galaxien des „Coma-Haufens“ (so heißt eine Gruppe, die er damals erforschte) mit so unterschiedlichen Geschwindigkeiten von uns wegbewegen, dass sie eigentlich auseinander fliegen müssten. Den Zusammenhalt der Galaxien konnte, so folgerte Zwicky, nur ein unbekannter Stoff bewirken, der „in sehr viel größerer Dichte vorhanden ist als leuchtende Materie“.

Doch die Annahme, dass es im All neben der sichtbaren tatsächlich auch eine unbegreifliche „Dunkle Materie“ (diesen Begriff prägte Zwicky) geben könnte, erschien so abwegig, dass sie in Fachkreisen zunächst einfach ignoriert wurde.

Es ist vor allem der US-Astronomin Vera Rubin (1928–2016) zu danken, wenn wir heute davon ausgehen, dass Dunkle Materie im Weltgeschehen tatsächlich eine überragende Bedeutung hat. Ende der 1960er Jahre beobachtet sie, dass sich die Sonnen im Andromeda-Nebel ganz anders bewegen, als es nach dem Gesetz der Schwerkraft im Hinblick auf die sichtbare Materie zu erwarten gewesen wäre. 

In großer Entfernung von einem galaktischen Zentrum müssten sich die Sterne langsam fortbewegen, weil ja auch in unserem Sonnensystem die Bahngeschwindigkeit der Planeten mit größer werdendem Abstand zur Sonne abnimmt. Doch in der Andromeda-Galaxie kreisen die Sterne auch in großer Entfernung zu ihrem Zentrum erstaunlich schnell. Offenbar müssen sie mit dieser Geschwindigkeit einer starken Schwerkraft trotzen. Aber woher kommt diese? Gemeinsam mit ihrem Kollegen Kent Ford (geb. 1931) errechnet Vera Rubin, dass die Andromeda-Galaxie aus zehnmal mehr Materie bestehen muss, als sichtbar ist. Anders könnte die zur Geschwindigkeit der Sterne passende Gravitationswirkung nicht erzielt werden.

Inzwischen gehen die Astronomen davon aus, dass der gesamte Kosmos ursprünglich überwiegend aus Dunkler Materie besteht. Mit größter Wahrscheinlichkeit war diese Substanz auch dafür verantwortlich, dass 100 Millionen Jahre nach dem „ersten Augenblick“ überhaupt Sterne entstehen konnten. Sie bildete demnach mächtige „Blasen“, an denen sich Wasserstoff staut, der sich schließlich zu Wolken verdichtet, erhitzt – und zu leuchten beginnt. Die zunehmende Schwerkraft im Inneren dieser „Protosterne“ sorgt in der Folge dafür, dass sich der Wasserstoff durch Kernfusion zu Helium verwandelt – die ersten Sterne beginnen zu strahlen! Im Lauf der weiteren Entwicklung ordnen sie sich zu Haufen oder spiralförmigen Galaxien. Und diese Formung des Alls folgt wiederum dem unsichtbaren Geflecht jener Dunklen Materie, über die wir so gut wie nichts wissen.

Was wissen wir überhaupt?

1998 wurde durch die Erforschung ferner Sternenexplosionen deutlich, dass sich das Weltall in den letzten fünf Milliarden Jahren immer schneller ausgedehnt hat. Damit stand abermals eine Beobachtung im Raum, die das, was man bis dahin über die Entwicklung des Universums zu wissen glaubte, grundlegend in Frage stellte. Denn welche unbekannte Kraft könnte diese rasante Expansion erzwingen?

Die Astronomen sprechen seit dieser Entdeckung von „Dunkler Energie“, aber auch diese Kraft, die vermutlich 72 Prozent der gesamten Materie und Energie im heutigen Universum ausmacht, entzieht sich bisher einer genaueren Definition.

Offenbar wissen wir von den wesentlichen Faktoren, die die Entwicklung des Weltalls bestimmt haben und weiterhin bestimmen, so gut wie nichts. Sehr wahrscheinlich stehen uns noch sehr viele Aufsehen erregende Erkenntnisse bevor.

Einigermaßen sicher und wissenschaftlich nachvollziehbar erscheint immerhin, dass in dem neu entstandenen Universum nach etwa 100 Millionen Jahren die ersten Sterne erschienen – Lichttröpfchen, die aus einer Ära der Finsternis sickerten, in der das All sich verdunkelt und unter den Gefrierpunkt abgekühlt hatte. Aber schon lange zuvor, nur etwa 380.000 Jahre nach dem „ersten Augenblick“, mussten Atome entstanden sein – in jener fernen kosmischen Zeit, aus der wir noch heute das „Echo des Urknalls“ vernehmen können.

Noch früher ereignete sich vor allem eines: Abkühlung. Diese Phase, in der das junge All sich weit und weiter aufblähte und dabei kalt und kälter wurde, begann vermutlich bereits fünf Minuten nach dem „ersten Augenblick“ – und währte Hunderttausende von Jahren.

Was aber geschah davor, in den Minuten, den Sekunden nach dem Urknall?

Die heutigen physikalischen Modelle gehen davon aus, dass sich ursprünglich aus einem unvorstellbar heißen „Teilchen-Urbrei“ (es dürfte darin eine Temperatur von 1.032 Grad Celsius geherrscht haben), getrieben von der „Urkraft“, Raum ausgedehnt hat – Raum, der sich selbst Raum schuf. Der heiße Teilchenbrei kühlte dabei ab.

Dann, nach dem allerersten Sekundenbruchteil, wirkt bereits die Schwerkraft. Sie friert sozusagen aus der Urkraft der Bewegung heraus und sorgt dafür, dass sich einzelne Teilchen trotz der gewaltigen Expansion des Raums anziehen können. Unmittelbar danach spaltet sich die Urkraft weiter – in die „Starke Kernkraft“, die in der Folge Atomkerne zusammenhalten wird, und in die „Elektroschwache Kraft“, aus der Licht und Radioaktivität hervorgehen können (und die sich bald darauf in die „Schwache Kernkraft“ und die „Elektromagnetische Kraft“ aufspaltet). Licht- und Materieteilchen entstehen, Protonen, Neutronen … und das alles geschieht innerhalb von nur 0,2 Sekunden. In dieser winzigen Zeitspanne des Allbeginns ist der Raum bereits auf 500 Billionen Kilometer angewachsen.

Entstanden ist er aus einem unvorstellbar kleinen Etwas – viel kleiner als ein Stecknadelkopf, als ein Pünktchen auf dem Papier, noch viel kleiner sogar als ein Atomkern!

Die Entstehungsphasen des Weltraums können heute auf der Grundlage mathematischer Berechnungen und komplizierter Experimente mit gigantischen Teilchenbeschleunigern bis an die Grenze zum „ersten Augenblick“ rekonstruiert werden. Nur was ganz zu Beginn geschah, in jener allgewaltigen Schöpfungssekunde, bevor der heiße Urbrei abkühlte und die Schwerkraft geboren wurde, davon haben wir keine Ahnung. Wir haben lediglich einen Namen für diesen Moment: Man spricht von der „Planck-Ära“, benannt nach dem berühmten Physiker Max Planck (1858–1947), der Anfang des 20. Jahrhunderts eine Theorie über die kleinsten Materiebausteine begründete. 

Doch der Moment der Schöpfung selbst entzieht sich der physikalischen Beschreibung. Er bleibt, wissenschaftlich betrachtet, reine Spekulation. Auf die große Frage, was zu Beginn geschah, im ersten Augenblick, und vor allem, warum es geschah, dürfen wir von der Astrophysik keine Antworten erwarten.

Doch spricht meines Erachtens nichts dagegen, sich diesbezüglich auf das Gebiet der Religion zu besinnen. Denn das, was die Astronomen in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten aus der Beobachtung des nächtlichen Sternenhimmels erfahren haben, mag zwar dazu geeignet sein, sich von allzu naiven konfessionellen Vorstellungen über Gott und die Erschaffung der Welt zu verabschieden. Aber es bietet keinen Anlass, zum Atheisten zu mutieren.

Glaube als Ergänzung zum Wissen

Die heutigen Naturwissenschaften können mit der Vorstellung, dass die Entstehung und Entwicklung der Welt von einem höheren – göttlichen – Willens abhängen könnte, wenig anfangen. Gott bleibt von astrophysikalischen oder entwicklungsbiologischen Theorien ausgeklammert. Er ist schließlich ja keine „externe Größe“, mit der man rechnen könnte.

Diese „gottlose Haltung“ ist verständlich, vielleicht sogar unvermeidlich, wenn es um die wissenschaftliche Beschreibung objektiver Gegebenheiten im sicht- und messbaren Universum geht. 

Aber muss diese Haltung das nicht sichtbare, subjektive „Universum“ ausschließen, das für uns Menschen eigentlich das Entscheidende ist: unsere seelische Innenwelt, unser Bewusstsein, das die Welt wahrnimmt, erkennt, sinnvoll interpretiert und mit Qualitäten füllt – etwa mit Liebe, Wahrhaftigkeit, Freiheit oder eben mit dem Glauben an Gott?

Die sachlich-wissenschaftliche Analyse des kosmischen Geschehens ist die eine, die materielle Seite. Aber ihre Bedeutung erhält diese Analyse erst dadurch, dass jemand Bedeutung erlebt, dass also ein Bewusstsein vorhanden ist, eine Gesamtheit aus Gedanken und Empfindungen, Hoffnungen oder Absichten, um die Welt wahrzunehmen und zu gestalten.

Unser eigenes Leben und Erkenntnisstreben, unser Menschsein definiert sich durch Bewusstsein. Deshalb gibt es neben dem wissenschaftlichen Blick aufs Firmament, der die Gesetzmäßigkeiten im physischen Universum ergründen will, auch die Sehnsucht nach dem metaphysischen Himmel, von dem religiöse Traditionen oder spirituelle Lehren künden. Anders gesagt: Es gibt ausreichend Platz für den Glauben. Ein in seinem Forschen „gottloser“ Wissenschaftler kann als Mensch durchaus die Nähe des Schöpfers suchen.

Albert Einstein bemerkte 1941 in einem Aufsatz über dieses Thema: „Wissenschaft kann nur von denen aufgebaut werden, die durch und durch von dem Streben nach Wahrheit und Erkenntnis erfüllt sind. Die Quelle dieser Gesinnung entspringt aber wiederum auf religiösem Gebiet […] Naturwissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Naturwissenschaft ist blind.“ 

Und Max Planck formulierte, wie als Ergänzung dazu: „Religion und Naturwissenschaft – sie schließen sich nicht aus, wie manche heutzutage glauben oder fürchten, sondern sie ergänzen und bedingen einander. Wohl den unmittelbarsten Beweis für die Verträglichkeit von Religion und Naturwissenschaft, auch bei gründlich-kritischer Betrachtung, bildet die historische Tatsache, dass gerade die größten Naturforscher aller Zeiten, Männer wie Kepler, Newton, Leibniz, von tiefer Religiosität durchdrungen waren.“

Allerdings wird sich ein Gottesglaube, der sich tatsächlich als Ergänzung zum Wissen eignet, vermutlich grundlegend anders präsentieren müssen als traditionelle konfessionelle Vorstellungen es nahe legen.

Diese gehen ja durchweg davon aus, dass göttliches Wirken sich in Wundern zeige, also in Ereignissen, mit denen die Natur- und Schöpfungsgesetze außer Kraft gesetzt werden. Da aber die Wissenschaft immer mehr vermeintliche Wunder natürlich zu erklären vermag, nimmt Gott die Position eines Lückenbüßers ein. Er wird nur dort vermutet, wo die Wissenschaft, die Medizin, die Technik (noch) im Dunklen tappen und der „Wunderglaube“ ungefährdet ist.

Schöpfung und Gotteswille

Aber göttliches Wirken könnte auch grundlegend anders – natürlicher – betrachtet werden.

Die vielleicht wichtigste Überzeugung gläubiger Menschen ist, dass die Welt, in der wir leben, geschaffen wurde, dass es also einen Schöpfer gibt, Gott. Keine wissenschaftliche Erkenntnis steht diesem Glauben entgegen, da sich alles, was wir erforschen können, auf die Zeit nach dem ersten Augenblick beschränkt.

Aber wenn die Welt, die Schöpfung, aus einem Willensakt Gottes entstanden ist, dann könnte doch gefolgert werden, dass auch alle Naturgesetze, die wir entdecken und beschreiben – von der Schwerkraft bis zur elektromagnetischen Kraft – Ausdruck seines Willens sind. Naturgesetz und Schöpferwille wären demnach untrennbar miteinander verbunden. Die Naturgesetze selbst und all die daraus sich natürlich entwickelnden Wunder des Daseins böten also die Möglichkeit zur Gotterkenntnis, nicht aber irgendwelche Ereignisse, bei denen diese Gesetze auf wundersame Weise außer Kraft gesetzt erscheinen (wobei ein Wunder vermutlich sowieso nur deshalb als solches erscheint, weil die Zusammenhänge, die zu dem Ereignis geführt haben, nicht verstanden werden).

Max Planck, tief überzeugt von der gesetzmäßigen Ordnung aller Ereignisse, formulierte: „Wer es also mit seinem Glauben wirklich ernst meint und es nicht ertragen kann, wenn dieser mit seinem Wissen in Widerspruch gerät, der steht vor der Gewissensfrage, ob er sich überhaupt noch ehrlich zu einer Religionsgemeinschaft zählen darf, welche in ihrem Bekenntnis den Glauben an Naturwunder einschließt!“

Der alte Mann mit Rauschebart und Priesterkleid, der allen braven Gläubigen mit sagenhaften Wundern zu Diensten steht, sobald sie lang genug um die Erfüllung drängender Wünsche flehen – diese Vorstellung von Gott kann im 21. Jahrhundert meines Erachtens getrost ad acta gelegt werden.

Dagegen erscheint der alte biblische Rat aus dem 2. Buch Mose, sich „kein Bildnis“ vom Schöpfer zu machen, als immer noch zeitgemäß, sofern er auch auf innere Bilder bezogen wird. Denn jede diesbezüglich Vorstellung ist zwangsläufig menschlich geprägt – und unzutreffend, sofern mit „Gott“ der Urgrund des Werdens gemeint ist … jene Allmacht, die im wahrsten Wortsinn alles macht und erhält, das erhabene „Quellfeuer“, aus dem nicht nur Materie und Energie entstehen, sondern dessen Fünkchen auch jedes bewusste Sein ermöglichen.

Gott ist nicht vorstellbar. Aber es ist vorstellbar, dass das reine Leben, das höchste Bewusstsein, das wir vielleicht im Empfinden von Liebe erahnen können, die ganze Welt aus Liebe erschaffen hat – und mit ihr alle Entwicklungs- und Gestaltungsfreiräume, in denen auch wir Menschen die Welt und uns selbst in voller Eigenverantwortung erfahren dürfen.

Welche Erkenntnisse bringt die Zukunft?

Es wird spannend bleiben, die weiteren Erkenntnisse der Astronomie mitzuverfolgen. Wird es in absehbarer Zeit gelingen, die Geheimnisse der Dunklen Materie und der Dunklen Energie zu entschlüsseln? Werden neue Erkenntnisse über den Aufbau des Universums die bisherigen Vorstellungen abermals grundlegend revidieren? Und wird es gelingen, ein ganzheitliches Bild des Universums, der Schöpfung zu zeichnen, das nicht nur außerirdische, sondern auch überirdische Gegebenheiten mit einbezieht?

Wir leben, was neue Erkenntnisse anbelangt, in einer faszinierenden Zeit: Noch nie zuvor war ein so umfassender, weltweiter wissenschaftlicher Austausch möglich. Nie zuvor konnten neue Ideen und Theorien so schnell und unbelastet von konfessionellen Dogmen einen großen Personenkreis erreichen. 

Und doch: Wer angesichts des nächtlichen Sternenhimmels ein Urvertrauen empfinden kann, die Gewissheit der Geborgenheit im großen Schöpfungsganzen, wie spirituell orientierte Menschen sie beschreiben, erscheint mir reicher beschenkt als der kundigste Astrophysiker, der die Dimensionen des Alls in Zahlen und Formeln auszudrücken weiß.

Aber vermutlich gibt es ja auch Menschen, die beide Aspekte der Erkenntnis glücklich in sich vereinen – das Wissen und den Glauben.