27. April 2024

COVID-19-Pandemie, Phase 7 (25. Oktober 2020)

Am 23. März 2020 habe ich unter dem Eindruck des viralen Aufpoppens von Verschwörungstheorien ein Essay zum Thema „COVID-19-Pandemie, Phase 6“ veröffentlicht. Damals waren weltweit rund 350.000 Infektionsfälle dokumentiert. Heute, etwa 7 Monate später, sind es mehr als 42 Millionen. Auch wenn die Infektionskrankheit in den meisten Fällen mild verläuft, sind an ihr insgesamt bereits mehr als 1,1 Millionen Menschen gestorben. Und mit der Krankheit verbreiten sich absurde Theorien und Misstrauen einerseits und materialistisch diktierte Besserwisserei andererseits. Wie wird es weiter gehen?

Die Zahl der „Covid-Unzufriedenen“ wächst; ein österreichischer Landespolitiker schätzte sie aktuell auf bereits mehr als 20 Prozent. Etwa ein Fünftel der Bevölkerung hält demnach die empfohlenen Schutzmaßnahmen für überzogen, fühlt sich eingeschränkt oder glaubt nicht daran, dass das Virus eine relevante Gefahr darstellt. Die schlechte wirtschaftliche Gesamtlage wird für immer mehr Menschen spürbar, das Vertrauen in die Entscheidungsträger aus Politik und Wissenschaft schwindet. In anderen europäischen Ländern sieht es ähnlich aus.

Damit ist eine relevante neue Zielgruppe entstanden – sowohl für populistische Politiker, als auch für Massenmedien, die traditionell die Strategie fahren, Publikum an sich zu binden, indem sie sich als Echo und Verstärker von Unzufriedenheiten prostituieren.

Das alles wird gesellschaftliche Gräben weiter vertiefen, vernünftige Lösungen erschweren, vielleicht sogar eine große Belastung für ein friedliches Zusammenleben werden.

Mein Essay vom März 2020 endete mit der Hoffnung, es könnte in der Zeit nach COVID-19, wenn die Krankheit also nicht mehr für tagespolitische Schlagzeilen und Verschwörungs-Verirrung sorgen, sondern zum Alltag gehören wird, eine „neue Normalität“ geben; die Krise könnte also längerfristig in ein bewussteres, erfüllteres gesellschaftliches Leben münden.

Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass solche Hoffnungen naiv und verfrüht waren.

Auch diese Pandemie wirkt – wie viele anderen Krisen in der Geschichte – im Grunde nur als Katalysator. Sie beschleunigt Emotionen und die Folgen weltanschaulicher Haltungen. Sie fördert schonungslos Egoismen (und zum Glück auch Altruismen) zutage, die davor vielleicht nur im Seelenuntergrund Einzelner schlummerten, jetzt aber umfassende gesellschaftliche Konsequenzen nach sich ziehen. Aber sorgt die Krise auch für Lerneffekte?

Eine Besorgnis erregende Polarisierung

Verschwörungsgläubige schauen einfach weg, wenn wieder einmal das Ablaufdatum einer Prophezeiung überschritten worden ist und sie sich schlicht und einfach als falsch herausgestellt hat, oder wenn Aussagen, auf die sie ihre Pauschalkritik am „wissenschaftlichen Mainstream“ und den „gesteuerten Massenmedien“ gestützt haben, klar widerlegt werden konnten. Sie stellen sich selbst und ihre Haltung deshalb nicht in Frage. Sie verharren in ihrer Wohlfühlzone und dem Glauben, mit einer mainstreamverachtenden Gesinnung der „eigentlichen“ Wahrheit viel näher zu sein als die breite, angepasste, unkritische Allgemeinheit.

Wissenschaftsgläubige dagegen postulieren – wie etwa das aktuell besonders strapazierte Thema „Impfstoff“ zeigt – einen weiteren Sieg der Forschung über eine Menschheits-Bedrohung. Sie empören oder belustigen sich über die „Verschwörungsfanatiker“ mit ihrem „intelligenzbefreiten Glauben an einfache Welterklärungen“ und ihren „stereotypen Schuldzuweisungen“, die irgendwann immer bei Bill Gates und Konsorten enden. Die Wohlfühlzone der sich aufgeklärt Dünkenden liegt in dem handfest durch menschlichen Verstand gesteuerten Leben. Der Glaube an … irgend etwas sollte möglichst gar keine gesellschaftliche Relevanz haben.

Nach meinen Beobachtungen vertieft die COVID-19-Pandemie die Polarisierung weltanschaulicher Grundhaltungen. Hier die überwiegend naturalistisch-materialistisch orientierte „Wissenschaftsgemeinde“, die sich im gesellschaftlichen Leben vergleichsweise gut etabliert hat. Und dort alle anderen, die eine – oft diffuse – „Sehnsucht nach mehr“ in sich spüren: Nach mehr Freiheit von diversen Abhängigkeiten, nach mehr Bedeutung und Macht in der Gesellschaft, nach einem besseren Verständnis für größere Zusammenhänge oder auch einfach nach mehr echter Religiosität und Spiritualität.

Deshalb finden sich im „Covid-Widerstand“ Esoteriker und Rechtsradikale, Anarchisten und Verschwörungstheoretiker, haltlos oder harmlos, passiv zurückhaltend oder stramm und kampfbereit, vereint mit Menschen, die einfach ein Bedürfnis nach mehr Tiefe und Menschlichkeit im Miteinander haben. Weil sie das materialistische Streben nach Macht und Machbarkeit als kurzsichtig und sinntötend erkannt haben. Weil sie ihr Bedürfnis nach Spiritualität auf tief greifende gesellschaftliche Veränderungen hoffen lässt. Weil sie von idealistischen, sinnstiftenden Ideen angeleitet werden.

Diese weltanschauliche Polarisierung im Hintergrund der zunehmenden Unzufriedenheit, die sich in Protestmärschen, Volksbegehren und anderem Widerstand äußert, vertieft nicht nur Klüfte in der Gesellschaft, sondern fördert letztlich auch den Materialismus. Denn der „Covid-Widerstand“ wird an der Realität der Pandemie und ihrer Überwindung durch Forschung und Wissenschaft zweifellos scheitern. Das Bedürfnis nach mehr Menschlichkeit und echter Spiritualität aber bleibt. 

Deshalb wäre es meines Erachtens wichtiger denn je, Brücken zu bauen, die einer weiteren weltanschaulichen Polarisierung der Gesellschaft entgegenwirken.

Aber wie geht das?

„Vergnügliche Verschwörungen“

Der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann schlug in einem Beitrag unter dem Titel „Vergnügliche Verschwörungen“ kürzlich („Kleine Zeitung“ vom 9. September 2020) vor, der „rasenden Verbreitung von Verschwörungstheorien“ gelassener entgegenzutreten und sie „unter ästhetischen Gesichtspunkten“ zu betrachten: „Die Vorstellung, dass Stanley Kubrick, der Regisseur des bedeutendsten Science-Fictions-Films aller Zeiten, sein eigentliches Hauptwerk, die fingierte Mondlandung der Amerikaner, unter dem Deckmantel der absoluten Verschwiegenheit hätte inszenieren müssen, ist doch einigermaßen vergnüglich.“

Man könnte, so Liessmann weiter, Verschwörungstheorien statt nach ihrem Wahrheitsgehalt („das bringt wenig“), nach ihrem künstlerischen Potential betrachten. Denn Ansichten, deren Absurdität offen zutage liegt, „im empörten Ton moralisierender Besserwisserei“ zu verurteilen, sei allzu einfach.

Dieser philosophische Ansatz mag Menschen, die daran gewöhnt sind, ihre eigenen Ansichten zu hinterfragen, vielleicht einen Impuls zum Nachdenken vermitteln. Aber wahrscheinlich regt er nur einige wenige zum Schmunzeln an, während er auf andere zynisch wirkt. Eine tragfähige Brücke lässt sich damit jedenfalls nicht bauen. Und noch weniger mit der öffentlichen Diffamierung dumm-dreister Behauptungen oder anderen Frontenbildungen. 

Mit Herz und Kopf: Nächstenliebe und Medienkompetenz

Hilfreich ist es – wie immer, wenn es um die Überwindung unversöhnlich scheinender weltanschaulicher Positionen geht –, nicht nur die vordergründige Meinung und Haltung eines Menschen, sondern diesen selbst zu sehen. Es gibt immer Aspekte, die einer Wertschätzung würdig sind. Das ehrliche Bestreben, jemanden in seiner persönlichen Geschichte und seinen Motivationen zu erkennen, erleichtert es, die daraus resultierende Haltung zu verstehen – und vielleicht neue Möglichkeiten zu finden, einander doch näher zu kommen.

Offenheit im Sinne einfacher Nächstenliebe ist ein zeitloser, unter allen Umständen wirksamer Ansatz, der in der aktuellen Krise wohl nicht oft genug in Erinnerung gerufen werden kann – egal, welchen weltanschaulichen „Pol“ es betrifft.

Darüber hinaus kommt mir angesichts der aktuellen Krise immer wieder ein Begriff in den Sinn, der eng mit dem Thema Bildung zu tun hat, auf das oft und oft verwiesen wird, und zwar: Medienkompetenz.

Denn was hilft es, auf die Bedeutung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse oder journalistischer Recherchen hinzuweisen, wenn so viele, die heute auf eigene Faust im Internet nach Antworten suchen, nicht zwischen Fakten und Meinung unterscheiden können. Wenn sie den Unterschied zwischen einem glaubwürdig erscheinenden Wissenschaftler und einer fundierten wissenschaftlichen Erkenntnis nicht kennen. Wenn sie die zentrale Bedeutung des Datums in einem Beitrag außer Acht lassen. Wenn sie die Qualität und weltanschauliche Ausrichtung des Umfeldes nicht beachten, in dem ein Beitrag erscheint. Wenn sie die Motivationen unberücksichtigt lassen, auf Grund derer Beiträge überhaupt online gestellt werden. Wenn sie nicht wissen, dass Ihnen „Google“ vollautomatisiert immer genau die Suchergebnisse präsentiert, die am besten zu ihrer eigenen Haltung passen. Und so weiter …

Leider spielt das Thema Medienkompetenz im heutigen Schulunterricht eine nur untergeordnete oder gar keine Rolle. Deshalb glauben viele, die von selbstherrlichen Politikern, vom Boulevardjournalismus und wirklichkeitsferner, undurchschaubarer Wissenschaft enttäuscht sind, den ganzen Wust an vermeintlicher Desinformation hinter sich lassen zu können, indem sie auf Fernsehnachrichten, Zeitungen und Magazine verzichten und sich statt dessen munter durchs Internet klicken … in der Meinung, hier, abseits des „Mainstreams“, mehr Wahrheit zu erfahren.

Was sie wirklich erfahren, ist eine Bestätigung der eigenen Vorstellungen, Vorbehalte und auch Ängste, die damit oft noch in gefährlichem Maß gefördert und verstärkt werden.

Das Internet ist ja nichts weiter als ein Abbild der Vielfalt aller menschlichen Gedanken, Motivationen, Vermutungen oder Erkenntnisse. Ein Dschungel aus Fakten und Meinungen, Halbwissen und gezielten Lügen, grandiosen Ideen und dümmlichen Schlussfolgerungen. Aber wichtige Filter, die traditionell Spreu von Weizen trennen, nämlich der wissenschaftliche Diskurs und die seriöse journalistische Recherche, spielen im Netz keine tragende Rolle. 

Statt dessen übernehmen Suchmaschinen den Job des Dschungelführers – und die sind ziemlich bestechlich. Denn ihre Dienste folgen einer simplen Motivation: Werbung verkaufen.

Das Wissen um diese Zusammenhänge – eben Medienkompetenz – erscheint mir deshalb auf der intellektuellen Ebene ebenso wichtig wie der Blick auf den Menschen im „Herzensbereich“ der Nächstenliebe.

Nur auf diesen Fundamenten wäre es denkbar, dass die Nachwehen der gegenwärtigen Pandemie irgendwann doch zu einer neuen, bewussteren Normalität führen …